65 plus (2)
Lebensarbeitszeit und das doppelte Umlagesystem

Bereits als ich vor einem Vierteljahrhundert mit den Arbeiten zu meiner Dissertation begann, waren die Probleme des demographischen Wandels absehbar. Fundierte Projektionen zeigten, dass das Verhältnis von Arbeitsmarktzu- und -abgängen ungefähr 2010 einen stabilen Pfad verlassen, ungefähr ab 2020 die Beschleunigung dieses Prozesses nicht mehr mit „normalen“ Mitteln zu kompensieren sein und spätestens 2030 für viele Jahre der demographische Albtraum Wirklichkeit werden würde.

Nun leben wir also in der ersten Eruptionsphase des Demographievulkans und fragen uns, wie die Schäden einigermaßen unter Kontrolle zu halten sind. Die trotz euphemistischer Beschwörungsformeln (Norbert Blüms „Die Rente ist sicher!“ galt unter Experten schon im letzten Jahrhundert als Angriff auf die geistige Volksgesundheit) als erste angegangene Großreparatur betraf die Rentenversicherung. Hier wie auch in anderen Bereichen der Sozialversicherung führt ein Umlagesystem dazu, dass in der aktuellen Periode jüngere Versicherte gemessen an den erhaltenen Leistungen mehr und ältere weniger Beiträge bezahlen müssen. Es gibt keine klassische Kapitaldeckung bzw. ökonomisch formuliert ist das im aktiven Versichertenpool gebundene Humankapital die Deckungsmasse für alle Leistungen und damit auch für „Überleistungen“ an ältere Versicherte. Die müssen natürlich deshalb kein schlechtes Gewissen haben, denn sie haben ja auch in jüngeren Jahren „überbezahlt“. Nur die älteren Arbeitnehmer in der Nachkriegszeit mussten keine solchen unfreiwilligen Investitionen machen; sie waren aber durch andere Lasten beschwert und können jedenfalls heute nichts mehr zur Lösung des Problems beitragen.

Die seither in vielen Reformanläufen bis hin zur berühmten Rürup-Kommission gefundenen Lösungen drehten an allen Systemschrauben für das Rentenproblem: Zumindest zeitweilig höhere Beiträge, niedrigere Leistungen, früherer Eintritt in den und späterer Austritt aus dem Arbeitsmarkt.

Mit dem letztgenannten Punkt kommen wir nun zu einem im Gegensatz zur Rentenversicherung kaum adressierten, aber analog gelagerten Problem. Auch in den meisten Bereichen abhängiger Beschäftigung existiert ein Umlagesystem ohne Kapitaldeckung: die Senioritätsentlohnung. Prägnant formuliert liegt die Entlohnung von Arbeitnehmern im Laufe von Beschäftigungsverhältnissen sowie aggregiert über ihr Berufsleben zunächst unter und später über ihrer Produktivität. Das alles läuft praktisch durchgängig als implizites Arrangement, was zudem eine Kapitaldeckung über Rückstellungen in Bilanzen nach Art der Pensionsrückstellungen für die betriebliche Altersversorgung unmöglich macht.

Über die Gründe für solche Arrangements wird in der Ökonomie seit langem diskutier[1] – einer der berühmtesten Beiträge auf diesem Gebiet trug interessanter Weise den Titel „Why ist there mandatory retirement?“ und sah die Antwort auf diese Frage darin, dass die Arbeitnehmer an einer nicht antizipierten Ausdehnung der „Erntephase“ in Sachen Entlohnung gehindert werden müssen.[2] Unabhängig davon, was man hier letztlich für zutreffend hält, bleibt indessen das Finanzierungsproblem. In Japan, dem Land mit dem weltweit bekanntesten (allerdings oft allenfalls teilweise verstandenen) Senioritätssystem „nenko“, ist dies seit langem eine Binsenweisheit

“This is one of the main reasons why many firms exerted every effort to recruit young workers, since the total labor cost of a firm depends not only on the wage structure but also on the age structure.“[3]

und nicht zuletzt die Erfahrungen im Japan der achtziger und neunziger Jahre zeigen in erschreckender Deutlichkeit, zu welchen Reaktionen Unternehmen greifen können, wenn die Demographie die finanziellen Lasten dieses impliziten Umlageverfahrens extrem zu katalysieren droht.[4]

Es geht an dieser Stelle nicht darum, zu fragen, ob einzelne Unternehmen oder der ganze Unternehmenssektor vor einer entsprechenden Kostenexplosion geschützt oder umgekehrt gezwungen werden müssen, implizite und damit nicht justiziable Verpflichtungen einzuhalten. Es geht auch nicht darum, ein insgesamt sicher sinnvolles Aufbrechen der Senioritätsentlohnung per se zu diskutieren. Im Fokus stehen vielmehr die hintereinandergeschalteten „Ernteperioden“ in Beruf und Sozialversicherung sowie das Problem, dass ältere Arbeitnehmer die in Zukunft länger beschäftigt bleiben sollen und die Entlohnung in dieser „Nachspielzeit“ ein ökonomisch gewichtiger Faktor sind, der bislang jedoch in keiner öffentlichen Diskussion aufgegriffen wurde.

Im japanischen „nenko“-System, das übrigens von je her nur für die Stammbelegschaften galt, wurde beispielsweise in der Übergangszeit zwischen Ablauf der Seniorität in der Primärbeschäftigung und dem Renteneintritt oft eine Beschäftigung zu deutlich geringeren Bezügen im gleichen Unternehmen angenommen, während hierzulande der Arbeitsplatzverlust bei „Ü50“ lange Zeit für viele den unfreiwilligen Abschied aus dem Berufsleben bedeutete.

Dies ist aktuell sicher anders und die Demographie scheint dabei momentan nicht das Problem, sondern die Lösung zu sein, denn die Knappheit an Fachkräften nötigt den Unternehmen auch für ältere „Freiwillige“ höhere Vergütungen ab. Außerdem schafft die bessere medizinische Versorgung und die Vorsorge in den Betrieben gerade für körperliche Arbeit die Grundlage für einen geringeren Produktivitätsabfall in der zweiten Hälfte des Berufslebens. Trotzdem wird sich eine Verlängerung des Umlagesystems innerhalb der aktiven Beschäftigungsphase zugunsten einer Verkürzung der Rentenphase im Umlagesystem der Sozialversicherung auf Dauer nicht ohne Friktionen umsetzen lassen. Je früher dies berücksichtigt wird, umso erträglicher werden sich entsprechende Anpassungen gestalten lassen.



[1] Vgl. umfassend Knoll, L.: Intertemporale Entlohnung und ökonomische Effizienz, München 1994, Kapitel 6.

[2]  Lazear, E.: Why ist there mandatory retirement? In: JPE 1979, S. 1261-1284.

[3] Daito, E.: Seniority Wages and Labor Management: Japanese Employers´ Wage Policy. In: Tokunaga, S./Bergmann, J. (Hrsg.): Industrial Relations in Transition, Tokio 1984, S. 119-130, hier S. 123.

[4] Schwarzer, U. (1994): Land des Hechelns, in: Manager Magazin 6/1994, S. 92-98

 

Blog-Beiträge der Serie „65 plus“:

Cornelius Richter und Gert G. Wagner: Länger arbeiten: Keine Frage des Rentenrechts

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