Richter sind es gewohnt, sich viel Zeit zu nehmen, nicht zuletzt, um ein möglichst einstimmiges Urteil zu erreichen. Aber geduldiges Abwarten hat sich gelohnt. Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt mit einer Dreiviertelmehrheit beschlossen, das Gerichtsverfahren über Verfassungsbeschwerden gegen das Anleihekaufprogramm OMT (Outright Monetary Transactions) der Europäischen Zentralbank auszusetzen und gemäß Art. 267 AEUV dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zehn Fragen zur Vereinbarkeit des Programms mit europäischem Recht vorzulegen.
Mancher Ökonom mag das als den lange erwarteten, großen Kotau des Verfassungsgerichts ansehen und verdammen. Aber das wäre eine zu simple und irreführende Art der Betrachtung. Die Europäische Zentralbank (EZB) bricht mit der Einführung des OMT-Programms den europäischen Verfassungsvertrag, aber weder der Europäische Rat, noch die Kommission oder gar die Bundesregierung fühlen sich aufgerufen, dies zu monieren und Initiativen zur Korrektur zu ergreifen. Das Bundesverfassungsgericht andererseits kann unmittelbar nichts tun als den Rechtsbruch festzustellen. Die EZB wie auch die Bundesregierung muss das aber nicht weiter kümmern, solange das Urteil keine breite politische Diskussion auslöst.
Die einzig Erfolg versprechende Strategie könnte sein, die europäische Ebene zu involvieren. Tatsächlich versucht jetzt das Bundesverfassungsgericht, den EuGH auf einen Interpretationsweg zu locken, an dessen Ende das OMT-Programm zwar nicht völlig demontiert sein wird, ihm aber der Biss und seine potentielle Gefährlichkeit als eine unbegrenzte Quelle monetärer Staatsfinanzierung genommen sein wird.
Karlsruhe“˜s Kniff
Die mit der jüngsten Entscheidung eingeschlagene Vorgehensweise des Gerichts ist elegant. Sie hat den besonderen Kniff, dem EuGH und der europäischen Öffentlichkeit kühl vortragen zu können, dass das OMT-Programm der EZB als ein Bruch des europäischen Rechts (Ultra-vires-Akt) zu werten ist und welche Aspekte im Einzelnen dafür sprechen, ohne schon jetzt mit großer Geste den Stab über die EZB brechen zu müssen. Das Verfassungsgericht signalisiert mit seinem Beschluss dem EuGH sehr klar, wie es urteilen wird, sollte der EuGH keine durchschlagenden Gründe für eine abweichende Beurteilung vortragen und keine Maßgaben für eine Entschärfung des Programms entwickeln. Das Gericht ermöglicht es mit diesem Schritt allen Beteiligten, zu einer gesichtswahrenden Lösung zu kommen. Das ist sehr rational und wird sicherlich manchem D-Mark-Romantiker nicht gefallen. Aber für den langfristigen Bestand des Euro in Stabilität wäre Entscheidendes gewonnen, wenn der mit der derzeitigen Konstruktion des OMT-Programms verbundenen Möglichkeit, die Geldpolitik zu unbegrenzter monetärer Staatsfinanzierung zu missbrauchen, auf der europäischen Ebene ein verfassungspolitischer Riegel vorgeschoben werden könnte.
Der EuGH ist in der Auslegung der europäischen Verträge grundsätzlich frei, er muss dem Bundesverfassungsgericht nicht folgen. Aber das Gericht setzt ihn sowohl intellektuell wie auch politisch unter Druck, sich mit den vorgetragenen Überlegungen überzeugend auseinandersetzen zu müssen. Strategisch bedeutsam dabei ist, dass das Verfassungsgericht die Verfassungsbeschwerden nicht an den EuGH abgegeben hat, sondern nach der Konsultation des EuGH selber entscheiden wird. Das hält die Möglichkeit offen, sich im abschließenden Urteilsspruch mit etwaig abweichenden Auffassungen des EuGH auseinanderzusetzen.
Unbeschadet aller Einzelheiten gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder validiert der EuGH das OMT-Programm und weist alle Einwände ab oder er folgt dem Verfassungsgericht im Grundsatz und entschärft das OMT-Programm durch geeignete Maßgaben. Der erste Fall ist nicht völlig auszuschließen, aber doch wenig wahrscheinlich. Zwar wird über den EuGH gern behauptet, er sei ein rein politisches, im Übermaß „europafreundliches“ Gremium, das zu einseitiger Auslegung im Sinne der unbedarften Parole eines „Mehr an Europa“ neige. Aber der Gerichtshof wird sich in diesem Fall nicht leichtfertig zur Zielscheibe deutscher Verfassungsjuristen und vielleicht auch Politiker machen wollen. Klüger wäre es und somit wahrscheinlicher, dass der EuGH sich auf die Argumentation des Verfassungsgerichts einlassen, aber sie rein positiv wenden wird. Er wird sich kaum dazu verstehen, das OMT-Programm als einen Verfassungsbruch zu rügen und zu untersagen. Sondern er dürfte bemüht sein, das OMT als eine auf den Notfall zu begrenzende legitime Maßnahme zur Rettung des Bestands der gemeinsamen Währung zu rechtfertigen, wie das schon Mario Draghi Anfang September 2012 mit dramatisierendem Tremolo vorzuzeichnen suchte.
