Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung im Februar die Drei-Prozent-Hürde für die Wahl zum Europäischen Parlament gekippt. Die Begründung ist so einfach wie plausibel: Ausgangspunkt ist ein zweifacher Gleichheitsgrundsatz, der erstens die Chancengleichheit der Parteien auf einen Sitz im Parlament fordert und zweitens den gleichen Einfluß jeder Wählerstimme auf die Sitzverteilung im Parlament. Eine letztendlich freihändig und willkürlich festgelegte Drei-, Fünf-, oder auch Acht- oder Zwei-Prozentklausel setzt beide Komponenten des Gleichheitsgrundsatzes außer Kraft und bedarf einer besonders stichhaltigen Begründung.
Die Karlsruher Richter argumentieren nun, daß für die Europawahl eine solche stichhaltige Begründung sicher nicht vorliegt. Denn das Europäische Parlament hat immer noch vergleichsweise geringe Kompetenzen, vor allem aber trägt es nicht, wie etwa der Bundestag, die Regierung. Es ist daher kein Wunder, daß gerade Europapolitiker das Urteil als Affront verstanden haben, denn seine unterschwellige Botschaft lautete: Das Europäische Parlament ist nicht so wichtig, als daß eine stärkere Präsenz kleiner Fraktionen seine Funktionsweise beeinträchtigen würde. Und allein die Absicht, irgendwann einmal wichtiger werden zu wollen, ist noch kein Grund, heute schon vom Gleichheitsgrundsatz abzuweichen.
Es geht also um ein Abwägen zwischen dem für eine Demokratie eigentlich fundamentalen Gleichheitsgrundsatz und pragmatischen Überlegungen zum Funktionieren des Parlaments. Daß das Bundesverfassungsgericht hier dem demokratischen Gleichheitsgrundsatz ein hohes Gewicht gibt, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Verschwörungstheorien wie die des Soziologen Ulrich Beck, der behauptet, ein europaskeptisches Gericht wolle absichtlich „Weimarer Verhältnisse“ in Brüssel herbeiführen, sind deshalb vollkommen abwegig. Vor dem Hintergrund der Urteilsbegründung ist aber auch klar, daß eine Klage gegen die Fünf-Prozent-Hürde bei Bundestags- oder Landtagswahlen vermutlich keine echte Aussicht auf Erfolg hätte. Allenfalls die Höhe der Hürde könnte hinterfragt werden, aber für die Existenz einer Sperrklausel scheint es hier dann doch aus rechtlicher Sicht nachvollziehbare Gründe zu geben. Ein Parlament, das die Regierung wählt und das in einem Institutionengefüge verankert ist, in dem die Regierung sich auf eine stabile Mehrheit im Parlament stützen soll, kann nachvollziehbar stärkere Kriterien für seine eigene Funktionsfähigkeit definieren als es beispielsweise das Europäische Parlament kann.
Trotz solcher verfassungsrechtlichen Einschätzungen kann es aber zu einer neuen politischen Debatte um die Fünf-Prozent-Hürde kommen. Hierfür gäbe es, wie Charles B. Blankart zeigt, einige gute Gründe. So weist er darauf hin, daß bei der vergangenen Bundestagswahl 16 Prozent der Wähler für Parteien gestimmt haben, die an der Sperrklausel gescheitert sind. Wenn man sich aber einmal für das Verhältniswahlrecht entschieden hat, das von seiner Konstruktion her auf eine möglichst genaue Repräsentation der Wählerpräferenzen im Parlament abzielt, dann ist eine Situation, in der fast jeder sechste Wähler seine Stimme verschenkt hat und nicht repräsentiert wird höchst problematisch.
Blankart schlägt plausible Alternativen vor. An die Stelle der Fünf-Prozent-Klausel könnte beispielsweise eine Klausel treten, die umgekehrt verlangt, daß in jedem Bundestag 95 Prozent der abgegebenen Stimmen repräsentiert werden. Bei der letzten Bundestagswahl hätte dies dazu geführt, daß AfD, FDP und Piraten im Parlament vertreten, alle anderen Kleinparteien aber ausgeschlossen wären. Denkbar wäre auch ein Präsidialsystem, in dem der Regierungschef direkt gewählt wird und sich dann von Thema zu Thema wechselnde parlamentarische Mehrheiten sucht. Hier wäre das Zusammenspiel zwischen der Regierung und einem stärker fraktionalisierten Parlament ohne Sperrklausel wesentlich unproblematischer, hinzu käme der willkommene Nebeneffekt einer stärkeren Kontrolle der Regierung durch das Parlament.
Warum sind solche Gedankenspiele überhaupt wichtig? Karl Popper wird die Feststellung zugeschrieben, die wichtigste Eigenschaft der Demokratie sei, daß in ihr unblutige Machtwechsel routiniert abgewickelt werden. So gesehen steht das Wettbewerbselement im Vordergrund: Demokratie funktioniert, solange die Wähler tatsächlich die Wahl zwischen Alternativen haben und solange sie schlechten Regierungen mit Abwahl drohen können. So gesehen bräuchte man sich um eine möglichst perfekte Repräsentation der Wählerinteressen auch durch Kleinparteien überhaupt keine Gedanken machen. Denn einen wirksamen politischen Wettbewerb, der eine gewisse Disziplinierungswirkung auf Amtsinhaber hat, kann man auch in einem Mehrheitswahlrecht mit Zweiparteiensystem organisieren, wie das Beispiel der USA zeigt.
