1. „Whatever it takes“
Vor sieben Jahren, am 26.7.2012, wurde eine der wirkmächtigsten Parolen verkündet, die je ein Zentralbankchef dem Rest der Welt entgegengeschleudert hat. Mario Draghis Aussage, die EZB wolle alles tun, um den Euro zu bewahren, ist zu einem Klassiker geworden, sowohl wegen ihrer faktischen Konsequenzen als auch wegen ihrer hochkondensierten Abstraktion, die sich nicht mit Petitessen abplagte, was unter „whatever“ zu verstehen sei, sondern der ebenso schlichten Zusage fröhnte „and believe me, it will be enough!“. Wer sich heute diese schlichten Sequenzen im Internet anschaut (hier), kann sich auch und gerade in der Retrospektive eigentlich kaum erklären, wie derartige Beschwörungsformeln die europäischen Kapitalmärkte „rocken“ konnten.
Natürlich blieb es nicht bei den Zusagen und natürlich wäre die Wirkmächtigkeit schnell verflogen, wenn Draghi und seine Mannschaft nicht geliefert hätten – machen wir es wie er und sparen uns die andernorts immer wieder enumerierten Details, sondern halten schlicht fest, dass heute die Welt des Geldes nicht mehr dieselbe ist, die in den Erfahrungen der vor diesem Jahrhundert Geborenen in Erz gegossen erschien. Nicht nur, aber eben auch nicht zuletzt im Euroraum blähten sich die Notenbankbilanzen auf und die Anlagezinsen haben diesseits sehr langer Bindungsfristen nicht nur das Niveau, sondern auch das Vorzeichen gewechselt. Der lange überkommene Sparstrumpf wurde gleichsam wieder zum „Prêt-à-porter“ der Kleinsparer.
2. In der Klemme
Wenn diese Mode noch nicht stärker um sich gegriffen hat, liegt das daran, dass Bankeinlagen bislang noch weitgehend zinsfrei sind, und damit kommen wir zum eigentlichen Thema dieses Beitrags. Die Banken sind im Mengengeschäft bislang praktisch hilflos einer Sperre am Nullpunkt der Zinsskala ausgesetzt und damit kommt das gesamte Geschäftsmodell der meisten kontinentaleuropäischen Geschäftsbanken ins Rutschen. Gerade viele kleinere Kreditinstitute mit einem Einlagenüberhang sind hier besonders betroffen, weil das sogenannte Passivgeschäft zwangsläufig einen negativen Konditionenüberhang beschert. Dabei bleibt es freilich nicht: Unter dem Druck, diese Scharte auszuwetzen, drängt man mit eigenen Anlagen in den Markt und trägt damit zu einem gleichgerichteten Rutschen des Kreditzinses und einer Verflachung der Zinsstrukturkurve bei. Damit schrumpfen die Ergebnisse auch bei der Aktivmarge und dem sogenannten Strukturbeitrag. Beide Komponenten des Bankerfolgs beinhalten in hohem Maße die Kompensation von Risiken, die Banken eingehen, wenn Sie Dritten Geld verleihen oder/und eigene Investments nicht fristenkongruent zu ihren Einlagen durchführen. Am Ende bleibt weniger als Gewinn übrig, obwohl man ihn mit einem höheren Risiko erzielt hat, das eines Tages ja auch einmal schlagend werden könnte. Ein Kollateralschaden angesichts erwünschter Konjunkturförderung oder gar der Stimulus zur Bereinigung von Ineffizienzen im Finanzsektor?
