„Zwei mal drei macht vier, widewidewitt und drei macht neune, ich mach mir die Welt, wide-wide wie sie mir gefällt“ (Pipi Langstrumpf)
Die unabhängige Mindestlohnkommission hat ihren dritten Bericht vorgelegt (hier). Darin schlägt sie der Bundesregierung mindestlohnpolitisch Erstaunliches vor. Der gesetzliche Mindestlohn soll in den kommenden zwei Jahren schrittweise von 9, 35 Euro auf 10,45 Euro steigen. Im nächsten Jahr soll er zunächst langsam auf 9,60 Euro, im Jahr 2022 aber in einem großen Sprung auf 10,45 Euro ansteigen. Das ist eine Abkehr von der politischen Leitlinie, die gesetzlichen Mindestlöhne hierzulande den Tarifentgelten folgen zu lassen. Noch 2016 stiegen die Mindestlöhne um 4 %, im Jahre 2018 waren es schon 7 %, ab 2021 sollen sie stufenweise um satte 12 % ansteigen. Offensichtlich war die politische Kampagne der Gewerkschaften erfolgreich. Sie fordern seit langem 12 Euro. Die Arbeitgeberverbände haben zugestimmt. Warum? Dieser mindestlohnpolitische Vorschlag ist in Zeiten von Corona aus der Zeit gefallen. Deutschland ist in der schwersten wirtschaftlichen Krise der Bundesrepublik. Die Tarifpartner tun so, als ob es keine Covid-19-Krise gäbe.
Mindestlöhne sind unter Ökonomen seit langem umstritten. Das hat sich mit der Einführung gesetzlicher Mindestlöhne im Jahre 2015 nicht geändert. Unbestritten ist, der gesetzliche Mindestlohn ist verteilungspolitisch bisher ein Flopp. Er hat weder die Armut in der Phase der Erwerbstätigkeit verringert, noch kann er sie in der Zeit als Rentner signifikant reduzieren. Gesetzliche Mindestlöhne sind ungeeignet, die wirtschaftliche Lage von armen Individuen und einkommensschwachen Familien generell zu verbessern (hier). Es ist ihnen auch nicht gelungen, die individuelle Abhängigkeit von der Grundsicherung (Hartz IV) spürbar zu verringern. Die Zahl der „Aufstocker“ hat sich kaum verringert. Eines ist allerdings (bisher) nicht eingetreten. Es kam nicht zu den befürchteten massenhaften negativen Beschäftigungseffekten. Die sehr gute wirtschaftliche Entwicklung hat den unvermeidlichen Rückgang der Nachfrage nach einfacher Arbeit, den Mindestlöhne verursachen, mehr oder weniger kompensiert. Allein das Angebot an Minijobs hat sich spürbar verringert.
Das muss allerdings nicht so bleiben. Covid-19 hat die Lage auf den Arbeitsmärkten verändert. Lieferketten wurden jäh unterbrochen. Trotz aller Lockerungen sind sie noch immer nicht voll repariert. Den größten ökonomischen Schaden hat allerdings der Lockdown angerichtet. Das staatliche Verbot ungehindert zu produzieren traf und trifft noch immer viele Branchen. Besonders in Mitleidenschaft gezogen sind solche, bei denen Mindestlöhne eine große Rolle spielen. Die Corona-Krise hat einen negativen Produktivitätsschock verursacht. Er pulverisiert die gestiegene Nachfrage nach Arbeit, die in Zeiten guter wirtschaftlicher Entwicklung die Kurve der Arbeitsnachfrage auf (ANE1) verschoben hat. Das gilt auch und vor allem für einfache Arbeit. Die konjunkturell gedopte Arbeitsnachfrage (ANE1) verschiebt sich wieder nach links, wenn es wegen einer zweiten Welle schlecht läuft, auch über (ANEo) hinaus. Der gesetzliche Mindestlohn zeigt nun seine hässliche, negative Beschäftigungsseite. Sie wird nicht mehr durch die gute Konjunktur maskiert. Steigt der Mindestlohn an, wie von der Mindestlohnkommission vorgeschlagen, schrumpft die Beschäftigung weiter (A2). Das Risiko steigender Arbeitslosigkeit unter Geringqualifizierten nimmt zu.
