Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise haben die 28 Mitgliedsstaaten der EU am Dienstag, den 29. Juli 2014, Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland beschlossen. Zu den Maßnahmen, die zwei Tage später in Kraft traten, gehören:
- Ein erschwerter Zugang russischer Banken zu den EU-Finanzmärkten. Danach dürfen EU-Einwohner und -Unternehmen (insbesondere Finanzdienstleister) in Zukunft keine neuen Aktien, Anleihen oder ähnliche Finanzinstrumente mit Laufzeiten von mehr als 90 Tagen von solchen russischen Banken kaufen oder an diese verkaufen, die zu mehr als 50 Prozent vom Staat kontrolliert werden. Die Beschränkungen gelten sowohl für den Primär- als auch für den Sekundärmarkt. Ziel dieser Maßnahme ist es, den Staatsbanken die Finanzierung der russischen Wirtschaft zu erschweren und Investoren von einem Engagement in Russland abzuhalten.
- Ein eingeschränkter Zugang Russlands zu europäischen Spitzentechnologien im Energiebereich, deren Export an die Vergabe von Lizenzen geknüpft wird. Dies betrifft insbesondere die Förderung von Erdöl aus der Tiefsee und in der Arktis sowie die Exploration von Schieferöl. Betroffen davon sind allerdings nur Neugeschäfte, während bestehende Verträge noch erfüllt werden können. Gänzlich ausgenommen von diesen Regellungen ist hingegen die Gasförderung – wohl aufgrund der starken europäischen Abhängigkeit in diesem Bereich.
- Â Ein Embargo für den Waffenhandel mit Russland. Hierunter fällt auch ein Exportverbot für sogenannte Dual-Use-Produkte, die sowohl militärisch als auch zivil nutzbar sind.
Die Sanktionen gelten (zunächst) für ein Jahr, sollen allerdings nach drei Monaten erstmals überprüft werden. Die von Seiten der EU ergriffenen Sanktionen treffen allerdings nicht nur Russland, sondern auch Produzenten in Europa und damit auch in Deutschland. Dabei sind es die Maßnahmen zwei und drei, die gravierende Konsequenzen für den deutschen Maschinen- und Anlagenbau – der einen erheblichen Anteil des deutschen Exports nach Russland ausmacht – haben könnten. In Abhängigkeit von der Dauer der Sanktionen wird auch ein erheblicher Arbeitsplatzverlust in diesem Bereich nicht ausgeschlossen.[1]
Nachdem zunächst Vergeltungsmaßnahmen in Form höherer Energiepreise für Verbraucher in Europa angedroht wurden, erklärte der russische Ministerpräsident Medwedjew am Donnerstag, den 8. August 2014, einen sofortigen Importstopp für Lebensmittel und Agrarprodukte aus der EU, den USA, Kanada, Australien und Norwegen. Mit Ausnahme von Kindernahrung betrifft der Boykott Rind- und Schweinefleisch(produkte), Geflügel, Fisch, Milch und Käse sowie Gemüse und Früchte. Obgleich diese Sanktionen offiziell mit einer Stärkung der heimischen Wirtschaft (Importsubstitution) und mit gesundheitlichen Gefahren begründet werden, drängt sich gleichwohl der Eindruck auf, dass die Auswahl der sanktionierten Bereiche bewusst solche Güter betrifft, die sich vermeintlich einfach durch Importe aus alternativen Lieferländern ersetzen lassen und damit die russischen Verbraucher vergleichsweise wenig beeinträchtigen.
Nichtsdestotrotz werden die Gegenmaßnahmen sowohl in der EU als auch in Russland zu Wirkungen führen, die die einzelnen Mitgliedstaaten der EU – wie Übersicht 1 veranschaulicht – allerdings unterschiedlich hart treffen. Von den Gesamtexporten an Nahrungsmitteln [SITC-Klasse 0][2] der 28 EU-Länder nach Russland in Höhe von rund 8,8 Milliarden Euro im Jahr 2013 entfallen 15,6 Prozent auf Litauen, 14,2 Prozent auf Polen, 11,9 Prozent auf die Niederlande und 11 Prozent auf Deutschland. Bei Fleisch(-produkten) [SITC-Klasse 01] sind Polen und Litauen die beiden führenden Exportnationen, gefolgt von Deutschland. Ähnlich sieht es bei Gemüse und Früchten [SITC-Klasse 05] aus, die zu rund 50 Prozent von Litauen und Polen bereitgestellt werden. Es folgen Spanien und die Niederlande mit zusammen etwa 25 Prozent[3].
