Mario Draghi hat bei seinen einleitenden Worten zur Pressekonferenz am 5. Juni 2014 einen neuen Begriff geprägt, der gute Chancen hat, dauerhaft in das geldpolitische Glossar des Eurosystems einzugehen. Er kündigte die baldige Durchführung von „gezielten längerfristigen Refinanzierungsgeschäften“ (GLRGs) bzw. von „Targeted longer-term refinancing operations (TLTROs) an und offerierte, den Geschäftsbanken in Zukunft zinsgünstige längerfristige Liquiditätshilfen gegen das Versprechen zu gewähren, ihre Kreditvergabe an die privaten Nichtbanken (ohne Wohnungsbaukredite) auszuweiten.
Elemente des aktuellen Maßnahmenbündels
GLRGs sind Teil eines weitreichenden Maßnahmenbündels, das das Eurosystem auf der jüngsten Ratssitzung (einstimmig) beschlossen hat – dessen Einführung sich aber schon länger andeutete (Vollmer, 2013; 2014). Neben der Senkung des Hauptrefinanzierungssatzes um 10 Basispunkte auf 0,15% (und des Spitzenrefinanzierungssatzes um 30 Basispunkte auf 0,40 %) umfasst das aktuelle Maßnahmenbündel im Wesentlichen vier weitere Elemente (Draghi, 2014):
Erstens hat das Eurosystem den Zinssatz für die Einlagefazilität auf minus 0,10 % gesenkt, sodass die Geschäftsbanken im Euro-Währungsraum ab dem 10. Juni 2014 Gebühren bezahlen müssen, wenn sie „über Nacht“ Liquidität bei der Zentralbank hinterlegen. Negative Einlagenzinsen hatte bislang allein die Dänische Notenbank verlangt, ist davon aber inzwischen wieder abgerückt. Um eine Ausweichen der Geschäftsbanken auf andere Konten beim Eurosystem zu verhindern, verlangt die EZB jetzt Strafzinsen in gleicher Höhe auch auf Überschussreserven, die über das Mindestreservesoll hinausgehen (sowie auf andere Einlagen beim Eurosystem), sodass den Geschäftsbanken nur noch die Bargeldhaltung bleibt, um risikolos Liquidität zu horten.
Zweitens hat das Eurosystem – wie erwähnt – die Durchführung einer Reihe von GLRGs angekündigt, die alle eine Laufzeit bis zum 30. September 2018 aufweisen. Die ersten beiden Geschäfte sollen im September und Dezember 2014 im Volumen von ca. 400 Mrd. Euro durchgeführt werden. Sie berechtigen Geschäftsbanken im Euro-Währungsgebiet, beim Eurosystem zinsgünstige Kredite im Volumen von maximal 7% ihrer Kreditforderungen gegenüber dem privaten Nichtbankensektor (außer Wohnungsbaukrediten) – ermittelt zum Stichtag 30. April 2014 – aufzunehmen. Der Zinssatz für die GLRGs bemisst sich nach dem bei ihrer Durchführung geltenden Zinssatz für Hauptrefinanzierungsgeschäfte plus einen Aufschlag von 10 Basispunkten. Zinsen werden nachträglich gezahlt, also bei Tilgung des GLRGs. Damit erhalten die Geschäftsbanken Zugang zu einer längerfristigen Refinanzierungsquelle zu niedrigen Zinssätzen.
Im Anschluss an die ersten beiden GLRGs beabsichtigt das Eurosystem, zwischen März 2015 und Juni 2016 vierteljährlich sechs weitere GLRGs abzuwickeln, deren Höhe ebenfalls an die Kreditvergabe der Banken an den privaten Nichtbankensektor gekoppelt ist und für die ebenfalls Zinsen in Höhe des Hauptrefinanzierungssatzes (plus 10 Basispunkte) gezahlt werden müssen. Im Rahmen dieser GLRGs können die Geschäftspartner vom Eurosystem weitere Liquidität in Höhe des dreifachen ihrer über einen Referenzwert hinausgehenden Nettokreditvergabe an den privaten Nichtbankensektor (ohne Wohnungsbaukredite) erhalten. Nimmt eine Geschäftsbank solch einen längerfristigen Refinanzierungskredit in Anspruch und reduziert sie anschließend ihre Kreditvergabe an den privaten Nichtbanksektor unter den Referenzwert, muss sie die aufgenommenen Mittel vorzeitig (im September 2016) wieder an das Eurosystem zurückzahlen (Europäische Zentralbank, 2014).
