Sezession ist eine Form der politischen Dezentralisierung. Sie stärkt den wirtschaftspolitischen Wettbewerb und dadurch die wirtschaftliche Freiheit.
Die folgenden europäischen Staaten verdanken ihre Existenz einer Sezession:
die Schweiz (1291), Schweden (1523), die Niederlande (1579), Portugal (1640), Griechenland (1827), Belgien (1831), Norwegen (1905), Finnland (1917), Irland (1921), Island (1944), die baltischen Staaten (1990), Slowenien (1991), Kroatien (1991), Mazedonien (1991), Bosnien-Herzegowina (1992), die Slowakei (1992) und Montenegro (2006).
Keine dieser Sezessionen – außer der norwegischen – war verfassungsgemäß. Auch die Unabhängigkeitserklärung des slowakischen Parlaments vom Juli 1992 hatte keinerlei Rechtsgrundlage in der Verfassung der Tschechoslowakei – die Sezession wurde erst nachträglich im November 1992 legalisiert.
Den Katalanen wird entgegen gehalten, dass sich die spanische Verfassung nach Art. 2 „auf die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier, gründet“. Dieser Artikel geht auf Art. 2 der Verfassung (des „Staatsorganisationsgesetzes“) des Franco-Regimes zurück. Ähnliche Bestimmungen gibt es jedoch auch in der französischen und der italienischen Verfassung. Nach Art. 2 der französischen Verfassung ist Frankreich „eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik“. Art. 5 der italienischen Verfassung schreibt vor: „Die Republik ist eine Einheit und unteilbar“. Die Katalanen berufen sich auf die „International Covenant on Civil and Political Rights“, die Spanien 1977 ratifiziert hat und nach der „all peoples have the right of self-determination“ (Art. 1.1).
Anders als das slowakische Parlament will das katalanische Parlament die Bürger über die Unabhängigkeit abstimmen lassen. Nach Art. 149 Abs. 1 Nr. 32 der spanischen Verfassung besitzt jedoch der spanische Staat die ausschließliche Zuständigkeit für die Genehmigung von Volksabstimmungen. Deshalb hat das katalanische Parlament lediglich – mit etwa 80 Prozent der Stimmen – eine „unverbindliche Konsultation“ der Bürger für den 09. November dieses Jahres anberaumt. Das spanische Verfassungsgericht hat diese Konsultation auf Antrag der spanischen Regierung vorläufig untersagt. Das unterscheidet Spanien zum Beispiel von der Schweiz, Kanada und Großbritannien: über die Unabhängigkeit des Kanton Jura (1979), Quebecs (1995) und Schottlands (2014) durften die Bürger frei abstimmen. Der kanadische Supreme Court hat sogar 1998 ausdrücklich festgestellt, dass jede Provinz das Recht hat, solche Abstimmungen durchzuführen.
In der politischen Philosophie gilt ein Staat dann als legitimiert, wenn er als Ergebnis eines von allen Bürgern freiwillig geschlossenen Gesellschaftsvertrags gedacht werden kann. Es ist ein allgemeines Rechtsprinzip, dass jeder Vertrag gekündigt werden kann, auch wenn die Formalitäten der Auflösung nicht spezifiziert worden sind. Es gibt keine unkündbaren Verträge. Auch darauf können sich die Katalanen berufen.
Eigentlich müsste das Sezessionsrecht von den internationalen Organisationen geschützt werden. Sie erheben den Anspruch, die Einhaltung der Menschenrechte in den Mitgliedstaaten zu überwachen. Das internationale Regelwerk könnte zur Bedingung machen, dass auch der sezedierende Teilstaat die Rechte von Minderheiten respektieren muss und den Handel und Kapitalverkehr nicht (zusätzlich) beschränken darf. Auch könnte festgelegt werden, wie die Rechte und Pflichten des Vorgängerstaates nach der Sezession zwischen dem sezedierenden Teilstaat und dem Rumpfstaat zu verteilen sind.
Aber weder die Vereinten Nationen noch die Europäische Union erkennen ein Recht auf Sezession an. In der UNO ist es meist so, dass der sezedierende Teilstaat seine Mitgliedschaft verliert und einen neuen Aufnahmeantrag stellen muss. In Europa haben die Kommissionspräsidenten Prodi, Barroso und Juncker, die Justizkommissarin Reding, die Kommissare Almunia und Rehn und Ratspräsident van Rompuy behauptet, dass dieses Verfahren auch in der Europäischen Union gelten müsse. Weder die Kommission noch der Ratspräsident sind jedoch befugt, diese Frage zu entscheiden. Ihre Rechtsauffassung hat auch keinerlei Grundlage in den europäischen Verträgen. Es gibt auch keinen europäischen Präzedenzfall. Die Katalanen können sich sogar darauf berufen, dass sie nach dem Vertrag von Lissabon Bürger der Europäischen Union sind und dieses Bürgerrecht nicht durch eine Abspaltung von Spanien verlieren können. Ein automatischer Ausschluss aus der EU würde außerdem dem vertraglich geschuldeten Respekt vor der Demokratie, den Regionen, der kulturellen und sprachlichen Vielfalt und den Rechten von Minderheiten zuwiderlaufen. Schließlich hat selbst ein Mitgliedstaat, der – wie vielleicht Großbritannien – seinen Austritt ankündigt, das Recht, bevor er ausscheidet, Verhandlungen über die Modalitäten zu führen (Art. 50 EUV).