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Der durch Corona bedingte Einbruch der Produktivität macht uns alle ärmer. Der Output sinkt, der Wohlstand schrumpft. Auf diese Entwicklung gibt es nur zwei adäquate Antworten: Entweder besser oder billiger. Die gesetzlichen Mindestlöhne sind auch weiter kaum beschäftigungsschädlich, wenn es gelingt, die Produktivitätsverluste rückgängig zu machen. Das wäre dann der Fall, wenn Covid-19 von heute auf morgen verschwinden würde, ein effizienter Impfstoff auf den Markt käme oder ein wirksames Medikament zur Verfügung stünde. Es spricht gegenwärtig nichts dafür, dass eine der drei Varianten zeitnah eintreten wird. Die Produktivitätsverluste werden auf absehbare Zeit oder auch noch länger bleiben. Weitere staatliche Lockerungen und hilfreiche Erfahrungen im Umgang mit dem Virus können sie höchstens abmildern. Der Verlust an Beschäftigung lässt sich nur in Grenzen halten, wenn Arbeit billiger wird. Die Löhne müssen sinken, auch die gesetzlichen Mindestlöhne. Der Vorschlag der Mindestlohnkommission, die gesetzlichen Mindestlöhne kräftig zu erhöhen, ist in ökonomisch unsicheren Corona-Zeiten beschäftigungspolitisch kontraproduktiv.
Die Corona-Krise trifft die Branchen und deren Arbeitnehmer unterschiedlich hart. In einer neuen Umfrage des Ifo-Instituts sehen sich 21 % der Unternehmen in Deutschland durch die Corona-Krise in ihrer Existenz bedroht (hier). Am schlimmsten trifft es wohl den Dienstleistungssektor und den Einzelhandel. Über 27 % der Dienstleister und 21 % der Einzelhändler rechnen mit dem Schlimmsten. Besonders stark betroffen sind im Dienstleistungssektor die Tourismusbranche, das Beherbergungsgewerbe und die Gastronomie. Die Wirtschaftszweige, in denen Mindestlöhne eine besondere Rolle spielen, ist nach einer Erhebung der Mindestlohnkommission der Dienstleistungssektor (Tab. 1.2; hier). Zumindest galt das für das Jahr 2018, für das die letzten Zahlen vorliegen. Eine Erhöhung der gesetzlichen Mindestlöhne, wie sie die Mindestlohnkommission jetzt vorschlägt, ist ein weiterer Schlag für die von Corona besonders hart betroffenen Wirtschaftszweige. Sie machen vielen Unternehmen im Dienstleistungssektor endgültig den wirtschaftlichen Garaus.
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Vieles spricht dafür, dass die weltweite Seuche noch lange nicht vorbei ist. Auch die Gefahr einer zweiten Welle ist nicht von der Hand zu weisen. Die (weltweite) wirtschaftliche Entwicklung wird weiter sehr volatil bleiben. Es wäre deshalb sinnvoller gewesen, wenn die Mindestlohnkommission vorgeschlagen hätte, die Erhöhung der gesetzlichen Mindestlöhne solange auszusetzen bis klar ist, wie es medizinisch und wirtschaftlich weitergeht. Längerfristig ist es allerdings notwendig, das Konzept des gesetzlichen Mindestlohnes grundsätzlich zu überdenken. Der verteilungspolitische Erfolg ist äußerst bescheiden, das Risiko des beschäftigungspolitischen Misserfolgs erheblich. Sinnvoller wäre es, den gesetzlichen Mindestlohn abzuschaffen und die gegenwärtige Grundsicherung effizienter zu gestalten. Der Weg, den die Politik einschlagen sollte, ist mit der „aktivierenden Grundsicherung“ (hier) seit langem vorgezeichnet. Dieser Wunsch wird sich aber nicht erfüllen. Eine Mehrheit der Wähler und Politiker setzt trotz aller distributiven und allokativen Ineffizienzen weiter auf gesetzliche Mindestlöhne.
Literatur:
Mindestlohnkommission (2020): Dritter Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns. Berlin
Blog-Beiträge der Serie “Ordnungspolitischer Unfug”
Norbert Berthold: Mindestpreise für Lebensmittel. Robert Habeck irrlichtert (auch) agrarpolitisch
Norbert Berthold: Wenn’s dem Esel zu wohl wird. Mindestlöhne mit Subventionen
Norbert Berthold: Peterchens (industriepolitische) Mondfahrt. Wettbewerbsfähig wird man im Wettbewerb
Norbert Berthold: Deutschland wird leiden. Leistungsbilanzsalden und Strukturwandel
Norbert Berthold: Mietpreisbremse und “Sozialer Wohnungsbau”. Irrwege in der Wohnungspolitik
Norbert Berthold: Noch mehr Steuergelder für die Rente. Hat sich die SPD endgültig aufgegeben?
- Pakt für Industrie
Korporatismus oder Angebotspolitik? - 27. Oktober 2024 - De-Industrialisierung nimmt Fahrt auf
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6 Antworten auf „Ordnungspolitischer Unfug (7)
Besser oder billiger
Mindestlöhne in Zeiten von Corona “