In der Schweiz lässt es sich angenehm leben. Gemäss der aktuellen Umfrage eines Beratungsunternehmens gehören Zürich, Genf und Basel zu den 10 lebenswertesten Städten der Welt. Auch im World Happiness Report des renommierten Ökonomen-Trios Helliwell, Layard und Sachs rangiert die Schweiz unter den Nationen mit der glücklichsten Bevölkerung. Vergleicht man die Länder nach dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als wohl gebräuchlichstem Wohlstandsmass, so erscheint wiederum die Schweiz weit oben als eines der reichsten Länder. Konsultiert man lieber weniger abstrakte Gesundheitsindikatoren wie die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt, so weisen auch hier nur wenige Länder höhere Werte als die Schweiz aus mit 85 Jahren für die Frauen und 82 Jahren für Männer.
Warum ist das so? Warum ist es in diesem Land so lebenswert? Warum ist die Schweiz derart erfolgreich? Ist es Zufall, liegt es am angenehmen Klima, der günstigen Geografie, dem Arbeitsethos oder der moralischen Substanz? Eher nicht. Mit der Frage, was den Erfolg von Staaten ausmacht, befassen sich Wirtschaftshistoriker bereits seit Jahrzehnten. Zur Beantwortung dieser komplexen Frage, ist es analytisch sinnvoll, zunächst zu verstehen, warum sich Menschen überhaupt in einem Staat organisieren wollen.
Der Staat bietet seinen Angehörigen in einem vertragstheoretischen Sinn Schutz und Gerechtigkeit im Tausch gegen Steuereinnahmen. Im Konkreten sichert der Rechtsstaat die Eigentums- und Verfügungsrechte des Einzelnen sowie der Kollektivgüter der Gemeinschaft als Klub und setzt diese durch sein Gewaltmonopol durch. Damit schafft der Staat die Vertrauensgrundlage für eine lebendige Zivilgesellschaft mit prosperierender Wirtschaft. Es liegt im Interesse eines jeden Einzelnen, sich einem solchen Staat anzuschliessen, denn Schutz und Gerechtigkeit können nur im Kollektiv, nicht aber individuell bereitgestellt werden.
Die Medaille hat allerdings eine Kehrseite: ein Staat, der stark genug ist, den Freiheitsbereich des Einzelnen effektiv zu schützen, ist auch stark genug, durch seine Machtbefugnisse den Freiheitsbereich der Bürger für sich zu reklamieren und übermässig einzuschränken. Der Ökonom Barry Weingast nennt dies das fundamentale politische Dilemma eines Staats zwischen Schutz und Ausbeutung.
Das Geheimnis erfolgreicher Staaten liegt zu wesentlichen Teilen in der klugen Balance zwischen Schutz und Ausbeutung. Demokratische Rechtstaaten haben teilweise komplexe Machtstrukturen – so genannte Checks and Balances – entworfen, um dieses fundamentale Dilemma zu adressieren. Allem Anschein nach gelingt die Balance nicht jedem Staat im gleichen Masse – der Schweiz allerdings besonders gut.
Was könnten die Gründe dafür sein? Für Wirtschaftshistoriker und Nobelpreisträger Douglas North ist es der Systemwettbewerb. Erodieren die staatlichen Schutzleistungen und werden zentrale Gerechtigkeitserfordernisse verletzt, während die obrigkeitlichen Einschränkungen und Bevormundungen zunehmen, reagieren die Bürger irgendwann mit Abwanderung (Exit) oder Widerspruch, Protest und Abwahl (Voice). Dieser Prozess ist meist schleichend – kann aber gelegentlich auch zu Aufständen, Revolutionen oder einem Massenexodus ausarten. Die Geschichte ist voll von eindrücklichen Episoden.
Es ist der Wettbewerbsdruck durch Abwanderung und Widerspruch, der Anreize für gute Regierungsführung setzt. In der Schweiz sind die staatlichen Wettbewerbselemente von Exit und Voice besonders ausgeprägt. Wir sollten die Kraft von direkten Volksrechten und Föderalismus für gute Regierungsführung nicht unterschätzen. Die komplizierten Aushandlungsprozesse, der umfassende Einbezug von Argumenten und Interessen und die klare Abgrenzung der Verantwortlichkeiten im Bundesstaat beschränken politischen Machtanspruch, schaffen aber gleichzeitig ein Vertrauensklima für pragmatische Lösungen. Was zunächst unübersichtlich, überholt und gelegentlich archaisch anmutet, ist in seiner Wirkung vergleichsweise extrem erfolgreich. Das ist überraschend und eindrücklich zugleich.
