Seit einigen Monaten halten sich hartnäckig Gerüchte, die Europäische Zentralbank könnte den Zinssatz der Einlagefazilität, den sie an die Kreditinstitute zahlt, von derzeit null Prozent auf minus 0,1 Prozent senken. Dies meldete kürzlich eine Nachrichtenagentur (Bloomberg, 2013). Damit hätten die Geschäftsbanken in der Eurozone erstmals eine Gebühr zu zahlen, wenn sie überschüssige Liquidität bei der Zentralbank anlegen wollten. Negative Einlagenzinssätze wären geldpolitisches Neuland, das bislang nur von der Schwedischen Reichsbank und der Dänischen Nationalbank betreten worden ist. Neben dem Eurosystem denkt derzeit aber auch die Bank of England darüber nach, Gebühren für das „Parken“ von Liquidität bei der Zentralbank zu verlangen (Bank of England, 2013; Bossone, 2013).
Anlass für das Erheben negativer Habenzinssätze war in Dänemark der beträchtliche Zustrom von Liquidität aus dem Euro-Währungsraum, der nach Ausbruch der europäischen Staatsschuldenkrise einsetzte. Weil Dänemark als „sicherer Hafen“ galt, dessen Währung über das EWS II an den Euro gebunden ist, hatten viele europäische Einleger Anlagen in Dänemark gesucht (Nordea, 2013). Die Dänische Nationalbank reagierte darauf, indem sie im Juli 2012 den Zinssatz für die von ihr ausgegebenen Geldmarktzertifikate auf minus 0,2 Prozent senkte. Sie hat diesen Zinssatz inzwischen jedoch wieder auf minus 0,1 Prozent angehoben, verbleibt aber im negativen Territorium.
Auch wenn das Eurosystem denselben Weg gehen sollte, wären die Gründe für das Erheben von Negativzinsen andere als in Dänemark, weil ein Zustrom von Liquidität aus dem Ausland nicht abgeschreckt werden soll. Vielmehr dürfte das Motiv sein, die Kreditvergabe der Geschäftsbanken an den Nichtbankensektor anzuregen. Diese sinkt seit einigen Quartalen, weil die Nichtbanken mehr Kredite bei den Geschäftsbanken tilgen als neue von ihnen aufzunehmen. Verteuerte sich die Liquiditätshaltung, stiegen die Anreize für Geschäftsbanken, mehr Kredite ausreichen und so die gesamtwirtschaftliche Aktivität in der Eurozone anzuregen.
Allerdings sind Zweifel angebracht, ob negative Einlagenzinsen durch das Eurosystem derzeit tatsächlich wirksam und sinnvoll sind. Dazu lohnt ein Blick in die konsolidierte Bilanz des Eurosystems. Danach haben Geschäftsbanken im Euroraum – neben der Bargeldhaltung – die Möglichkeit, Liquidität auf verschiedenen Konten beim Eurosystem zu halten. Neben der Einlagefazilität unterhalten sie vor allem Einlagen auf Girokonten, die traditionell vornehmlich der Erfüllung des Mindestreservesolls dienen; dort halten sie zudem (traditionell niedrige) Überschussreserven als Liquiditätspuffer, um eine Untererfüllung des Mindestreservesolls zu verhindern. Alle drei Guthaben werden zumindest nominell unterschiedlich verzinst: Auf Guthaben in der Einlagefazilität wird der Einlagesatz gezahlt; das Mindestreservesoll auf Girokonten wird zum Hauptrefinanzierungszinssatz verzinst und die Überschussreserven (ebenfalls auf Girokonten) werden nicht verzinst. Damit wendet das Eurosystem auf Einlagen der Geschäftsbanken prinzipiell drei unterschiedliche Zinssätze an.
Die nachfolgende Abbildung zeigt die Entwicklung aller drei Einlagenformen seit Juni 2012, als der Zinssatz für die Einlagefazilität noch bei plus 0,25 Prozent lag. Die Höhe der Überschussreserve kann nur monatlich für das jeweilige Ende der Mindestreserveerfüllungsperiode angegeben werden. Es wird deutlich, dass die Geschäftsbanken anfänglich beinahe 800 Mrd. Euro in der Einlagefazilität hielten, diese aber sofort beträchtlich reduzierten, nachdem die EZB den Zinssatz für die Einlagezinssatz am 11. Juli 2012 auf null Prozent gesenkt hatte. Offensichtlich haben europäische Geschäftsbanken ihre Liquidität von Konten der jetzt nicht mehr verzinsten Einlagefazilität auf die Girokonten bei der EZB und damit in die ebenfalls zinslose Überschussreserve umgeschichtet (die jetzt zwar keinen Zinsnachteil mehr aufweist, aber als Puffer gegen eine Untererfüllung der Mindestreservesolls verwendet werden kann). Die Grenzkosten der Liquiditätshaltung auf Girokonten waren auf null gefallen.
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In den Folgeperioden haben die Geschäftsbanken ihre Guthaben sowohl in der Einlagefazilität als auch ihre Überschussreserve beträchtlich abgebaut. Dies geschah vor allem, indem sie ihre Verbindlichkeiten aus längerfristigen Refinanzierungsgeschäften tilgten, die im Juni 2012 noch mehr als 1000 Mrd. Euro betrugen. Sie stammten insbesondere aus den beiden Dreijahrestendern („Dicke Bertha“), die das Eurosystem zum Jahreswechsel 2011/2012 ausgereicht hatte, die die Geschäftspartner aber vorzeitig zurückzahlen durften, wovon sie reichlich Gebrauch gemacht haben. Inzwischen betragen die verbliebenen Verbindlichkeiten aus längerfristigen Refinanzierungsgeschäften in Tabelle 1 nur noch 651 Mrd. Euro. Die Guthaben in der Einlagefazilität sind auf lediglich 52 Mrd. Euro (oder 2 Prozent der konsolidierten Bilanzsumme des Eurosystems) gesunken, und die Überschussreserven auf Girokonten umfassten im Oktober 2013 lediglich 165 Mrd. Euro.