Trotzdem, und das ist letztlich entscheidend, dürften wesentliche Einwände der Kritiker berücksichtigt werden. Der Umstand, dass das Programm bisher noch gar nicht angewendet worden ist, kommt zupass. Er wird es erleichtern, für Veränderungen der Konstruktion zu plädieren. So wäre es nicht überraschend, wenn sich der EuGH dafür aussprechen würde, dass die EZB das OMT in ein wohldefiniertes, strukturiertes Notprogramm verwandelt, das mit grundsätzlich begrenzten Mitteln auf eng begrenzte Zeit und nur in enger Abstimmung mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und eventuell auch dem Rat in ausgewählten Staatsschuldmärkten tätig wird.
Das wäre zwar nicht die Wunschlösung, die sich viele deutsche Ökonomen, einschließlich des Autors, vorstellen. Sie sähen das OMT-Programm am liebsten gestrichen. Auch Draghi dürfte die skizzierte Lösung kaum gefallen. Aber sie wäre weit besser als die derzeitige Lage, in der der EZB keinerlei Schranken vorgegeben sind. Das muss geändert werden. Dann könnte die EZB nicht mehr nach Gutdünken unkontrollierte Stützungsoperationen zugunsten einzelner Staatshaushalte durchführen, wie sie es mit dem SMP-Programm getan hatte, sondern sie hätte Rechenschaft zu legen. Das wird Interventionslust dämpfen.
Wohin die Reise gehen muss
Unbeschadet der verschiedenen Einzelfragen, die das Verfassungsgericht jetzt an den EuGH gerichtet hat, geht es in der Hauptsache darum, die Satzung der EZB so zu formulieren, dass nicht länger behauptet werden kann, der EZB sei es erlaubt, Staatsanleihen in unbegrenztem Ausmaß anzukaufen. Dieser falschen Behauptung Mario Draghis erliegen sogar einige deutsche Ökonomen. Tatsächlich darf die EZB laut Art. 18.1 EZB-Satzung auf den Finanzmärkten Staatsanleihen wie auch andere Aktiva „kaufen und verkaufen“. Aber das bedeutet keinen Freibrief zu unbeschränktem Auftürmen von Anleihebeständen. Denn das wäre Staatsfinanzierung und ist in der EZB-Satzung durch den weiteren Art. 21.1 untersagt, der wortidentisch das in Art. 123 AEU-Vertrag niedergelegte Verbot der Staatsfinanzierung wiederholt. Es handelt sich hier nur scheinbar um einen Widerspruch in der Satzung. Der Art. 18.1 legitimiert das Kaufen und Wiederverkaufen von Anleihen und anderen Aktiva zum kurzfristigen Ausgleich von Schwankungen am Geldmarkt. Deshalb lautet die Formulierung „kaufen und verkaufen“. Die EZB darf zu diesem Zweck Staatsanleihen halten, aber die Bestände müssen stationär sein.
Dieser Sachverhalt wird durch die weitere Bestimmung des Art. 41 EZB-Satzung unterstrichen, wonach der Europäische Rat in einem vereinfachten Änderungsverfahren den Art. 18 EZB-Satzung ändern kann, nicht dagegen den Art. 21. Das Verbot der Staatsfinanzierung kann nicht aufgehoben werden, aber die Regelung des Art. 18.1 der Sekundärmarktkäufe darf verändert werden. Hier wäre es wünschenswert, einen Zusatz einzufügen, der unter Verweis auf Art. 21.1 klarstellt, dass Operationen an den Sekundärmärkten sich in eng begrenztem Rahmen halten müssen.
Und wenn der EuGH sich nicht drum schert?
Nicht nur für das Ansehen des EuGH, sondern ebenso für das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts steht viel auf dem Spiel. In dem wenig wahrscheinlichen Fall nämlich, dass der der EuGH sich nicht auf das Spiel einlassen sollte, wird das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht umhin kommen, eine klare Verurteilung des OMT-Programms vorzulegen. Dann werden Bundesregierung und politische Parteien es nicht länger vermeiden können, sich mit dem eigenmächtigen Vorgehen der EZB auseinanderzusetzen. Welche problematischen politischen und wirtschaftlichen Rückwirkungen das haben könnte, muss aber vorläufig nicht erörtert werden. Wenn der EuGH wirklich so politisch agiert, wie manchmal behauptet wird, dürfte er sich im Klaren sein, dass es für alle Beteiligten am besten wäre, die vom Bundesverfassungsgericht vorgezeichnete Kompromisslinie einzuschlagen.
Beiträge zu BVerfG und OMT:
Ifo-Institut: Stellungnahme des Ifo-Instituts zur Erklärung des Bundesverfassungsgerichts
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Notenbankgewinne und Geldpolitik (5)
Am Ende haften wir alle - 24. Januar 2015 -
Eine Billion – was ist das schon?
