Gerontokratien und explosive Jugendbäuche
Vom Umgang mit nachwachsenden Generationen

Als die Ökonomen-Ikone Paul Samuelson 1958 in einem seiner berühmten Aufsätze die Grundlage der Theorie überlappender Generationen legte, da prägte er den Begriff des biologischen Zinses. Damit bezeichnete Samuelson den Effekt, dass die erzielbaren Renteneinkommen in Prozent des allgemeinen Lohnniveaus höher sein können als die früher einmal eingezahlten Beiträge, ohne dass nachfolgende Generationen hierfür höhere Beitragssätze zahlen müssten. Diese auf den ersten Blick an Zauberei erinnernde wundersame Geldvermehrung funktioniert unter genau einer Voraussetzung: Die nachwachsende Generation muss größer sein als ihre Vorgängergeneration. Das Wachstum der Bevölkerung „verzinst“ sich demnach in Form von Rentenzuwächsen, für die offenbar niemand die Rechnung bezahlen muss. Die vermeintliche Magie dieser wundersamen Geldvermehrung löst sich indes in Luft auf, wenn man bedenkt, dass eine wachsende Bevölkerung mit der Erziehung vieler Kinder verbunden ist, und dass dies bei aller Freude an der Sache immer auch mit Entbehrungen und Aufwand verbunden ist.

Der biologische Zins ist also keine Zauberei, sondern nichts anderes als die Frucht der Aufwendungen, die eine Generation für die Erziehung ihrer Nachfolger einmal getätigt hat. Genau deshalb geht es mit dem biologischen Zins auch andersherum. Wenn eine nachwachsende Generation nämlich kleiner ist als ihre Vorgängergeneration, weil letztere sich einen Teil der Aufwendungen für die Erziehung von Kindern gespart hatte, dann ist der biologische Zins negativ und man bekommt bei konstantem Beitragssatz eine Rente, die in Prozent des allgemeinen Lohnniveaus gerechnet unterhalb dessen liegt, was man eingezahlt hat. Wer das dann indes – beispielsweise unter Hinweis auf ein langes Arbeitsleben – ungerecht findet und entsprechend Abhilfe schaffen will, der hat dazu nur einen Weg: Er muss die Beitragssätze erhöhen (oder vorgesehene Beitragssenkungen unterlassen, was dasselbe ist). Für eine auf diesem Wege erzeugte Rentenerhöhung bekommt nun aber doch jemand die Rechnung; nur sind das nicht jene, die sich einen Teil der Aufwendungen für die Kindererziehung gespart hatten, sondern es sind die Vertreter der nachwachsenden Generation, die relativ klein an Zahl ist. Für letzteres kann sie naturgemäß nichts, aber dennoch bekommt allein sie die Rechnung dafür, dass ihre Elterngeneration sich seinerzeit entschlossen hatte, vergleichsweise wenige Kinder zu haben, dass sie sich heute aber dennoch dazu entschließt, sich üppige Renten zu genehmigen. Das alles mag gerecht finden, wer will.

