Ein Thema stand während des Bundestagswahlkampfs ganz oben auf der Tagesordnung öffentlicher Debatten: Der Mindestlohn und die Zahl derjenigen, die auf staatliche Transfers angewiesen sind, weil sie von ihrem Lohneinkommen nicht einmal mehr das sozio-kulturelle Existenzminimum erwirtschaften können. Standardmäßig wurden die Hartz-Reformen als Hintergrund dieser putativen Fehlentwicklung identifiziert, und standardmäßig wurde der Mindestlohn als geeignetes Mittel zu ihrer Bekämpfung angeboten. Nun mag man vor dem Hintergrund der heute vorliegenden Fakten, Erfahrungen und wissenschaftlichen Studien in Verbindung mit den eigenen Gerechtigkeitsnormen für oder gegen einen Mindestlohn sein. Das soll hier aber nicht das Thema sein. Die hier relevanten Fragen sind vielmehr diese: Kann man mit einem Mindestmaß an Berechtigung davon sprechen, dass immer mehr Menschen trotz Vollzeitarbeit von ihrem Lohn nicht leben können, und kann ein Mindestlohn bei denjenigen Abhilfe schaffen, auf die das tatsächlich zutrifft? Diese Fragen lassen sich unabhängig von anderen mit dem Mindestlohn verbundenen Fragen bereits durch einen etwas genaueren Blick auf ein paar Grunddaten recht zuverlässig beantworten (siehe zu den folgenden Daten: BA, 2013).
Gern fangen Debatten um den Mindestlohn mit diesem Faktum an: Der Anteil der Erwerbstätigen an den Beziehern von Arbeitslosengeld (ALG) II ist im Zuge der Hartz-Reformen erheblich gestiegen. In der Tat ist dieser Anteil allein von Januar 2007 bis Mitte 2013 von 20 auf knapp 27 Prozent gestiegen. Es gibt keinen Grund, an dieser Zahl zu zweifeln. Die Frage ist aber gar nicht, ob man dieser Zahl traut, sondern vielmehr, ob sie uns mit Blick auf unsere Fragen etwas sagen kann. Genau das aber kann sie nicht. Schon gar nicht zutreffend ist dagegen die Behauptung von Katrin Göring-Eckardt in einer „Hart-aber-Fair“-Sendung, wonach 1,4 Mio. Menschen Vollzeit arbeiten und dennoch aufstocken müssten, um ihr sozio-kulturelles Existenzminimum überhaupt bestreiten zu können.
Aber der Reihe nach: Mitte 2013 waren in Deutschland 6,1 Mio. Menschen als „leistungsberechtigte Personen nach Sozialgesetzbuch (SGB) II“ registriert, waren also Bezieher von ALG-II, Sozialgeld oder Sozialhilfe. Im Januar 2007 waren es noch 7,3 Mio., und damit ist dieser Personenkreis binnen sechs Jahren um nicht weniger als 1,2 Mio. Menschen gesunken. Von den 6,1 Mio. Leistungsberechtigten zur Mitte 2013 waren 4,4 Mio. erwerbsfähig, und davon waren wiederum 2,5 Mio. als „nicht arbeitslos“ klassifiziert, was Verschiedenes bedeuten kann, unter anderem, dass gut 427 Tsd. davon in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen steckten.
Es geht weiter: Von den 2,5 Mio. „nicht arbeitslosen“ Leistungsberechtigten waren im Januar 2013 1,29 Mio. erwerbstätig, und davon befanden sich wiederum 638 Tsd. Personen in einer so genannten „ungeförderten Erwerbstätigkeit“, waren also über den ersten Arbeitsmarkt beschäftigt. Wenn von Arbeitnehmern die Rede ist, welche als Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt einen Lohn beziehen und welche auf zusätzliches ALG-II angewiesen sind, um das sozio-kulturelle Existenzminimum zu sichern, dann reden wir nicht von den über 4 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und auch nicht von den von Frau Göring-Eckardt genannten 1,4 Mio., sondern von einem Teil der hier verbliebenen 638 Tsd. Personen. Warum auch hier wieder nur von einem Teil? Weil auch von den 638 Tsd. Personen weniger als die Hälfte in Vollzeit beschäftigt ist. Darüber, wie viele das sind, weist die Bundesagentur nur eine Zahl aus, und zwar für das Jahr 2010; da waren es 342 Tsd. Arbeitnehmer. Nach der jüngst erschienenen DIW-Studie zum Mindestlohn (DIW, 2013) beträgt diese Zahl heute aber nur noch 280 Tsd. Personen.