Zu Draghis Expansionsplänen - 7. Januar 2015 - Politik und Rat (2)
Sachverständige Läuse
Zur Politkritik am Sachverständigenrat - 16. November 2014
Liebe Kollegen,
die Vorgehensweise des Verfassungsgerichts ist elegant, weil das Gericht das OMT-Programm praktisch als Rechtsbruch (Ultra-vires-Akt) kennzeichnet, aber zugleich dem EuGH den Weg zu einer rechtsverträglichen Begrenzung des Programms weist.
Etwas feige, mag mancher denken – aber ich finde, wenn man es vom Ende her betrachtet, ist es weise.
Viele Grüße,
Manfred J.M. Neumann
Lieber Herr Neumann,
was soll weise daran sein, wenn jemand sich drängt, etwas öffentlich als rechtswidrig festzustellen, das er für absolut notwendig halten muss – und damit zu behindern? An Offensichtlichkeit hat es hier weder der Notwendigkeit noch der Rechtswidrigkeit gemangelt. Klug wäre doch gewesen, sich in einmal solchen Fall zurückzuhalten, das Notwendige geschehen zu lassen und es später, zu gehöriger Zeit und in gehöriger Form – womöglich in Gestalt einer Tragödie – als unrechtmäßig einzuordnen. Die beiden Minderheitsvotanten haben aufgezeigt, mit welch guten Gründen man seine Zurückhaltung hätte erklären können.
Gruß
Olaf Sievert
Lieber Herr Sievert,
Sie fragen mich
was soll weise daran sein, wenn jemand sich drängt, etwas öffentlich als rechtswidrig festzustellen, das er für absolut notwendig halten muss – und damit zu behindern?
Mit „jemand“ meinen Sie sicherlich den 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts. Der Senat hat sich m. E. nicht danach gedrängt, sondern darauf eingelassen, die Klagen nicht abzuweisen. Meine Qualifizierung „weise“ bezieht sich nicht auf die Frage des Annehmens oder Abweisens der Klagen, sondern auf die m. E. geschickte Vorgehensweise des Senats, vermittels Befragung des EuGH einem einvernehmlichen Kompromiss im Sinne einer wirksamen Entschärfung des OMT-Programms den Weg zu bahnen. Wie ich in meinem Beitrag in Bertholds Wirtschaftlicher Freiheit ausgeführt habe, erwarte ich, dass der EuGH den Spielball aufnehmen und sich dafür aussprechen wird,
dass die EZB das OMT in ein wohldefiniertes, strukturiertes Notprogramm verwandelt, das mit grundsätzlich begrenzten Mitteln auf eng begrenzte Zeit und nur in enger Abstimmung mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und eventuell auch dem Rat in ausgewählten Staatsschuldmärkten tätig wird.
Das OMT-Programm muss man keineswegs für „absolut notwendig“ halten. Draghi hat mit seiner rücksichtslosen Ansage die Märkte im September 2012 zur Räson gebracht. Gut. Das geht einmal, aber nicht zweimal, es sei denn man kaufte ohne Rücksicht auf Verluste wahllos auf. Genau das aber gilt es zu verhindern. Wenn dies nicht durch einen Kompromiss der oben skizzierten Art zu erreichen ist, dann wird das Verfassungsgericht im endgültigen Urteil klar aussprechen müssen, dass
(1) das OMT-Programm rechtswidrig ist (nicht ein Randproblem, wie ein Minderheitsvotant meint) und
(2) Bundestag und Bundesregierung sich mit der Frage auseinander setzen müssen, was sie dagegen zu tun gedenken.
Sie sagen
Klug wäre doch gewesen, sich in einmal solchen Fall zurückzuhalten, das Notwendige geschehen zu lassen und es später „zu gehöriger Zeit und in gehöriger Form, womöglich in Gestalt einer Tragödie“ als unrechtmäßig einzuordnen.
Was Sie als „klug“ bezeichnen, könnte man auch „opportunistisch“ nennen. Mir will scheinen, Richtern wäre Ihr Ratschlag ein Graus.
Die Statements der Minderheitsvotanten werfen sehr interessante Fragen auf. Wenn sie Recht hätten, dann wären die Klagen abzuweisen gewesen. Dann wären die Bürger darauf verwiesen, allein vermittels der politischen Parteien auf den Gang der Dinge Einfluss nehmen zu dürfen. Das kann man nicht rundweg ablehnen. Andererseits, wenn sich die Parteien in einer Frage miteinander gegen den Willen der Bürger verständigen, dann wären die Bürger darauf angewiesen, zuerst eine neue Partei zu gründen und durchzusetzen. Die Transaktionskosten(Ressourcenaufwand wie Zeitbedarf) eines solchen Unternehmens sind so hoch, dass die Bürger es im Regelfall gar nicht erst versuchen werden. Dann erscheint der Ansatz einer ausschließlichen Willensbildung durch die Parteien schon nicht mehr als sehr überzeugend.
So gesehen sind die Richter der Dreiviertelmehrheit des 2. Senats dafür zu loben, dass sie die Klagen angenommen haben.
Viele Grüße,
Manfred J.M. Neumann