Ob der sezedierende Teilstaat aufhört, Mitglied der internationalen Organisation zu sein und die Mitgliedschaft neu beantragen muss, ist in keiner UN-Vereinbarung und auch nicht in der Wiener Vertragskonvention zur Staatennachfolge (vgl. Art. 4) geregelt. Es gibt nur eine internationale Praxis, und diese ist keineswegs einheitlich.
Die UNO hat nicht immer von der ausscheidenden Region einen neuen Mitgliedsantrag verlangt. Als sich Syrien 1961 von der Vereinigten Arabischen Republik (der Union mit Ägypten) abspaltete, wurde es automatisch – ohne Antrag – als Mitglied aufgenommen. Auf der anderen Seite gibt es auch einen Fall – die Auflösung Jugoslawiens –, in dem die UNO weder die ausscheidenden Regionen noch den Rumpfstaat (Serbien-Montenegro) automatisch als Mitglieder anerkannte.
Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank haben die jugoslawischen Teilstaaten sowie die Slowakei und die Tschechische Republik unter bestimmten Bedingungen weiter als Mitglieder geführt.
Die World Meteorological Organization (WMO), die Universal Postal Union (UPU) und die International Atomic Energy Organization (IAEO) taten dies ohne explizite Bedingungen.
Auch der World Intellectual Property Organization (WIPO) genügte es, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien, Kasachstan, Kyrgisistan, Moldova, Tajikistan, Turkmenistan und Usbekistan einfach die Fortdauer ihrer Mitgliedschaft bestätigten.
Geht man von der Theorie des Gesellschaftsvertrages aus, so gibt es im Falle einer Sezession oder einvernehmlichen Trennung – was die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen und generell die völkerrechtlichen Verpflichtungen angeht – zwei alternative, in sich konsistente Lösungen. Entweder es tritt keiner der verbleibenden Teilstaaten die Nachfolge an, weil das Staatsvolk der einzelnen Teilstaaten nicht mit dem Staatsvolk des ursprünglichen Gesamtstaats identisch ist. Das ist die puristische Lösung. Oder aber alle Teilstaaten treten in die Rechtsnachfolge ein, weil dies der Rechtssicherheit dient. Das war der Grundgedanke der Wiener Konvention für die Staatennachfolge. Es steht ja jedem Teilstaat frei, die völkerrechtlichen Verträge des Gesamtstaats später zu kündigen. Die Praxis der UNO, meist nur einen der Teilstaaten – in der Regel den größten – automatisch als Rechtsnachfolger anzuerkennen, ist rechtlich unbefriedigend und wohl nur damit zu erklären, dass die Regierungen der UN-Mitgliedstaaten in ihrem eigenen Land ebenfalls die Mehrheit vertreten. Aus dem gleichen Grund tritt die UNO nicht für das Sezessionsrecht ein. Wenn im Interesse der Rechtssicherheit und im Geiste der Wiener Vertragsrechtskonvention automatisch alle Teilstaaten die Rechtsnachfolge antreten, müssen sie die bestehenden gesamtstaatlichen Verbindlichkeiten und Forderungen untereinander aufteilen. Wie sie das tun, ist ihre Sache. Wenn sie ihre Verpflichtungen gegenüber Dritten nicht honorieren, können sie ausgeschlossen oder einem Vertragsverletzungsverfahren unterworfen werden.
Die europäischen Institutionen tun alles, um Sezessionen zu verhindern, denn Dezentralisierung widerspricht ihrem Selbstverständnis. Die einzelnen Mitgliedstaaten sind zumeist gegenüber dem Sezessionsrecht aufgeschlossener, denn sie könnten sich selbst einmal darauf berufen wollen. Einige von ihnen haben allerdings selbst Regionen, die nach Unabhängigkeit streben – man denke an Flandern, Südtirol und Korsika. Von diesen Mitgliedstaaten haben die Katalanen nicht Unterstützung, sondern Widerstand zu erwarten.
Die heutigen Staaten Europas sind das Ergebnis von Jahrhunderten und Jahrtausenden der Willkür und der Gewalt. Die Zufälligkeiten der dynastischen Erbfolge und brutale Eroberungskriege haben die meisten ihrer Grenzen bestimmt. Das Sezessionsrecht ist notwendig, damit sich endlich politische Einheiten bilden können, die den Wünschen der Bürger entsprechen.
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Jan Schnellenbach: Schottland, Großbritannien und die EU. Eine schwierige Konstellation aus politisch-ökonomischer Sicht
Norbert Berthold: Der Wunsch nach einem eigenen Staat. Ist Schottland bald überall?
Tim Krieger: Das Schottland-Referendum. Eine Herausforderung für die Autokratien und Demokratien dieser Welt.
Nach einer solchen (völkerrechtlichen) Analyse des Strebens des katalanischen Volkes nach Selbstbestimmung habe ich lange gesucht.
… und jetzt gefunden 🙂 Vielen Dank.