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Betrachtet man die kurzfristigen Wirkungen in der EU, so sind in erster Linie die zuvor genannten Länder betroffen. Wie bereits vom sogenannten „Schweinezyklus“ bekannt, kann man davon ausgehen, dass das landwirtschaftliche Angebot kurzfristig nicht angepasst werden kann – insbesondere zur Erntezeit oder nach erfolgter Mast-Entscheidung. Kommt es Boykott-bedingt zu einem höheren Angebot in der EU, so würde diese Entwicklung unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zu sinkenden Preisen der betroffenen Güter und damit zu Einnahmeausfällen bei den Landwirten bei gleichzeitigen Vorteilen für die Konsumenten führen. Da allerdings seit Jahrzehnten die Produzenteninteressen im Mittelpunkt der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik stehen, ließ auch in diesem Fall die Reaktion aus Brüssel nicht lange auf sich warten: Landwirte, die ihre reifen Früchte nicht ernten (= vernichten) oder an Bedürftige verschenken, erhalten eine Kompensation für den so entstandenen Einnahmeausfall. Eine ähnliche Regelung wird man sicherlich auch für Fleischproduzenten finden. Ob es hingegen mittel- und längerfristig gelingt, neue Absatzmärkte für die europäischen Agrarprodukte zu erschließen oder die Produktion (nach unten) anzupassen, erscheint fraglich. Dies ist zum einen abhängig von der (erwarteten) Dauer der Sanktionen und zum anderen von der politischen Reaktion.
In Russland werden die ergriffenen Maßnahmen hingegen kurzfristig zu einem Angebotsrückgang führen und damit insbesondere die Konsumenten treffen. Die Abhängigkeit[4] Russlands von EU-Exporten variiert dabei erheblich: So betrug sie 2013 zum Beispiel bei Pfirsichen und Nektarinen 78 Prozent, bei Blumenkohl und Brokkoli sogar 93 Prozent, bei Äpfeln 62 Prozent, bei Birnen 53 Prozent, bei Tomaten 26 Prozent, bei Käse 29 Prozent und bei Butter 10 Prozent. Mit steigender Abhängigkeit würde es unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zu einem immer stärkeren Preisdruck bei den betroffenen Produkten kommen. Doch genau das soll in Russland verhindert werden. Vor dem Hintergrund einer Inflationsrate von etwa 7,5 Prozent und überdurchschnittlichen Preissteigerungen bei Fleisch gegenüber dem Vorjahr sind die Gefahren unübersehbar. Untersagt man allerdings Preissteigerungen, so bleibt das Marktungleichgewicht erhalten und kommt in Nichtverfügbarkeit, Warteschlangen oder Schwarzmärkten zum Ausdruck. Mittel- und längerfristig erhoffte inländische Produktionssteigerungen  stellen die russische Landwirtschaft allerdings vor große Herausforderungen. Nachdem die zuvor staatlichen Betriebe und landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften Anfang der 1990er Jahre privatisiert wurden, ist es vielen von ihnen (bisher) nicht gelungen, eine international wettbewerbsfähige Produktion aufzubauen. Gründe dafür mögen auf der einen Seite ein Mangel an Managementfähigkeiten und Kapital sein. Auf der anderen Seite führen aber auch immer noch hohe Einfuhrzölle auf Landwirtschaftstechnik zu dieser Situation. Seit längerem schon gibt es daher in Russland Bestrebungen, im Agrarbereich einen höheren Grad der Selbstversorgung bis hin zur Autarkie zu erzielen. Aus diesem Grunde haben russische Behörden immer wieder – mit Verweis auf vermeintlich gesundheitliche Gefahren – landwirtschaftliche Importe beschränkt. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist das Importverbot für Schweinefleisch aus der EU, das Ende Januar 2014 – unter Berufung auf das Auftreten der Afrikanischen Schweinepest in der EU[5] – verhängt wurde. Neben der auf diese Weise künstlich erzeugten Nachfrage werden die Produktionsentscheidungen der russischen Bauern aber auch nicht unerheblich von der (erwarteten) Dauer der Sanktionen abhängen.
