„Die deutsche Regierung will Arbeitsplätze mit geringer Produktivität möglichst aus Deutschland weghaben.“ (Beat Gygi)
Die Arbeitswelt ist im Fluss. Der Prozess der schöpferischen Zerstörung ist in vollem Gang. Die Struktur der Arbeitsnachfrage ändert sich. Alte (Beschäftigungs)Muster verschwinden, neue entstehen. Einige Fähigkeiten werden knapp, andere (fast) überflüssig. Arbeitnehmer, die Nicht-Routine-Tätigkeiten ausüben, sind gefragt. Dabei ist es fast egal, ob sie manuell, kognitiv oder inter-aktiv sind. Wer Fähigkeiten hat, die nur für Routine-Tätigkeiten, manuell oder kognitiv, reichen, gerät auf die Verliererstraße. Von dieser Entwicklung besonders betroffen, sind Arbeitnehmer mit geringen Qualifikationen. Immer öfter leiden aber auch Arbeitnehmer aus der unteren Mittelschicht unter diesem strukturellen Wandel. Diese Entwicklung auf den Arbeitsmärkten ist beschäftigungspolitisch nicht neutral. Sie hat aber auch distributive Konsequenzen. Die Gefahr, arm zu bleiben oder zu werden, erhöht sich. Es entsteht verteilungspolitischer Handlungsbedarf. In der sozialen Marktwirtschaft ist es Aufgabe des (Sozial)Staates, dieser Entwicklung entgegen zu wirken. Deutschland hat sich 2015 entschieden, mit gesetzlichen Mindestlöhnen dagegen anzugehen. Sie sollen helfen, die Arbeitseinkommen von Geringverdienern zu erhöhen.
Mindestlöhne und Armut
Deutschland ist bei gesetzlichen Mindestlöhnen ein Nachzügler. Erst zum 1. Januar 2015 wurde er hierzulande eingeführt. Er wurde mit 8,50 Euro brutto je Stunde festgelegt. Der Gesetzgeber sieht vor, dass eine Mindestlohnkommission darüber entscheidet, wie er angepasst wird. Zum 1. Januar 2017 wurde er auf 8,84 Euro erhöht. Mit der letzten Anpassung zum 1. Januar 2019 liegt er gegenwärtig bei 9,19 Euro. Die Mindestlohnkommission hat empfohlen, ihn ein Jahr später auf 9,35 Euro zu erhöhen. Eine wesentlich längere Tradition hat der gesetzliche Mindestlohn in vielen anderen Ländern, vor allem in den USA. Dort existiert eine solche Lohnuntergrenze schon seit 1938, die landesweit gilt. Er wurde zum 1. Januar 2015 von 7,25 Dollar auf 10,10 Dollar angehoben. Die Bundesstaten können von dieser Grenze nach oben abweichen. Das tun (fast) alle, die einen mehr, andere weniger. Gegenwärtig liegt der Mindestlohn in 29 Bundesstaaten (plus DC) mit durchschnittlich mehr als 30 % über dem landesweiten Mindestlohn (hier). Seit einiger Zeit gibt es einige Bundesstaaten, die den gesetzlichen Mindestlohn auf 15 Dollar erhöhen.
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Gesetzliche Mindestlöhne sollen helfen, Armut zu verringern oder zu verhindern. Das kann nur gelingen, wenn höhere Mindestlöhne zu höheren Arbeitseinkommen der Bedürftigen beitragen. Unbestritten ist, gesetzliche Mindestlöhne erhöhen die Lohnsätze. Die Lohnverteilung wird gleichmäßiger. Ob allerdings die Arbeitseinkommen ansteigen, hängt davon ab, wie stark die Beschäftigung sinkt. Die bisherigen empirischen Erfahrungen stimmen nicht optimistisch. Zumindest für die USA zeigt sich, dass gesetzliche Mindestlöhne für Arme keine wirkliche Hilfe sind (hier). Es gibt nicht nur mehr Arme, auch die Zahl der Familien mit geringem Einkommen steigt an. Auch wenn einige Familien mit geringem Einkommen von höheren Mindestlöhnen profitieren, gewinnen vor allem Familien in der oberen Hälfte der Einkommensverteilung. Die bisherigen Erfahrungen mit gesetzlichen Mindestlöhnen in Deutschland sind nicht viel besser. Nach dem jüngsten Bericht der Mindestlohnkommission ist der gesetzliche Mindestlohn nur begrenzt in der Lage, die Armutsrisiken zu verringern (hier). Die Gefahr, in Armut zu verbleiben oder in Armut abzurutschen, wird durch die gesetzlichen Mindestlöhne seit 2015 nicht verringert.