Nun kann sich eine Gesellschaft grundsätzlich auch dazu entschließen, die Rentenbeiträge nicht in ein Umlagesystem zu zahlen, sondern es am Kapitalmarkt anzulegen. Das nennt man dann ein Kapitaldeckungssystem. Wenn man damit das Umlagesystem ablöst, dann gibt es – zumindest vorderhand – bei wachsender Bevölkerung zwar keinen positiven, dafür bei schrumpfender Bevölkerung auch keinen negativen biologischen Zins mehr. Allerdings: Selbst wenn wir einmal von den Problemen des Übergangs vom einen in das andere System absehen, dann wussten wir eigentlich schon seit vielen Jahrzehnten, dass die Lehre von der Unabhängigkeit des Kapitaldeckungssystems von der Bevölkerungsentwicklung bestenfalls auf einer halben Wahrheit beruht, und darauf hat schon zu Beginn der 1950er Jahre ein Ökonom namens Gerhard Mackenroth hingewiesen. Denn die Güter und Dienstleistungen, die wir im Alter verbrauchen, können wir während unserer Erwerbsphase nicht speichern, wenn man einmal von einem eventuell vorhandenen Eigenheim und von dem einen oder anderen Oldtimer absieht, und deshalb werden wir in der Ruhestandsphase immer im Wesentlichen von dem leben müssen, was jene während genau dieser Zeit produzieren werden, die dann in der Erwerbsphase sind. Und wenn diese Personen nun immer weniger an Zahl werden, dann wird es unausweichlich eng. Denn ein Inlandsprodukt ist eine Stromgröße, und die können wir ebenso wenig speichern, wie wir heute schon den Kuchen für einen Geburtstag in 20 Jahren backen können. Das einzige, was wir speichern können, sind daher die rechtlichen Ansprüche an das, was in unserer Ruhestandsphase einmal von unseren Nachfolgern produziert werden wird. Nur nützen rechtliche Ansprüche auf etwas wenig, was nicht existiert.

Richtig ist zwar dies: Wenn wir heute einen Teil unseres Einkommens für später sparen und es am Kapitalmarkt anlegen, dann können Unternehmen damit investieren, und das vergrößert unter bestimmten Bedingungen den Bestand an realem Kapital in der Zukunft mit der Folge, dass unsere Nachkommen mit einem moderneren Kapitalstock und damit produktiver arbeiten als es ohne unsere Ersparnisse der Fall gewesen wäre. Damit erhöht unsere heutige Ersparnis tendenziell das allgemeine Einkommensniveau in der Zukunft, und das ist allein schon ein guter Grund dafür, dass wir das Umlageverfahren zumindest durch ein Kapitaldeckungsverfahren ergänzen sollten. Mit Blick auf unsere Frage ändert das allerdings dennoch wenig. Denn wenn wir die Einkommenssituation der Rentner am allgemeinen Einkommensniveau messen, dann wird der demographische Effekt zwar in absoluten Einkommenseinheiten gemildert, wenn diese während der Erwerbsphase gespart haben, nicht aber in Prozent des allgemeinen Einkommensniveaus. Genau in diesem als Rentenniveau bezeichneten Prozentsatz aber messen wir in Deutschland die Einkommenssituation der Rentner. Und wenn wir das tun, dann kann das allgemeine Einkommensniveau pro Erwerbstätigen wachsen, wie es mag; es ändert nichts am Rentenniveau, denn die Einkommensansprüche jedes einzelnen Rentner wachsen stets in gleichem Tempo mit, wenn wir die Einkommenssituation der Rentner am Rentenniveau messen; und wenn dann gleichzeitig das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern sinkt, dann gibt es doch wieder nur einen Weg, um das Absinken des Rentenniveau aufzuhalten, und der besteht in Beitragserhöhungen.

