Nach dem jüngsten Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch, bei dem mehr als tausend Menschen zu Tode gekommen sind, haben mehrere renommierte Modeketten aufgrund des öffentlichen Drucks in den Ländern, in denen diese Modeketten ihre Produkte absetzen, bekundet, zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Bangladesch beitragen zu wollen. In der Öffentlichkeit wird darüber gestritten, inwieweit diese internationalen Firmen mitverantwortlich sind für den Tod der Näherinnen in der eingestürzten Fabrik. Haben internationale Unternehmen die Verpflichtung, ihre Zulieferer zu kontrollieren, ob und inwieweit sie die Arbeitsrechte ihrer Arbeiterinnen verletzen? Verhalten sich die Unternehmen unmoralisch? Und können wir, die Kunden dieser Produkte, dies beeinflussen? Sind wir mitschuldig, wenn wir solche Produkte kaufen?
Wenn es für die Unternehmen keine einschlägigen gesetzlichen Regelungen gibt, wird oft und gerne argumentiert, dass sie aufgrund der Konkurrenzsituation gar nicht anders können als sich zumindest teilweise unmoralisch zu verhalten, an die Grenzen des Erlaubten zu gehen. Die anderen Firmen – die Konkurrenten –, so das Argument, machen dies schließlich auch. Dann wird geschlussfolgert, der Kunde, der Konsument der Textilien, müsse die Unternehmen durch seine Kaufentscheidungen beeinflussen, sich richtig zu verhalten. Konsumentenethik ist das Zauberwort.
Richtig ist: Unternehmen sind weder gut noch böse. Sie sind in einer Marktwirtschaft dazu da, den Haushalten Einkommen zu bescheren. Sie dienen als Arbeitgeber, sie dienen zudem als Kapitalanlagemöglichkeit, und sie dienen als Innovationsmotor. Auf der anderen Marktseite befriedigen sie die Konsumentenwünsche. Und sie sollen sie so gut und so genau wie möglich befriedigen. Um ihnen einen Anreiz dazu zu bieten, motiviert das marktwirtschaftliche System die Unternehmen mit der Möglichkeit der Erzielung von Gewinnen. Damit diese Gewinne wiederum schmal bleiben und sich die Unternehmen nicht daran bereichern können, werden die Firmen einem Wettbewerbsprozess ausgesetzt. Dem Wettbewerbsdruck folgend müssen die Unternehmen alles möglichst punktgenau so umsetzen, wie die Haushalte (als Faktoranbieter oder Güternachfrager) es wollen. Sonst werden sie aus dem Markt konkurriert. Ihre Gewinne verwandeln sich in Verluste, sie müssen schließen, sie verschwinden vom Markt. Verschwendung oder Fehlverhalten werden ihnen im Wettbewerb nicht verziehen. Der Wettbewerbsprozess diktiert ihnen jedoch damit auch, wie viel Moral sie sich leisten können. Denn Moral ist kostspielig (ansonsten leisten sie sich alle Unternehmen gerne). Ist der Wettbewerb intensiv, bleibt wenig Spielraum für moralisches Handeln. Moral wird wegkonkurriert, sie fällt dem Wettbewerb zum Opfer. Die Unternehmen werden zu Grenzmoralisten. Sie bewegen sich mit ihrer Moral an der Grenze des gesetzlich Erlaubten.
Doch manche Firmen sind selbst unter Wettbewerbsbedingungen in der Lage, moralisch saubere Entscheidungen treffen. Auch der Wettbewerbsprozess lässt nämlich unter Umständen einen Handlungsspielraum hierfür offen. Um die Handlungen der Unternehmen innerhalb dieser Spielräume in die gesellschaftlich gewünschten, moralisch als richtig empfundenen Bahnen zu lenken, ist – so ist zumindest die Idee der Konsumentenethik – Druck von außerhalb des Betriebs in das Unternehmen hinein erforderlich. Für die Unternehmen sind vor allem die Konsumenten besonders wichtig, sie legitimieren den Bestand des Unternehmens in einer Marktwirtschaft. Durch ihre Kaufentscheidungen entscheiden sie über die wirtschaftliche Existenz der Unternehmen. Handelt ein Unternehmen gegen die Erwartungen seiner Kunden, können diese ihm durch Kaufboykott seine licence to operate entziehen.
Somit werden Konsumenten zu Trägern ethischer Verantwortung in jenen Unternehmen, in denen sie Güter kaufen. Sie können Unternehmen bewusst durch den Boykott von Produkten sanktionieren, wenn diese wider die verbreiteten Moral- und Wertvorstellungen handeln. Verhalten sich Firmen jedoch vorbildlich, können sie sich eine positive Reputation und somit Wettbewerbsvorteile erarbeiten. Der Kunde ist der Prinzipal, der seinem Agenten, dem Unternehmen, den Auftrag erteilt, ihm ein Produkt anzubieten, das seinen Bedürfnissen und damit auch seinen ethischen Vorstellungen entspricht. Der gestiegene Wohlstand bringt es mit sich, dass auch moralische Motive heutzutage für die Kaufentscheidung ausschlaggebend sein können. Fast alle Menschen wünschen heute, dass soziale und ökologische Standards im Produktionsprozess eingehalten werden. Allerdings: Sie setzen diese Präferenzen selten in ihren Kaufentscheidungen um.