Akupunktur mit der Gabel
Gesetzliche Mindestlöhne sind ungeeignet, die wirtschaftliche Lage von armen Individuen und einkommensschwachen Familien generell zu verbessern. Für einige Personen und Familien steigt das Arbeitseinkommen zwar. Andere stellen sich aber schlechter. Gesetzliche Mindestlöhne sind ein ineffizientes Instrument staatlicher Umverteilung. Umverteilung über relative Preise (Löhne) ist wenig treffsicher. Diese alte ökonomische Weisheit gilt auch in diesem Falle. Das hat vor allem drei Gründe: Erstens sind viele arme Personen oft gar nicht erwerbstätig. Gesetzliche Mindestlöhne können ihnen nicht helfen. In Deutschland sind nur 23 % der Personen aus armutsgefährdeten Haushalten erwerbstätig (hier). In den USA geht in über 57 % der armen Familien mit erwerbsfähigen Mitgliedern niemand einer regulären Arbeit nach (hier). Zweitens lebt nur ein Teil der Mindestlohnbezieher in armutsgefährdeten Haushalten. Teenager sind überrepräsentiert. Die leben allerdings meist nicht in armutsgefährdeten Haushalten. Nur 27 % der Beschäftigten, die weniger als den gesetzlichen Mindestlohn verdienen, leben dort. Drittens sind Arbeitnehmer oft nicht arm, weil der Stundenlohnsatz zu gering ist. Sie sind arm, weil sie nur wenige Stunden arbeiten.
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Die Lage an der deutschen Armutsfront ist komplizierter. Mit der Grundsicherung für Erwerbsfähige („Hartz IV“) wird ein sozio-kulturelles Existenzminimum garantiert. Diese finanziellen Transfers verhindern absolute Armut. Verfechter eines gesetzlichen Mindestlohnes hoffen, dass es gelingt, Geringverdiener unabhängiger von Hartz IV zu machen. Diese Hoffnung hat sich bisher nicht erfüllt. Die Zahl der Aufstocker ist jedenfalls kaum zurückgegangen (hier). Mit der Grundsicherung existiert ein „sozialer“ Mindestlohn. Er liegt für alleinstehende Vollzeitbeschäftigte, bisweilen auch für Paarhaushalte ohne Kinder unter dem gesetzlichen. Diese Gruppe kann ihr Arbeitseinkommen mit Arbeitslosengeld II aufstocken. Für diese Personen könnte ein gesetzlicher Mindestlohn, wenn er das Arbeitseinkommen tatsächlich erhöht, die Leistungen des ALG II verringern. Tatsächlich macht diese Gruppe allerdings nur 3 % aller erwerbstätigen ALG II-Empfänger aus (hier). Für alle anderen Bezieher von Hartz IV liegt der „soziale“ Mindestlohn über dem gesetzlichen, teilweise erheblich. Der „soziale“ Mindestlohn bremst den gesetzlichen aus. Die individuellen Arbeitsanreize sind gering, die Abhängigkeit von staatlichen Transfers bleibt.