Richtig ist allerdings auch dies: Statt der rechtlichen Ansprüche an das Einkommen der jeweiligen inländischen Erwerbstätigengeneration können wir auch rechtliche Ansprüche an Erwerbstätige im Ausland ansammeln. Auf diese Weise können wir später einmal auf das zugreifen, was Personen in anderen Ländern produzieren, und zwar vorzugsweise dort, wo heute die Bevölkerung wächst. Oder wir können die Leute aus diesen Ländern im Wege der Zuwanderung zu uns bitten, auf das sie hier vor Ort das produzieren, wovon wir dann unseren Anteil reklamieren – mit welchem Recht auch immer. Das hat dann den Vorteil, dass es auch noch besonders edel und gut klingt, denn wer mehr Zuwanderung fordert, klingt immer edel und gut. Aber abgesehen davon, dass es aus ganz anderen – nicht zuletzt auch humanitären – Gründen in der Tat richtig und wichtig ist, Zuwanderung zuzulassen, so wäre es doch eine grobe Selbsttäuschung, wollte man sich als edler Ritter fühlen, sofern man Zuwanderung unter Verweis auf die segensreichen Effekte für die Alterssicherung einfordert. Denn wie man es auch dreht und wendet: Es läuft in der einen oder anderen Weise immer darauf hinaus, dass wir unseren Generationsgenossen aus anderen – noch dazu regelmäßig sehr viel ärmeren – Ländern die Erziehungsleistungen für jene Kinder überlassen, von deren künftigen Früchten in Form von Erwerbseinkommen wir dann später einen saftigen Anteil als unseren Anspruch in Form von Altersrente reklamieren werden. Wovon jene Personen im Alter dann leben sollen, welche unsere beitragszahlenden Zuwanderer einmal großgezogen haben, bleibt das Geheimnis der edlen Ritter. Nicht anders sind die Ergebnisse, wenn wir das ganze über ein Kapitaldeckungsverfahren abwickeln, denn aus dem leiten wir zwar keine Ansprüche auf die Arbeits- wohl aber solche auf die Kapitaleinkommen künftiger Generationen der betreffenden Länder ab. (Für die Ökonomen: Es hilft leer ausgehenden Eltern in anderen Ländern wenig, wenn dieser letztere Effekt nur auf einer pekuniären, nicht aber einer technologischen Externalität beruht und dass diese nicht Kaldor-Hicks-wohlfahrtsrelevant ist).

Aber selbst wenn wir das alles außer Acht lassen oder Wege gefunden zu haben glauben, die diese Grundzusammenhänge außer Kraft setzen, so kommt noch eines dazu: Nicht in jedem Land, in dem die Bevölkerung wächst, übersetzt sich dies auch in eine biologische Verzinsung im Sinne Samuelsons. Hierzu bedarf es vielmehr einer Reihe von wohldefinierten Bedingungen. Jüngeren Studien zeigen zunächst einmal, dass der Anteil junger – vor allem junger männlicher – Personen an der Bevölkerung positiv korreliert ist mit der Konfliktanfälligkeit der betreffenden Länder. Man spricht hier vom Youth Bulge oder vom Jugendbauch, und auch wenn man die Messmethoden im Rahmen ökonometrischer Verfahren verfeinert, dann bleibt der Zusammenhang zwischen Konfliktanfälligkeit und Jungendbauch in der Tat bestehen. Man könnte es also auch so ausdrücken: Es gibt Bedingungen, unter denen sich ein hoher Jugendanteil in Wertschöpfung und biologischer Verzinsung niederschlägt, aber es gibt leider auch andere Bedingungen, unter denen das glatte Gegenteil folgt. Welche sind diese Bedingungen?

Junge Menschen – speziell junge Männer – dürften nicht per se konfliktfreudiger und kampfeslustiger sein als andere. Aber junge Menschen drängt es dazu, mit ihrem Leben etwas anzustellen, einen Weg zu gehen, etwas zu verwirklichen und dem Leben damit eine Perspektive zu geben. Und wenn der Zugang zu einem beruflichen Werdegang verfilzt und nur Privilegierten vorbehalten ist, dann suchen junge Menschen eben nach anderen Wegen. Und wenn es junge Menschen gibt, die nach solchen Wegen in der offiziellen Wirtschaft und Gesellschaft suchen, diese aber verbaut vorfinden, dann finden sich ganz schnell Anbieter neuer Wege. Das können dann mafiöse Organisationen sein, es können aber auch die Organisationen nationalistischer selbsternannter Freiheitskämpfer sein und schließlich solche allerlei religiöser oder ideologischer Fanatiker. Diese schießen nämlich nur scheinbar zufällig genau dort aus dem Boden, wo das Bevölkerungswachstum groß, die Perspektiven der jungen Menschen aber schlecht und die Jugendarbeitslosigkeit hoch ist. Denn dort ist das Meer, in dem sich füglich nach jungen Menschen fischen lässt, deren Tatendurst wegen verbauter beruflicher Laufbahnen ungestillt ist, weil offizielle Karrierewege bestimmten privilegierten Cliquen vorbehalten sind. So betrachtet sind Hamas, Hisbollah und all die anderen nichts als Arbeitgeber, die jungen Leuten anderweitig versperrte Karrierewege eröffnen, diese für ihr Engagement entlohnen und sogar deren Familien mitunter großzügig sozial absichern. Solcherlei Arbeitgeber weisen fast alle Merkmale offizieller Arbeitgeber auf, und selbst modernste Formen von beruflichen Laufbahnen werden von ihnen kopiert. So ist Al Kaida im Grunde nicht viel anderes als ein terroristisches Franchise-System. Solcherlei Ausführungen mögen zynisch klingen, aber zynisch ist es nicht, diese Dinge zu benennen; zynisch sind allein die Dinge selbst, und zynisch sind jene, die diese Dinge durch eine freiheitsfeindliche Politik verursachen.