Eine Alternative oder Ergänzung zur Importsubstitution durch heimische Anbieter stellt möglicherweise der Import aus Drittländern dar. Hier sind es insbesondere (Schwellen-)Länder aus Asien und Südamerika, die ihre Chance wittern, längerfristig auf dem russischen Markt Fuß zu fassen. So bekunden etwa Argentinien und Brasilien, ihre Rindfleischexporte nach Russland ausweiten zu wollen. Chile und Uruguay bieten verstärkt Fisch, Früchte und Gemüse an und bei Fischlieferungen aus Peru, die bisher aus gesundheitlichen Gründen nicht zugelassen waren, wurden die bestehenden Beschränkungen kurzfristig aufgehoben. Aus der Türkei erwartet man größere Lieferungen von Obst und Gemüse. Die (Neu-)Ausrichtung des internationalen Handels dieser Länder ist jedoch nicht ohne Risiken. Auf der einen Seite zeigt das Beispiel Peru, wie sprunghaft die Handelspolitik Russlands sein kann, und auf der anderen Seite stellt man sich damit offenkundig gegen die Interessen von Handelspartnern (EU, USA), mit denen man über regionale Freihandelsabkommen verhandelt oder verhandeln will (Mercosur, Türkei). In dem Maße, wie die Handelsumlenkung allerdings gelingt, hält dies aber möglicherweise die nationalen Produzenten davon ab, ihre eigene Produktion auszuweiten.
Ein spezifisches Problem bei der Kontrolle des Importverbots stellt die Zollunion Russlands mit Weißrussland und Kasachstan dar. Da zwischen den drei Mitgliedsländern keine Grenzkontrollen durchgeführt werden, Weißrussland und Kasachstan jedoch das Importverbot selbst nicht übernommen haben, besteht die Gefahr von Umwegeinfuhren über diese Länder nach Russland. Hierdurch könnten die Sanktionsmaßnahmen unterlaufen werden. Weißrussland und Kasachstan haben jedoch eine genaue Ursprungsprüfung beim Transithandel mit betroffenen Produkten zugesagt, so dass diese russische Sorge unbegründet erscheint.
Betrachtet man vor diesem Hintergrund noch einmal die Situation in Deutschland, so wird die Wirkung auf die Landwirtschaft überschaubar bleiben. Je stärker andere Mitgliedsländer jedoch von den Sanktionen getroffen werden, kann es zu negativen Rückwirkungen auf die deutschen Exporte in anderen Handelsbereichen und damit auf die konjunkturelle Entwicklung kommen. Die Wirkungen sind dabei abhängig von den Kompensationszahlungen der EU und der Dauer der Sanktionen.