Drittens kündigte die EZB an, den Mengentender mit Vollzuteilung, der seit Oktober 2008 im Hauptrefinanzierungsgeschäft angewendet wird, bis Dezember 2016 fortzusetzen; zugleich wird das Eurosystem seine Schlüsselzinssätze vorerst nicht wieder anheben. Dies impliziert eine Ausweitung der von der EZB im Sommer 2013 begonnenen Politik der „Forward guidance“, deren „„odysseisches Element“ gestärkt wird. Damit verpflichtet sich das Eurosystem, die von den Geschäftsbanken zu zahlenden Zinsen für Zentralbankkredite bis Ende 2016 auf dem aktuell niedrigen Niveau zu belassen.
Schließlich hat das Eurosystem mitgeteilt, dass es in Zukunft darauf verzichten wird, die Liquiditätszufuhr infolge des Wertpapierankaufprogramms (Securities Markets Programme, SMP) durch Feinsteuerungsoperationen zu sterilisieren. Darüber hinaus will sie den Ankauf von „asset backed securities“ (ABS) wieder aufnehmen und leitet dazu derzeit vorbereitende Maßnahmen ein.
Gründe für die erneute geldpolitische Lockerung
Begründet wird die erneute geldpolitische Lockerung durch den Rückgang der Inflationsrate im Euro-Währungsraum, die im Mai 2014 im Vorjahresvergleich auf 0,5% und damit erheblich unter den mittelfristig angestrebten Wert von (unter, aber nahe bei) 2 % gesunken ist. Dennoch sind nach Auffassung der EZB die Inflationserwartungen der Marktteilnehmer in Europa, wie sie sich direkt aus Umfragen oder indirekt aus Informationen aus der Zinsstrukturkurve ergeben, mittelfristig weiterhin bei 2 % verankert. Deshalb sieht das Eurosystem derzeit noch keine Anzeichen für eine Deflation im Euro-Währungsraum, verstanden als eine Spirale sich selbst erfüllender Erwartungen sinkender Güterpreise, bei der die private Haushalte ihre Konsumausgaben in Erwartung sinkender Preise aufschieben. Damit dies jedoch auch in Zukunft so bleibt, will die EZB die Inflationsrate wieder an den Zielwert von 2% heranführen und versucht zu diesem Zweck, die Kreditvergabe des Bankensektors an den privaten Nichtbankensektor im Euroraum wieder zu stimulieren. Vor allem die Kreditvergabe der monetären Finanzinstitute an Unternehmen außerhalb des Finanzsektors ist seit einigen Monaten rückläufig, was Ängste vor Auftreten einer Kreditklemme weckt, weil im Euroraum erfahrungsgemäß eine verlangsamte Kreditvergabe der Konjunkturabschwächung voraus läuft.
Mit dem jetzt beschlossenen Maßnahmenpaket reagiert die EZB auf frühere Erfahrungen nach Durchführung der dreijährigen längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte („Dicke Bertha“) im Frühjahr 2012, durch die sie zusätzliche Liquidität im Volumen von ca. 1000 Mrd. Euro in Umlauf gebracht hatte. Anstatt ihre Nettokreditvergabe an den privaten Sektor auszuweiten, nutzten Geschäftsbanken diese zusätzliche Liquidität vor allem zu „carry trades“ und zum Kauf von höher verzinsten Staatsanleihen auf Sekundärmärkten, deren Rückzahlung durch den ESM garantiert wird (Draghi, 2013). Um zu verhindern, dass sich dies wiederholt, kopiert das Eurosystem weitgehend das „Funding for lending“ Programm, das die Bank of England seit August 2012 betreibt (Vollmer, 2014). Zukünftig gewährt die EZB zinsgünstige längerfristige Refinanzierungshilfen nur nach Maßgabe der Kreditgewährung der Geschäftsbanken an private Nichtbanken außerhalb des Finanzsektors und schließt explizit Kredite an den öffentlichen Sektor von der Refinanzierung aus. Ausgenommen sind zudem Wohnungsbaukredite, um eine Blasenbildung auf den Immobilienmärkten zu verhindern. Das Eurosystem folgt damit weitgehend dem Vorbild des „Funding for lending“ Programms, das die Bank of England seit August 2012 betreibt und das ähnlich konstruiert ist (Vollmer, 2014).