Beinahe die ganze arabische Welt leidet unter dem Problem, dass die Gesellschaften ihren zahlreichen jungen Menschen jene beruflichen Perspektiven verbaut, mit denen diese zum Wohl ihrer selbst und zum Wohl der übrigen Gesellschaft ihre drängenden Wünsche zur Entwicklung ihres Lebens in so etwas wie eine berufliche Laufbahn umsetzen könnten. Vor diesem Hintergrund ist es schon fast putzig, wie sich Gelehrte verschiedenster Provenienz die kanonischen Grundlagen dieser oder jener Religion um die Ohren hauen in der Suche nach Indizien dafür, welcher Glaube aufgrund welcher Dogmatik vor welchem historischen Hintergrund mit Demokratie, freier Gesellschaft und Prosperität vereinbar sein mag und welcher nicht. Denn es liegt so offen auf der Hand: Wer jungen Menschen den Zugang zu Bildung und sodann die Räume dafür eröffnet, dass sie im Rahmen ebenso produktiver wie friedlicher beruflicher Laufbahnen ihrem Drang nach Taten einen Weg ebnen und damit eine Lebensperspektive entwickeln, der wird sich vor Innovationsfreude und produktiver Aktivität kaum retten können und der wird abstruse Ideologien und religiöse Fundamentalismen nach kurzer Zeit verdorrt vorfinden, egal auf welchem geistigen Fundament sie beruhen. Aber wer das Gegenteil tut, der wird das letztere blühen und das erstere vertrocknen sehen; und er wird diese ganzen unappetitlichen Arbeitgeber vorfinden.

Damit dürfte klar sein, wo die rosige Zukunft liegt: da nämlich, wo erstens viele junge Menschen zu finden sind, und da wo diesen jungen Menschen die nötigen Freiräume für ihren Drang nach Gestaltung und Perspektive offen stehen. Noch sind wir in den westlichen Ländern einigermaßen vorbildlich, was das letztere angeht. Wenn wir jetzt aber den nachwachsenden Generationen immer hemmungsloser immer neue Lasten aufhalsen, um damit unseren eigenen üppigen Lebensstandard auch im Alter um jeden Preis zu erhalten, obwohl wir nicht das getan haben, was dazu notwendig gewesen wäre, und wenn wir dabei jeden Kritiker mit verlogenen Moralappellen auf den Leib rücken und dabei nicht einmal vor millionenschweren Propagandafeldzügen zurückschrecken, welche uns die hohe Moralität von Dingen suggerieren sollen, die doch nur ein ziemlich unmoralisches Machtspiel der Alten gegen die Jungen sind, wenn das nicht irgendwann aufhört, dann kann es einmal vorbei sein mit unserer Vorbildfunktion. Da hilft es dann auch nichts mehr, wenn der Jugendanteil in unseren westlichen Gesellschaften so klein ist, dass am Ende schlicht zu wenige potenzielle Rebellen da sein werden, um ein Konfliktpotenzial vom Kaliber der arabischen Welt zu erzeugen. Eine rosige Zukunft sähe unter diesen Bedingungen nämlich anders aus, und die hätten dann allein andere Regionen der Welt.

Thomas Apolte

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