Damit dürften Negativzinssätze für die Einlagefazilität aus verschiedenen Gründen kaum wirksam sein. Erstens sind die verbliebenen Guthaben in der Einlagefazilität inzwischen, wie gezeigt, vernachlässigbar gering, sodass das Potenzial für eine zusätzliche Kreditvergabe hieraus bescheiden ist. Zweitens könnten die Geschäftsbanken sofort in die bislang zinslose Überschussreserve wechseln, die ein sehr enges Substitut zur Einlagefazilität darstellt – falls das Eurosystem nicht auch hierauf Negativzinsen verlangte, was allerdings die Wirkungsweise des Mindestreserveinstruments beeinträchtigen könnte. Drittens dürften die Geschäftsbanken verstärkt ihre Verbindlichkeiten aus längerfristigen Refinanzierungsgeschäften tilgen und ihre Überschussreserven abbauen, um Negativzinsen auf die Liquiditätshaltung bei der Zentralbank zu vermeiden. Schließlich bliebe den Geschäftsbanken immer noch der Ausweg, ihre Liquiditätsreserve in Bargeld zu halten, was zwar hohe Transaktionskosten verursachte, bei hohen Strafzinsen jedoch profitabel sein kann, wenn mit deren Fortsetzung für eine längere Zeit gerechnet wird (Bank of England, 2013). Um solch eine Flucht ins Bargeld zu verhindern, müsste die EZB weitere Restriktionen für die Bargeldabhebung einführen, was nicht absehbare Konsequenzen für die Stabilität des Bankensektors haben könnte.
Zweifel sind auch anzumelden, ob niedrige Zentralbankzinsen – selbst wenn sie noch knapp über null Prozent liegen – sinnvoll sind, um die Kreditvergabe an den Nichtbankensektor anzuregen. Sofern bei Niedrigzinsen auch die Zinsmargen gering ausfallen, wird die Finanzintermediation beeinträchtigt, falls die Nettozinserträge der Banken nicht mehr ausreichen, um die operativen Kosten des Bankbetriebs zu decken. Niedrige Leitzinssätze schaffen zudem Anreize für Geschäftsbanken, Kreditausfälle aus „non-performing loans“ nicht abzuschreiben, weil die Opportunitätskosten einer Kreditverlängerung an „Zombie-Unternehmen“ sinken. Dies erschwert gesunden Unternehmen den Zugang zu Bankkrediten und gefährdet das Wirtschaftswachstum, worauf japanische Erfahrungen bereits aus den 1990er Jahre hinweisen (Nakaso, 2001). Schließlich könnte der Interbankenzins, der stets im Korridor aus Spitzenrefinanzierungssatz und Einlagesatz liegt, bei einem negativen Einlagesatz auf (nahe) null Prozent sinken. Dann deckten die Zinserträge nicht mehr die operativen Kosten, mit der Konsequenz, dass der Interbankenhandel zusammenbräche und die Liquiditätsversorgung einzelner Banken nicht mehr sichergestellt wäre.
Im Ergebnis machen Negativzinsen durch die EZB wenig Sinn und sind kaum geeignet, die Kreditvergabe von Geschäftsbanken an die privaten Nichtbanken im Euroraum anzuregen. Auch die Bank of England hat bislang aus solchen Gründen die Einführung von Negativzinsen für Bankeinlagen verworfen (Bank of England, 2013). Negativzinsen treiben Anleger in die Bargeldhaltung, behindern die Finanzintermediation und verringern das Angebot an Bankdarlehen. Allerdings erhöhen sie die Attraktivität von Kapitalmarktpapieren von privaten und öffentlichen Emittenten, deren Kreditaufnahme am Kapitalmarkt erleichtert wird. Dies gilt auch für Emittenten aus den Peripherieländern – ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Literatur
Bank of England (2013): Note on Negative Interest Rates for Treasury Committee, Mimeo, London, Mai. Verfügbar hier.
Bloomberg (2013): ECB Said to Consider Minus 0.1 Percent Deposit Rate. Verfügbar hier.
Bossone, B. (2013): Unconventional Monetary Policies Revisited (Part I), VoxEU, 4. October 2013. Verfügbar hier.
Nakaso, H. (2001): The Financial Crisis in Japan during the 1990s: How the Bank of Japan Responded and the Lessons Learnt, Bank for International Settlements, BIS Paper No. 6, Basel.
Nordea Research (2013): Denmark Update. Negative Interest Rates – the Danish Experience, 30 April 2013. Verfügbar hier.
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Zum schleichenden Vertrauensverlust in Zentralbanken - 5. Dezember 2024 - Ist die Unabhängigkeit der US Fed in Gefahr? - 15. August 2024
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Zur Neuausrichtung des geldpolitischen Handlungsrahmens des Eurosystems - 27. Mai 2024
Hallo Herr Vollmer,
ich teile Ihre Einschätzungen und finde den Artikel sehr gut geschrieben. Das Thema ist ja momentan auch wieder brand aktuell.
Mir stellt sich nur die Frage, wie es den Geschäftsbanken möglich ist, das Zentralbankgeld herzunehmen, um dann davon Anleihen oder Aktien etc. über die Börse zu kaufen. So zumindest verstehe ich Ihre Äusserungen in den letzten beiden Sätzen des Artikels. Ich dachte immer, dass dieses Geld nur im Interbankenmarkt weiter verliehen/angelegt werden kann…