Im tagespolitischen Hickhack geht dieser langfristige Blick der Wirkung unserer Institutionen oft verloren. Kurzfristige Opportunitäten, machtpolitisches Kalkül und umfragegetriebenes Reputationsmanagement dominieren auch in der Schweiz. Dies ist so lange unproblematisch, wie die grundsätzliche Wirkung der Wettbewerbselemente von Exit und Voice ihre disziplinierende Kraft entfalten können. Leider sind die direkten Volksrechte und der Föderalismus aber nicht in Stein gemeisselte Institutionen, sondern ebenfalls der schleichenden Erosion ausgesetzt, wenn sie nicht gepflegt werden.
Die Verlockungen der Vergemeinschaftung von Kompetenzen und Finanzierung sind gross – sowohl für den Bund als auch für die Kantone. Dabei erweist insbesondere die folkloristische Überhöhung des freundeidgenössischen Kompromisses im Rahmen der Fachdirektorenkonferenzen der Verantwortung für die eigene Politik einen fragwürdigen Bärendienst. Freilich ist der Prozess der schleichenden Zentralisierung nicht neu. Der wortgewaltige und legendäre Bundesrat Willi Ritschard meinte bereits in der NZZ vom 15.03.1980: «Aus diesem Grunde ist der «oberste Gralshüter» der Bundesfinanzen auch keineswegs sehr glücklich über den gegenwärtigen Zustand des Finanzföderalismus.» Sein «böses» Wort von den Kantonen, die sich in der Vergangenheit durch die ständige Einnahme von Überdosen an Bundeshormonen selbst «entmannt» und sich damit in eine «Eunuchensituation» manövriert haben, steht für die Auffassung, dass das Überdenken der Aufgabenteilung zwischen dem Bund und den Kantonen letztlich als Chance für die Restaurierung des Föderalismus zu verstehen ist, der in der wachstumsschwülen Periode der grossen Expansionswelle, als die Bundeseinnahmen noch reichlich flossen, bedenklichen Degenerationserscheinungen ausgesetzt war.»
Der ernüchternde Zustandsbericht Bundesrat Ritschards lässt sich gut auch für das Jahr 2019 diagnostizieren. Allerdings hat der Prozess der Zentralisierung und der alternativlosen technokratischen Entscheidungsfindung nochmals deutlich zugenommen. Die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung hat nur kurzzeitig Linderung gebracht. Die Freiheitsgrade kantonaler Politik schrumpfen weiter und die Abhängigkeit von Bundesmitteln hat nochmals stark zugenommen. Die Erosion eines erfolgreichen Pfeilers zur Ausbalancierung der Staatsgewalt zwischen Schutz und Ausbeutung schreitet auch im Rahmen der jüngsten Renten- und Steuerreform mit der Ausweitung des Kantonsanteils und der weiteren Zentralisierung der Steuerpolitik weiter voran. Dies unter Inkaufnahme einer Einschränkung des zweiten erfolgreichen Pfeilers: der direkten Volksrechte. In diesem Fall durch die Verletzung der «Einheit der Materie» beim so genannten «Kuhhandel». Man mag einwenden, dass hier der Zweck die Mittel heilige. Allerdings bleibt das moralische Risiko, dass damit ein Präjudiz für die Zukunft geschaffen wurde.
Die Nagelprobe wird sich bereits bei der Präzisierung oder Neuverhandlung des Rahmenabkommens mit der EU zeigen. Es wäre ein fragwürdiger Leitgedanke, wegen kurzfristiger Erleichterungen, erfolgreiche Institutionen wie die direkten Volksrechte zu relativieren und den Föderalismus noch weiter auszuhöhlen. Ihre langfristige Bedeutung zur Rechtfertigung der Staatsgewalt und zur Aufrechterhaltung der Bürgermoral in der Schweiz kann kaum überschätzt werden. Eine weitere Erosion dieser oft als kleinbürgerlich belächelten Institutionen bringt uns zwar näher an die europäische Normalität. Dabei sollten wir allerdings nicht vergessen: die drastischen Verschiebungen der Parteienlandschaft in vielen unserer Nachbarländer zeigen, dass in den Augen der Bevölkerung einiger EU-Staaten das Pendel zwischen staatlich garantiertem Schutz und fiskalisch und regulatorischer Ausbeutung nicht mehr im Lot ist.
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