Halten wir fest: Wenn der Mindestlohn mit jenen Menschen begründet wird, welche aufgrund der Hartz-Gesetze trotz Vollzeitarbeit noch zusätzlich ALG-II beziehen müssen, so reden wir erstens nicht von 1,4 Mio., sondern von 280 Tsd. Personen; und zweitens ist die Zahl dieser Personen nicht etwa gestiegen, sondern im Gegenteil seit 2010 um bald 20 Prozent gesunken. Wir haben es also nicht mit einer stetig und dramatisch wachsenden Zahl von Millionen von Menschen zu tun, welche tagein tagaus arbeiten und dennoch von aufstockendem Hartz-IV leben müssen, sondern wir haben es ganz im Gegenteil mit einer kleinen und sinkenden Zahl zu tun. Abgesehen von der jüngsten Zahl der vollzeitbeschäftigten Aufstocker waren alle diese Daten auch vor der DIW-Studie allgemein bekannt. Ebenso bekannt war und ist, dass die wirklich bedeutenden Ursachen für die Abhängigkeit von insgesamt über 6 Mio. Menschen von Leistungen nach SGB II in Deutschland ganz andere sind. Dabei handelt es sich zumeist um sozio-kulturelle Probleme sowie um demographische und familiale Verschiebungen, auf deren Ursächlichkeit für die Abhängigkeit von staatlichen Leistungen hinzuweisen politisch nicht gern gesehen wird oder gar politisch inkorrekt ist.
So beziehen knapp 40 Prozent der Alleinerziehenden „Bedarfsgemeinschaften“ Leistungen nach SGB II, aber nur 7,3 Prozent der Paare mit Kindern. Bei Alleinerziehenden mit zwei Kindern sind es sogar 45 Prozent, während es bei Paaren mit zwei Kindern gerade einmal 6,5 Prozent sind. Diese Daten zu nennen, soll nicht etwa dazu dienen, Scheidungsquoten oder private Entscheidungen über die Art von Lebensgemeinschaften zu kommentieren. Es geht auch nicht darum, die Frage zu kommentieren, inwieweit die finanziellen Lasten solcher Entscheidungen privat zu tragen sind oder inwieweit hierzu auch die Gemeinschaft herangezogen werden sollte. Hier geht es vielmehr allein darum zu zeigen, wo die Ursachen für wirtschaftlich schwierige Lagen von Menschen und Lebensgemeinschaften liegen. Denn nur mit Kenntnis dieser Ursachen lassen sich adäquate Hilfsmaßnahmen entwickeln – und das gilt unabhängig davon, ob sich mit solcherlei Ursachenanalysen Wahlkampf betreiben oder Fernsehquote erzielen lässt. Und die Hauptursachen für Hilfsbedürftigkeit im Sinne des SGB II liegen einerseits in familiären Lagen sowie in Langzeitarbeitslosigkeit in Verbindung mit fehlender (Aus)Bildung sowie Kontinuität in der beruflichen Aktivität andererseits. Auch das ist allgemein bekannt, aber selten Gegenstand öffentlicher Debatten.
Was kann vor diesem Hintergrund ein Mindestlohn erwirken? Nicht viel, und auch das war bereits vor der Veröffentlichung der DIW-Studie klar. Denn die große Mehrheit der Leistungsempfänger wird auch mit einem Mindestlohn nicht in der Lage sein, das sozio-kulturelle Existenzminimum zu erwirtschaften, weil sie entweder aus arbeitslosen oder erwerbsunfähigen Personen besteht oder aus Personen, die aus den verschiedensten Gründen nur im Rahmen von Teilzeit oder Minijobs arbeiten können. Aber selbst von den dann noch verbleibenden rund 280 Tsd. in Vollzeit beschäftigten Hartz-IV-Aufstockern könnte bestenfalls einem Teil durch Mindestlöhne geholfen werden. Dies gilt zumindest für den im Wahlkampf beworbenen Mindestlohn von 8,50 €. Denn der durchschnittliche Stundenlohn von Vollzeitbeschäftigten Aufstockern lag schon im Jahre 2011 bei 8,66 € (siehe DIW, 2013, S. 15). Um also überhaupt einen relevanten Personenkreis aus der Zone der Hilfebedürftigkeit heben zu können, müsste der Mindestlohn deutlich oberhalb von 8,50 € angesetzt werden, wobei die Obergrenze der dann erfassten Personenzahl auch hier bei rund 300 Tsd. verbleiben wird – mehr können es ohnehin nicht werden. Mit einem deutlich höheren Mindestlohn allerdings drohen dann endgültig empfindliche Arbeitsplatzverluste, so dass die Hilfebedürftigkeit insgesamt steigen statt sinken könnte.
Wie gesagt mag man für oder gegen einen Mindestlohn sein. Das Hauptargument, mit dem der Mindestlohn zu einem zentralen Wahlkampfthema gemacht wurde, wird aber bei etwas näherer Betrachtung der Daten schon gleich gegenstandslos, und das muss unabhängig von strittigen Fragen nach den Wirkungen eines Mindestlohns auf Beschäftigungshöhe, Kaufkraft und anderes mehr von Anfang an jedem bekannt gewesen sein. Dies wirft die Frage nach der Redlichkeit nicht nur der meisten Wahlkämpfer aller Parteien, sondern auch vieler Medienmacher auf, welche den Schwerpunkt längst von Information auf Stimmung verlegt haben, auch und gerade wenn sie sich mit dem Label „öffentlich-rechtlich“ schmücken. Der Suche nach Lösungen für soziale Probleme dient so etwas aber gewiss nicht.
Literatur
DIW (2013), Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DIW Wochenbericht 39-2013, Berlin, September 2013.
BA (2013), Bundesagentur für Arbeit, Analytikreport der Statistik: Analyse der Grundsicherung für Arbeitssuchende, August 2013.
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