Dies hat seine Gründe: Die Moralvorstellungen beeinflussen zwar die Kaufentscheidungen, sie sind indes nur ein Einflussfaktor unter vielen. Günstige Preise, die Produktqualität, die Reputation der Marke oder die spontane Entscheidung am Verkaufsort: Dies alles ist bei der Kaufentscheidung als relevant zu beachten. Viele dieser Motive beziehen sich auf direkt sichtbare kaufrelevante Produkteigenschaften. Für die ethischen Standards, die ein Unternehmen befolgt, gilt diese direkte Sichtbarkeit nicht. Hier muss sich der Kunde erst einschlägig kundig machen. Die potenziellen Kunden sind in ihrer Informationsbeschaffung jedoch von der Auskunftsbereitschaft und der Wahrheitsliebe der jeweiligen Firma abhängig. Da Sozial- oder Umweltverträglichkeit eines Produktionsprozesses ja vom Kunden nicht durch bloßes Betrachten evaluiert werden kann, fallen nicht nur hohe Informationssuchkosten für den Nachfrager an. Es liegt eine so genannte asymmetrische Informationsverteilung vor, die sich von Kundenseite aus in vielen Fällen überhaupt nicht überwinden lässt.
Der Konsument ist mangels Informationen deshalb zumeist nicht in der Lage, selbst wenn er wollte, einen vollständig fairen, moralischen Konsum auszuüben. Stellt der Kunde dennoch einmal und meist durch eine eher zufällige Enthüllung in den Medien fest, dass ein Unternehmen sich nicht wie gewünscht ethisch korrekt verhält, kann er allenfalls mittels Boykottdrohung versuchen, dieses Unternehmen zu strafen und damit eine Strategieänderung im Unternehmen einzuleiten. Ob ein Kaufboykott das Unternehmen aber tatsächlich dazu bewegt, unmoralisches Verhalten zu ändern und nicht nur ein neues CSR-Konzept vorzulegen, dass dann nie wirklich realisiert wird, bleibt fraglich. Aus Unternehmenssicht genügt es nämlich bei Informationsasymmetrie, dem Kunden vorzutäuschen, die Strategie hinsichtlich der ethischen Standards und ihrer Einhaltung habe sich geändert.
Die Kunden wissen wiederum um diese Täuschungsmöglichkeit. Dies dürfte einer der zentralen Gründe sein, warum viele Menschen bei ihrer Kaufentscheidung das (vermeintliche) Einhalten ethischer Standards durch die Unternehmen weitgehend ignorieren. Das Argument, der Kunde habe ja am (zu niedrigen) Preis sehen können, dass mit der Produktion etwas im Argen liegt, ist dabei unsinnig: Am Preis des Produktes lässt sich die Einhaltung von Moral in der Produktion leider nicht ablesen.
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Zur Minderung dieser Informationsasymmetrie gibt es ja diverse Ansätze: Von unabhängigen Organisationen vergebene Gütesiegel beispielsweise, die für die Einhaltung ökologischer („FSC“,…) und sozialer („Fairtrade“,…) Standards bürgen sollen. Schade nur, dass dergleichen in der Theorie besser funktioniert, als in der Praxis: Zu skeptisch der moralisch besorgte Konsument, zu naheliegend der Verdacht, das entsprechende Siegel sei ohne Prüfung schlicht bei der prüfenden Agentur eingekauft worden, zu beschränkt schließlich die realen Kontrollmöglichkeiten der Siegelvergeber. Zur Zeit jedenfalls sieht es jedenfalls nicht so aus, als könnte das Principal/Agent-Problem des ethischen Konsumierens sich mittelfristig zu allseitiger Zufriedenheit lösen lassen, wobei meiner Ansicht nach die Informationsasymmetrie nur die eine Hälfte des Problems darstellt, die fehlende Souveränität vieler Konsumenten, beim Einkaufen auch die eigenen ethischen Standards nicht zu vergessen, die andere. Vor allem zweiteres möchte ich nicht wie Hr. Neumann mit Blick auf das Wohlstandsniveau der Konsumenten verabschiedet sehen, denn: auch diese stehen ja im (gesellschaftlichen) Wettbewerb – konkurriert wird da zum Beispiel um das größere Vermögen oder das beeindruckendere Statussymbol. Und ob in diesem Prozess nicht der ein oder andere sich genötigt fühlt, für den schönen Schein die eigenen moralischen Prinzipien über Bord zu werfen, das halte ich nicht für ausgemacht. Wie weit letztendlich der Einfluss der persönlichen Ethik auf zu treffende Kaufentscheidungen wirklich ist, darüber lässt sich eben hervorragend streiten.