Umstrittene Beschäftigungswirkungen
Gesetzliche Mindestlöhne erhöhen die Lohnsätze. Das kommt aber nur Arbeitnehmern zugute, die weiter beschäftigt sind. Wer arbeitslos wird oder weniger Stunden arbeiten kann, hat bei höheren Mindestlöhnen mit Zitronen gehandelt. Sein Arbeitseinkommen kann auch sinken. Die wirtschaftliche Lage der Ärmeren und einkommensschwacher Familien bessert sich nur für einige Glückliche. In Deutschland verschlechtert sie sich allerdings auch nicht. Dafür sorgt die Grundsicherung für Erwerbsfähige. Allerdings geht die unternehmerische Nachfrage nach Arbeit zurück. Es ist unbestritten, höhere Löhne verringern die Beschäftigung. Umstritten ist nur, um wieviel. Die Höhe der Lohnelastizität der Arbeitsnachfrage hängt von der beobachteten Gruppe von Beschäftigten und der Wahl der Methode ab (hier). Neuere Untersuchungen für Arbeitnehmer mit den niedrigsten Löhnen kommen für die USA auf Werte nahe -1. Die Mindestlohnkommission ermittelt in ihrem neusten Bericht zwar keine Lohnelastizitäten. Befragungen zeigen allerdings, dass die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne die Bruttomonatslöhne kaum veränderten (hier). Die Arbeitgeber reagierten mit reduzierten vertraglich vereinbarten bzw. bezahlten individuellen Arbeitszeiten. Das deutet zumindest auf eine hohe Lohnelastizität hin.
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Die Einführung der gesetzlichen Mindestlöhne hat das Arbeitsvolumen verringert (Punkt B). Trotzdem ist von negativen Beschäftigungseffekten hierzulande bisher wenig zu sehen. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist weiter gestiegen. Das gilt auch für Branchen mit vielen Arbeitnehmern, die bisher weniger als 8,50 Euro verdienten. Allerdings ist die geringfügige Beschäftigung (Minijobs) spürbar geschrumpft, vor allem in Bereichen, die stark vom gesetzlichen Mindestlohn betroffen waren. Die eine Hälfte der Minijober wechselte in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse, die andere wurde arbeitslos oder hat sich vom Arbeitsmarkt zurückgezogen. Es spricht vieles dafür, dass die trotz gesetzlichem Mindestlohn eher geringen Beschäftigungsverluste konjunkturell bedingt sind. Der anhaltende wirtschaftliche Aufschwung hat die Arbeitsnachfragekurve (ANE1) nach rechts verschoben (Punkt C). Es wurde von allen Qualifikationen mehr Arbeitskräfte nachgefragt, auch von einfacher Arbeit. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist spürbar gesunken. Diese Entwicklung ist allerdings nicht nachhaltig. In der nächsten Rezession wird der gesetzliche Mindestlohn sein wahres beschäftigungspolitisches Gesicht zeigen. Der wachsende Anteil von geringqualifizierten Migranten wird diese Entwicklung noch verstärken.
Aktivierende Grundsicherung
Der gesetzliche Mindestlohn ist ein schlechtes Instrument, die Arbeitseinkommen von Geringverdienern und armen Familien zu erhöhen. Er ist einerseits wenig treffsicher. Gesetzliche Mindestlöhne sind verteilungspolitisch wie ein Schießen mit der Schrottflinte auf bewegliche Scheiben im Nebel. Die staatliche Umverteilung über relative Preise (Löhne) hat andererseits erhebliche allokative Nebenwirkungen. Der Einfluss gesetzlicher Mindestlöhne auf die Beschäftigung ist negativ, für die einen mehr, für andere weniger. Eine effiziente Politik der Umverteilung muss die armen Individuen und Familien im Blick haben. Das gelingt am besten mit einer Subjektförderung. Das Muster ist denkbar einfach. Die Arbeit wird über den Markmechanismus in die effizientesten Verwendungsarten alloziiert. Das ist nicht für alle Arbeitnehmer erfreulich. Vor allem Geringqualifizierte leiden einkommenspolitisch. Es ist die Aufgabe des (Sozial)Staates gesellschaftlich distributiv unbefriedigende Ergebnisse für bedürftige Arbeitnehmer zu korrigieren. Mit staatlicher Hilfe müssen die Einkommen auf das gesellschaftlich erwünschte Niveau hochgeschleust werden. Kurzfristig führt an finanziellen Transfers kein Weg vorbei. Mittel- und langfristig muss die Bildungspolitik noch mehr tun, individuelle Einkommenspotentiale zu erhöhen.