Die konkrete Ausgestaltung der jetzt ergriffenen Maßnahmen nährt den Verdacht, dass die Geldpolitik das „Heft des Handelns“ aus den Händen zu verlieren droht und bloßer Reflex einer Fiskalpolitik wird, deren Ziele in Konflikt mit den geldpolitischen Zielen geraten. Weil ESFS und ESM die Rückzahlung von Staatsschuldtitel garantieren, investieren europäische Geschäftsbanken verstärkt in öffentliche Anleihen mit der Folge eines vertrauensinduzierten Crowding-outs privater Kreditnachfrage. Um dies zu verhindern, ist die EZB jetztgezwungen, die Verwendung von Liquiditätshilfen durch die Geschäftsbanken zu kontrollieren und Schritte in Richtung einer Lenkung der Kreditvergabe einzuleiten. Sie akzeptiert damit zugleich einen erheblichen zusätzlichen Kontrollaufwand, wohl auch, weil die EZB im Zuge der Europäischen Bankenunion zukünftig stärker in die Bankenaufsicht einbezogen sein wird.
Gelingt ein Wiederbeleben der geldpolitischen Transmission?
Trotz der aktuell niedrigen Inflationsrate bleiben Zweifel, ob die von der EZB ergriffenen Maßnahmen tatsächlich imstande sind, die Störungen in der geldpolitischen Transmission zu beheben und die nach wie vor schleppende Kreditvergabe an den Nichtbankensektor in Europa zu beleben. Aus Sicht des Eurosystems ist die rückläufige Kreditexpansion vor allem angebotsseitig bedingt und Folge einer zu geringen Bereitschaft der Geschäftsbanken, Kredite an Nichtbanken vor allem in den Peripherieländern auszureichen. Geschäftsbanken investieren ihre Liquidität lieber auf Sekundärmärkten für Staatsanleihen, anstatt in eigentlich rentable private Investitionsvorhaben. Dies vernachlässigt, dass die schleppende Kreditexpansion auch nachfrageseitig bedingt und Folge einer unzureichenden Eigenkapitalausstattung der Kreditnehmer sein kann, die aus Anreizgründen nur dann Zugang zu einer externen Finanzierung erhalten, wenn sie über genügend Eigenmittel verfügen.
Natürlich kann die EZB als Notenbank diese Eigenkapitallücke kreditsuchender Unternehmer nicht schließen, sondern nur die Bedingungen beeinflussen, zu den die Kreditinstitute sich gegenseitig Liquidität zur Verfügung stellen. Allerdings reduziert sie bei Marktzinsen von knapp über null Prozent auch die Anreize für private Haushalte, Eigenkapital zu bilden und die Voraussetzungen für eine komplementäre Fremdfinanzierung zu schaffen. Damit verursacht die jetzt weiter verschärfte Niedrigzinspolitik erhebliche Kollateralschäden, die langfristig die geldpolitische Transmission über Geschäftsbanken beschädigen.
Bedenken gegenüber der geldpolitischen Wirksamkeit der GLRGs resultieren auch daraus, dass die EZB bei derzeitiger Ausgestaltung des Instruments ein Risikoelement für die Geschäftsbanken eingeführt hat. Wie ausgeführt, müssen die Geschäftsbanken die im Zuge der GLRGs aufgenommene Liquidität vorzeitig zurückbezahlen, sofern ihre Kreditausreichungen an die privaten Nichtbanken zwischen dem 1. Mai 2014 und dem 30. April 2016 unter den von der EZB festgelegten Referenzwert absinken. Ob dies der Fall ist, wissen die Geschäftsbanken bei Inanspruchnahme eines GLRGs jedoch noch nicht, sodass ihr Verhalten auch davon abhängen wird, wie sie selbst die Entwicklung der Kreditvergabe einschätzen.
Es sei noch darauf hingewiesen, dass die EZB mit den aktuellen geldpolitischen Beschlüssen Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit schafft, wenn sie ankündigt, in Zukunft darauf zu verzichten, die Liquiditätszufuhr aus dem SMP durch Feinsteuerungsoperationen zu sterilisieren. Ursprünglich war diese Sterilisation fester Bestandteil des Programms, wie auf der Website des Eurosystems nachzulesen ist. Solch ein Versprechen besteht auch in Bezug auf das derzeit zur Entscheidung beim EuGH liegende OMT-Programm. Auch wenn es sich dabei um ein anderes Programm als das SMP handelt, wie Mario Draghi (2014) betont, scheinen jetzt Zweifel angebracht, ob es tatsächlich zu solch einer Sterilisierung kommen wird, wenn das Programm umgesetzt wird.
