Am aktuellen Rand
Die offene Gesellschaft und ihre Freunde
Urteil des BVerfG zur gewerbsmäßigen Sterbehilfe

Bild: Pixabay

Nachdem ich schon mehrfach auf den Seiten von „wirtschaftliche Freiheit.de“ die Ungeniertheit beklagt habe, mit der höchstrichterliche Verfassungsinterpreten unter dem Deckmantel der Verfassungsinterpretation autoritäre Intoleranz gegenüber Andersdenkenden geübt haben, bin ich vom Urteil des Zweiten Senats des BVG positiv überrascht. Es scheint, dass siebzig Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs auch unser Verfassungsgericht – nachdem ihm Oberverwaltungsgerichte und BGH vorangingen (hier)  – endgültig in der pluralen, offenen Gesellschaft angekommen zu sein scheint: Das Urteil, das den § 217 StGB, der gewerbsmäßige Sterbehilfe pönalisiert, für verfassungswidrig erklärt, ist ein Meilenstein. Es hebt sich fundamental ab von dem Skandalurteil aus dem Jahr 1957, mit dem das damalige BVG der Strafbarkeit homosexueller Beziehungen nach § 175 StGB die Verfassungskonformität attestierte.

Ich meine, dass die deutschen Freunde der offenen Gesellschaft diesen Tag generell als Sternstunde der deutschen Rechtsgeschichte anerkennen sollten. Als älterer Mensch, der aus eigener Anschauung um die Hässlichkeit des Sterbens weiß, nehme ich das Urteil aber auch als persönlich beruhigend wahr. Trotzdem gibt es genug Gründe, auch weiterhin wachsam zu sein.

Wie wird es weitergehen mit dem § 217 StGB?

Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich anerkannt, dass der Gesetzgeber im Rahmen einer Rechtsgüterabwägung eine gesetzliche Regelung der Beihilfe zur Selbsttötung vornehmen darf. Das ist ungeachtet der Straffreiheit des Suizids (letztlich des Versuchs des Suizids) völlig einsichtig. Zwar lehnten zwei Drittel der deutschen Bevölkerung den im Jahre 2015 erlassenen § 217 StGB ab, doch scheint es klar, dass mindestens ebensolche Mehrheiten Regulierungen und Einschränkungen, die insbesondere die Autonomie der Betroffenen stützen und schützen sollen, befürworten werden. Es ist zugleich absehbar, dass die di Fabios unter unseren Juristen bei der Regelbedürftigkeit  ansetzen werden, um dem Alltagsverstand das Wasser abzugraben (hier).

Alle möglichen schiefen Ebenen werden wieder einmal konstruiert werden, um dann so zu tun, als sei die bloße Möglichkeit, dass etwas passieren könne, mit einer realen Gefahr gleichzusetzen. Hier sind zwei Dinge wichtig: Erstens der Hinweis, dass die Anhänger individueller Selbstbestimmung allen Grund haben, denen, die ihrem Leben nicht selbst ein Ende setzen möchten, einen Tod in Würde durch Aufbau der Palliativmedizin und von Sterbehospizen zu ermöglichen. Die Existenz solcher Alternativen sichert zugleich, dass der Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben Ausdruck der individuellen Autonomie des Sterbewilligen ist. Zweitens der Hinweis, dass die Beweislast für etwaige, mit der Erleichterung des Suizids und der Beihilfe zu ihm verbundenen Rechtsgefährdungen bei denen liegt, die solche Gefährdungen gegen die Erlaubnis zur Sterbehilfe ins Feld führen wollen. Denn zum einen sagt uns die alltägliche Erfahrung, dass es autonomiesichernde Einschränkungen der Erlaubnis zur Sterbehilfe gibt, die weit unterhalb der Schwelle von durchgängigen Verboten ansetzen. Zum anderen ist zu wiederholen, dass die bloße abstrakte Möglichkeit einer Gefährdung nicht das gleiche ist, wie eine konkrete Gefahr. Jede Autofahrt beinhaltet eine Gefährdung Dritter und doch würden wir nicht deshalb das Autofahren verbieten wollen.

Wie wird es mit der Grundgesetzinterpretation weitergehen?

Insbesondere Art. 1 und 2 GG haben Verfassungsjuristen von je her genutzt, um ihre eigenen Meinungen zunächst in die Verfassung hinein zu legen und sie dann als „Interpretation“ des GG für alle festzuschreiben. Aufgrund seiner nahezu beliebigen Deutungsmöglichkeiten bildet der Menschenwürde-Begriff in Art. 1 GG eine latente Gefahr. Wenn er etwa in Reaktion auf bzw. in Antizipation von künftige(n) Entwicklungen der Medizin-Technologie ohne das nötige Maß an Zurückhaltung gedeutet werden sollte, kann das durchaus zu einer antipluralistischen Affirmation partikularer Werte führen. Im Art. 2 GG (1) heißt es zudem nicht nur „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung …verstößt;“ sondern vervollständigt heißt es, dass nicht nur nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung sondern auch nicht gegen „das Sittengesetz“ verstoßen werden darf. Früher war es üblich, das Konzept des Sittengesetzes im Sinne christlicher Auffassungen zu deuten (was insbesondere in dem bereits erwähnten Skandalurteil des früheren BVG zur Strafbarkeit homosexueller Beziehungen genutzt wurde). Das sollte uns als Warnung dienen, weiter wachsam gegenüber möglichem Missbrauch unserer Verfassung durch das BVG zu sein. Es steht durchaus in steter Gefahr, nicht nur die Fahrordnung unter Bürgern festzulegen, sondern sich als eine Art Dritte-Kammer zur Bestimmung inhaltlicher Ziele aufgerufen zu fühlen.

Unbeschränkte Toleranz?

Der Titel dieses Beitrages spielt natürlich auf Karl R. Poppers zu Recht gerühmtes Buch über die offene Gesellschaft und ihre Feinde an. Es ist ebenfalls bekannt, dass Popper für Intoleranz gegenüber den Intoleranten eintrat. Ob eine solche Haltung nicht auch Gefahren bergen könnte, erscheint als offen. Bloße Unparteilichkeit scheint jedenfalls nicht auszureichen, sondern es scheint eine Parteilichkeit für den Rechtsstaat und die Prinzipien interpersonellen Respekts, die dem Rechtsstaatsgedanken fundamental zugrunde liegen, gefordert zu sein. Wiewohl alle Intoleranz einen negativen Aspekt hat, so kann sie doch notwendig sein, wenn sie plausibel als rechtsstaatlich domestizierte Intoleranz gegenüber Intoleranz gewertet werden darf.

Bis zum Beweis des Gegenteils werte ich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Ausdruck wohlverstandener Intoleranz gegenüber einer mit dem Mittel des Strafgesetzes geübten Intoleranz. So sollten die wahren Freunde der offenen Gesellschaft rechtlich agieren. Anscheinend gibt es ein paar von Ihnen mittlerweile an höchster Stelle. Da kann man nur mit Walter Kempowski sagen: Gut dem Dinge! Und hoffen, dass es der Anfang einer langen Freundschaft von Verfassungsgericht und offener Gesellschaft wird.

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