Wie auch immer: Das alles war von vornherein abzusehen und die Deutsche Bundesbank führte bereits 2013 ihre erste „Niedrigzinsumfrage“ bei den von ihr beaufsichtigten Banken durch, die seither im Zwei-Jahres-Rhythmus wiederholt und seit 2017 von einem eigenen Stresstest begleitet wird. Sowohl die dort abgefragten Projektionen als auch die tatsächlich erzielten Ergebnisse zeigen zweierlei: Die Ergebnisse schrumpfen wie von allen erwartet erheblich, aber nicht so stark wie von manchen befürchtet. Die Gründe sind vielfältig und reichen über eine beinahe flächendeckende Katapultierung von Kontogebühren, die Schließung von Zweigstellen und die Ausdünnung des Personalbestands bis hin zur Hebung stiller Reserven durch Nutzung des viel diskutierten § 340 f HGB in Deutschland. Allerdings stoßen diese Möglichkeiten bei dem einen oder anderen Institut langsam an ihre Grenzen und so freute sich mancher Bankvorstand, als zum Jahreswechsel Signale erkennbar wurden, dass die EZB nach dem Einfrieren ihres Anleihekaufprogramms zumindest perspektivisch auch das Problem des Negativzinses früher oder später angehen wolle.
3. Wo wird es genug sein?
Wenige Monate später sind wir davon meilenweit entfernt. Die durch allseits bekannte Gründe einknickende Weltkonjunktur und andere Probleme haben eine Drehung um 180 Grad bewirkt. Nach der FED, die freilich viel früher auf steigende Zinsen umgeschaltet hatte und nun von einem ganz anderen Niveau ausgehend operieren kann, hatte zwischenzeitlich auch die EZB Lockerungen avisiert. Umso gespannter wurde auf die Zentralbankrat-Sitzung am 25.7.2019 gewartet. Die Entscheidungen blieben tendenziell in der Tradition des fast genau sieben Jahre vorher verlautbarten „whatever it takes“: Zunächst beließ man es bei den bisherigen Konditionen, machte aber deutlich, dass eine – gegebenenfalls auch erhebliche – weitere Lockerung der Geldpolitik im Bedarfsfall eingesetzt werde. Im September wolle man diskutieren über Zinsen sowie Anleihekäufe und dann entscheiden. So warten jetzt nicht nur, aber insbesondere viele Banker und fragen sich, wie diese Entscheidungen wohl aussehen werden. Wo wird der Einlagenzins zum Landen kommen? Was wird an den Anleihemärten passieren? Und vor allem: Womit soll man in Zukunft als seriöse Geschäftsbank noch Geld verdienen, ohne unzumutbare Risiken einzugehen?
Nach dem Durchstoßen der Nullzinslinie nach unten sind sämtliche Orientierungen für die Antworten auf diese Fragen abhandengekommen. Wer weiß schon, wo bei „sicheren“ Einlagen das „weniger als weniger als nichts“ endet? Gibt es eine Grenze im Negativen oder haben wir einen nach unten offenen Erwartungshorizont? Nun, mehr als alles kann man bei solchen Anlagen nicht verlieren, also sind 100% ja vielleicht (sehr frei nach Lord Kelvin) der wirkliche absolute Nullpunkt in der Skala des Einlagenzinses.
Wenn der EZB nichts neues einfällt, ist dies sogar die gute Nachricht, denn damit hat es noch nicht sein Bewenden. Der Verlust der Nullzinsorientierung erinnert fatal an die Verletzung des „virgin principle“ von Thomas C. Schelling:
„Once the virgin principle is gone, there is no confidence in any resting point, and expectations converge on complete collapse.“[1]
Naja, wenigstens werden die Banken (und wir) außer der Auffanglinie des Totalverlusts noch den Beistand von Frau Lagarde haben, die in der Tradition ihres wortgewaltigen Vorgängers sicher alles tun wird, um den vollständigen Zusammenbruch zu verhindern. Bis dahin ist es freilich noch eine ziemlich weite Wegstrecke und immerhin dürfen wir hoffen, dass es solcher Eingriffe vielleicht gar nicht bedarf, beispielsweise wenn zumindest ein Teil der global wirksamen Chefchaoten konjunkturfördernd aus seinem Amt scheidet. Die „normalen“ Geschäftsbanken, nicht die subventionsbedürftigen Großzockereinheiten, haben nach Lehman jedenfalls mehr ausgehalten, als man ihnen zutraute, und es verdient Respekt, dass ihnen dies trotz EZB & Co. wohl noch eine ganze Zeit lang weiter gelingen wird.
[1] Schelling, The Strategy of Conflict, 2. Aufl., Boston, 1980, S. 112.
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