Fazit
Damit verbleiben Bedenken, ob die jetzt ergriffenen Maßnahmen tatsächlich geeignet sind, die Inflationsrate mittelfristig bei 2% zu stabilisieren. Obwohl es nicht Aufgabe des Eurosystems ist, hohe Ertragssätze für private Ersparnisse zu garantieren, könnten die von den aktuellen Zinsen ausgehenden Anreize auf die Ersparnis- und Eigenkapitalbildung advers für das reibungslose Funktionieren der geldpolitischen Transmission sein. Es ist deshalb zu erwarten, dass das Eurosystem sehr bald neue Maßnahmen verkündet und nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Ankauf von Wertpapieren am offenen Markt im Rahmen des OMT Programms beginnt.
Literatur
Draghi, M. (2013): Introductory Statement to the Press Conference (with Q & A), Frankfurt am Main, 5. December 2013.
Draghi, M. (2014): Introductory Statement to the Press Conference (with Q & A), Frankfurt am Main, 5. June 2014.
Europäische Zentralbank (2014): EZB kündigt geldpolitische Maßnahmen zur Verbesserung des Funktionierens des geldpolitischen Transmissionsmechanismus an, Pressemitteilung vom 5. Juni 2014, Frankfurt am Main.
Vollmer, U. (2013): “˜Life Below Zero’ – Wie sinnvoll sind Negativzinsen der EZB?, In: Wirtschaftliche Freiheit, 28. November 2013, http://wirtschaftlichefreiheit.de/ wordpress/?p=13846
Vollmer, U. (2014): Zweckgebundene Zentralbankkredite durch das Eurosystem?, In: Wirtschaftliche Freiheit, 14. Februar  2014, http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress /?p=14405
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Anscheinend verschwindet der Wald vor lauter Bäumen, denn richtigerweise wird die angebotsorientierte Sichtweise der EZB kritisiert, indem die Nachfrageschwäche angesprochen wird. Dieser – zentrale – Punkt bleibt aber ergebnisoffen im Raum stehen, denn alle geldpolitischen Aktionen werden allein mMn keinen Wachstumseffekt herbeizaubern. Gleichzeitig halte ich die erwähnten „Kollateralschäden“ für widersprüchlich: entweder die „Eigenkapitalausstattung“ ist vorhanden, dann bedarf es zzt. keiner Kreditaufnahme (wo will man denn bei stagnierender oder gar sinkender Nachfrage investieren) oder sie ist nicht da, dann ist die Fremdfinanzierung -jedenfalls bei regulär arbeitenden Geschäftsbanken – ohnehin verbaut.
Die Frage ist doch, ob diese Analyse schon grundsätzlich verdammenswerter Keynesianismus ist, oder ob ein sinnvolles Wirtschaftspolitisches (also investitions-, arbeits- und sozialpolitisches) Programm in kurzer Zeit die Nachfrageschwäche beheben kann. Dann bliebe zumindest abzuwarten, ob die Transmission wieder greift…
Was man mit Niedrigzinsen ankurbelt ist Konsum, sei er staatlich oder privat.
Wenn der Zinssatz für Investition als (Re)Finanzierungssatz gleichzeitig der max. Renditesatz eines mit hohem Eigenkapital arbeitenden Unternehmens ist, schädigen niedrige Zinsen gesunde Unternehmen, weil das Ziel Eigentum sein muss, kein unendlicher Kapitalhebel. Dauerhaft kann kein nicht marktbeherrschendes Unternehmen die Leitzinsen schlagen.
Der Zug ist leider abgefahren, die Kapitalhebel (KMU) müssen in der anstehenden Deflation brechen.
@Moxy
Intervention=Subvention, wen fördern? wen fallen lassen? Verzerrung ist alles, was Politik kann. Schräge Beispiele sind Landwirtschaft, Schwerindustrie, Bergbau, Automobilwirtschaft, Luftfahrt, Gesundheitsdienste, Bauwirtschaft…direkt oder indirekt, alles krank oder unterbezahlt.