Weit stärker würde die deutsche Wirtschaft allerdings getroffen, wenn – im Rahmen einer weiteren Eskalation des Konflikts – Sanktionen gegenüber der europäischen Automobilindustrie oder Lieferbeschränkungen im Energiebereich eingeführt würden. Von den europäischen Automobilexporten [SITC-Klasse 78] nach Russland entfällt der weit überwiegende Teil – wie Übersicht 1 zeigt – mit knapp 45 Prozent auf Deutschland, mit weitem Abstand gefolgt von der Slowakei mit 10,6 Prozent, Tschechien mit 8,3 Prozent und Großbritannien mit 7,3 Prozent. Neben den Fahrzeugexporten produzieren die europäischen Automobilhersteller aber in nicht unerheblichem Umfang in Russland selbst. Der Grund hierfür ist das sogenannte „Dekret 166“. Es besagt, dass nur solche Anbieter in den Genuss reduzierter Zollsätze gelangen, die ab dem Jahre 2016 mindestens 300.000 Autos in Russland produzieren und darüber hinaus gewisse „Local-Content-Auflagen“ erfüllen. Aus russischer Sicht problematisch ist allerdings, dass immer noch ein erheblicher Teil der Komponenten aus dem Ausland importiert wird. Würde man neben dem Import fertiger Automobile auch den Import entsprechender Komponenten für die Produktion in Russland beschränken, so hätte dies zweifelsfrei unerwünschte Beschäftigungseffekte im Inland zur Folge. Beschränkte man sich hingegen auf Sanktionen gegenüber den in der EU gefertigten Automobilen, so bliebe ein (Rest-)Angebot in Russland erhalten. Kosten für die deutschen Exporteure könnten sich allerdings alleine dadurch ergeben, dass eine weitere Eskalation des Konflikts die notwendigen Investitionen in Russland verzögert oder verhindert, so dass die administrativen Auflagen nicht eingehalten werden können und daher höhere Zollsätze zur Anwendung kommen.
Die gravierendste Vergeltungsmaßnahme von Seiten Russlands würden aber sicherlich Lieferbeschränkungen bei Erdöl oder Erdgas darstellen. In beiden Fällen lag der Lieferanteil Russlands während der letzten Jahre zwischen 36 und 40 Prozent. Diese Anteile könnten sicherlich kurzfristig nicht durch Drittlandangebote kompensiert werden und hätten erhebliche Preissteigerungen in Deutschland und Europa zur Folge. Dies hätte aus der Sicht Russlands aber auch den Nachteil, dass notwendige Deviseneinnahmen zur Finanzierung des Staatshaushalts ausfallen würden. Daher erscheint es wahrscheinlicher, dass Russland bei möglichen Sanktionen im Energiebereich „nur“ mit Preissteigerungen agieren wird, da dies die deutschen und europäischen Nachfrager zwar empfindlich trifft, zugleich aber bei der kurzfristig wohl sehr niedrigen Preiselastizität der Nachfrage die Deviseneinnahmen sogar steigen würden.
Ob die EU ein förmliches Verfahren gegen die (neuen) russischen Maßnahmen im Agrarbereich bei der Welthandelsorganisation (WTO), dessen Vollmitglied Russland seit etwa zwei Jahren ist, einleiten wird, wurde bislang noch nicht entschieden. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass solche Verfahren – etwa über das Streitschlichtungsorgan der WTO – mühselig und ökonomisch kostspielig sind. Selbst wenn die russischen Maßnahmen als nicht gerechtfertigt angesehen würden, stellte sich die Frage nach den Konsequenzen. Da sich eine WTO-Entscheidung im Sinne einer Marktöffnung gegenüber Russland kaum durchsetzen ließe, bliebe wohl nur der Griff zu (legitimierten) weiteren Sanktionsmaßnahmen von Seiten der EU. Hierdurch würde allerdings der Handelskrieg immer weiter ausgeweitet und eine kostspielige Protektionismusspirale könnte sich in Gang setzen. In einem solchen Umfeld könnte ein außenhandelsabhängiges Land wie Deutschland, das grundsätzlich an freien Märkten interessiert ist, erhebliche ökonomische Verluste erleiden.
Fußnoten
[2] SITC = Standard International Trade Classification. Eine deutschsprachige Erläuterung der Klassen findet sich unter:  https://www.destatis.de/DE/Methoden/Klassifikationen/Aussenhandel/DeutscheFassungSITC.pdf?__blob=publicationFile Zuletzt abgerufen am 2. 9. 2014.
[3] Die hier berechneten Anteile beziehen sich auf Mai 2014.
[4] Vgl. EU-Hilfen für Obst- und Gemüsebauern, FAZ, 19. August 2014, S. 15.
[5] Anfang April 2014 hat die EU eine Klage gegen diese Maßnahme bei der Welthandelsorganisation (WTO) eingereicht. Vgl. etwa: http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/schweinepest-eu-verklagt-russland-wegen-importverbot-a-963221.html  Zuletzt abgerufen am 2. 9. 2014.
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