Natürlich wünscht man sich als Bürger von einem demokratischen System aber noch etwas mehr als nur die Möglichkeit, schlechte Regierungen durch Abwahl zu sanktionieren. Demokratische Entscheidungsfindung sollte von unten nach oben erfolgen, und zwar nicht nur bei der Wahl von Repräsentanten, sondern auch in der Sache. Es sollte sichergestellt sein, daß Parlamentarier und Regierungsmitglieder einen starken Anreiz haben, auf sich verändernde Präferenzen ihrer Bürger zu reagieren und auch Änderungen in der wahrgenommenen relativen Dringlichkeit von Sachfragen zu berücksichtigen. Das klingt selbstverständlich, aber die Anreize, die der Wettbewerb um Wählerstimmen setzt, sorgen nicht in jedem Fall dafür, daß politische Repräsentanten entsprechend reagieren.
Wenn eine Partei ihre politische Agenda anpaßt, dann fragt sie rationalerweise, ob sie durch das Forcieren eines neuen Sachthemas mehr Wähler dazu gewinnen wird, als sie auf der anderen Seite verlieren wird. Ein Beispiel: Nach einer ersten Welle der Umweltpolitik zu Beginn der 1970er Jahre stagnierte diese in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Das Thema interessierte zwar die Bevölkerung, aber mitten in der Rezession mußte die SPD als große Regierungspartei fürchten, durch eine stärkere Betonung der Umweltpolitik Stimmen in ihrem traditionellen, industriellen Milieu zu verlieren. Erst durch das erfolgreiche Auftreten einer neuen, kleinen Partei, der Grünen, konnten die Wähler signalisieren, wie ernst es ihnen mit der Umweltpolitik tatsächlich war.
Eine ähnliche Rolle wie die Grünen hätten um ein Haar die Piraten für die Netzpolitik gespielt, wenn sie sich nicht in irrwitzigen inneren Konflikten zerrieben hätten, und ob die AfD ein seriöser Türöffner für die Europapolitik wird, muß man mit der gebotenen Skepsis abwarten. Grundsätzlich aber können kleine, zunächst thematisch spezialisierte Parteien ein wichtiges Vehikel für politische Innovationen sein. Sie ermöglichen es dem Wähler, die Dringlichkeit von Themen zu signalisieren, die von den etablierten Parteien übersehen oder vernachlässigt werden. Je höher aber die Zutrittsbarrieren zum parlamentarischen Wettbewerb sind, desto schwieriger wird das. In vielen Kommentaren im Anschluß an das Urteil des Verfassungsgerichtes schien aber eine regelrechte Stabilitätsbesessenheit durch. Aber Stabilität ist nicht alles; der Preis von Stabilität ist ein Verlust an Offenheit. Dieser Preis scheint nicht immer hinreichend berücksichtigt zu werden.
Natürlich gäbe es auch andere Mechanismen, um den politischen Prozeß wieder etwas lebhafter, anregender und offener zu gestalten. Die Erfahrungen in der Schweiz zeigen, daß ein direkt-demokratisches Initiativrecht helfen kann, Themen auf die Agenda zu setzen, die in der Parteiendemokratie ausgeblendet und vernachlässigt werden. Sogar gescheiterte Initiativen lösen dort gelegentlich gesellschaftliche Diskussionen aus, die dann über den repräsentativen Zweig des politischen Prozesses doch noch zu Reformen und Neuerungen führen. Und erfolgreiche, aber umstrittene Initiativen, wie etwa die jüngste Zuwanderungsinitiative, werden im anschließenden Verhandlungsprozeß oft soweit domestiziert, daß das Ergebnis verträglich und keinesfalls so dramatisch ist, wie es aufgeregte deutsche Kommentatoren befürchten.
Die Bürger in Deutschland fühlen sich aber von ihren Parlamentariern chronisch schlecht repräsentiert. Diese wiederum scheuen eine Öffnung des politischen Marktes wie der Teufel das Weihwasser und verteidigen stattdessen weiterhin die existierenden Zutrittsbarrieren, oft mit einem zweifelhaften Hinweis auf Erfahrungen der Weimarer Republik. Seit der ersten Bundestagswahl haben die Bürger aber inzwischen 65 Jahre Erfahrung mit einer stabilen Demokratie gesammelt. Man könnte ihnen inzwischen wohl zutrauen, verantwortlich mit einem offeneren und durchlässigeren politischen Institutionengefüge umzugehen.
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Mindestens ebenso wichtig ist eine Presse, die faire Wettbewerbsbedingungen ermöglicht. Rede- und Meinungsfreiheit nützen nämlich nichts, wenn man durch Massenmedien übertönt und/oder ignoriert wird. Man braucht nicht nur Freiheit, sondern auch die Möglichkeit.
Und da sieht es bei unseren Massenmedien schlecht aus – ihre Struktur begünstigt den Aufstieg von angepassten Pro-Establishment-Journalisten. Ein Journalist bei NBC hat das so direkt ins Gesicht gesagt bekommen – er sei nicht genug Pro-Establishment:
http://www.youtube.com/watch?v=5fipy8ChZ6Q
Bedenklich, diese Markeintrittsbarrieren!
Alex