Die Nachfrage der Unternehmen nach (einfacher) Arbeit muss nachhaltig gestärkt werden. Dann lässt sich auch Armut besser bekämpfen, weniger Menschen sind armutsgefährdet. Der gesetzliche Mindestlohn behindert den Kampf gegen Armut. Er wirkt negativ auf Beschäftigung und Arbeitseinkommen. Die (Markt)Einkommen von Geringqualifizierten sind niedrig. Sie müssen aufgestockt werden. Das geht am besten über eine reformierte Grundsicherung (Hartz IV). Damit erreicht man die wirklich Bedürftigen in armen Familien besser. Dafür sorgt die staatliche Bedürftigkeitsprüfung. Aber auch diese Lösung ist nicht ohne Probleme. Das größte dürfte die Höhe des „sozialen“ Mindestlohnes sein. Er schafft vor allem für Familien mit Kindern erhebliche Anreize, das Arbeitsangebot einzuschränken. Wirklich in den Griff bekommt man das mit der Grundsicherung nicht. Abhilfe könnte ein EITC (Steuergutschriften) nach amerikanischem Vorbild sein. Politisch durchsetzbar ist das aber nicht. Mehr Effizienz ist dennoch mit kleinen Schritten möglich. Eine geringere Transferentzugsrate würde die Anreize erhöhen, eine angebotene Arbeit anzunehmen. Helfen würde auch, die „Umkippeffekte“ zu verhindern, die in unserem institutionellen Arrangement der verschiedenen sozialen Leistungen auftreten (hier).
Fazit
Auf deutschen Arbeitsmärkten läuft es bestens. Die Arbeitslosigkeit ist regional, sektoral und beruflich geschrumpft. Auch schwer vermittelbare Arbeitslose finden immer öfter eine Beschäftigung. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist gesunken. Es herrscht quasi Vollbeschäftigung. Auch die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne hat das Bild nicht trüben können. Die Verluste an Beschäftigung halten sich in Grenzen. Verloren haben vor allem Minijober. Das eigentliche Ziel, die Arbeitseinkommen von Geringverdienern und einkommensschwachen Familien zu erhöhen, haben allerdings gesetzliche Mindestlöhne nicht erreicht. Es bestätigt sich wieder einmal: Staatliche Umverteilung über Preise (Löhne) ist wenig effizient. Gesetzliche Mindestlöhne sind wenig treffsicher. Sie sind wie Akupunktur mit der Gabel. Dabei ist die eigentliche Quelle distributiver Ineffizienz noch gar nicht sichtbar. Die gute Konjunktur maskiert die negativen Wirkungen gesetzlicher Mindestlöhne auf die Beschäftigung. Der wirtschaftliche Abschwung wird die negativen Beschäftigungseffekte aufdecken. Die Arbeitslosigkeit wird wieder steigen. Vor allem Geringqualifizierte werden leiden. Der hohe Anteil wenig qualifizierter Migranten wird die negative Entwicklung noch verstärken. Die wirtschaftliche Lage armer Individuen und einkommensschwacher Familien wird sich verschlechtern. Die wahren Kosten gesetzlicher Mindestlöhne werden sichtbar.
Literatur:
Mindestlohnkommission (2018): Zweiter Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohnes. Berlin
Neumark, David (2018): Employment effects of minimum wages. When minimum wages are introduced or raised, are there fewer jobs? IZA World of Labour. Bonn
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2 Antworten auf „Erfahrungen mit gesetzlichen Mindestlöhnen
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