Gastbeitrag
Die große Flucht vom US-Arbeitsmarkt

Ein Mangel an Arbeitskräften lässt die Löhne in den USA stärker steigen. Hoffnungen auf eine Entspannung der Lage, wenn erst einmal die vielen in der Pandemie „verschwundenen“ Arbeitskräfte an den Markt zurückkehren, dürften sich nur zum Teil erfüllen. Damit wird der Druck auf die Fed steigen, auf dieses Umfeld zu reagieren, um die Inflationsrisiken unter Kontrolle zu halten. Wir erwarten ab Mitte 2022 Zinserhöhungen.

Viele Amerikaner wollen nicht mehr
Die mittelfristigen Aussichten für die US-Wirtschaft hängen zwar, wie überall sonst auf der Welt, stark vom weiteren Verlauf der Corona-Pandemie ab – und die neu aufgetretene Omikron-Variante des Virus sorgt für zusätzliche Ungewissheiten. In den letzten Monaten ist die Wirtschaft aber ganz gut mit der Pandemie fertiggeworden, der US-Arbeitsmarkt läuft rund.

Derzeit sind mehr als 10 Millionen Stellen unbesetzt, sodass rechnerisch auf jeden Arbeitslosen 1,36 offene Positionen entfallen. Gleichzeitig kündigen so viele Amerikaner wie noch nie ihre Jobs. Die Löhne steigen kräftig, insbesondere für die unteren Lohngruppen. Und dennoch lag die Zahl der Erwerbspersonen (Beschäftigte und Arbeitslose, d.h. aktiv Arbeit suchende Personen) im Oktober um 3 Millionen unter dem Vorkrisenwert vom Februar 2020 – und das, obwohl die Bevölkerung über 16 Jahren in dieser Zeit um 2,3 Millionen zugenommen hat. Die Partizipationsquote, also der Bevölkerungsanteil der Erwerbspersonen, lag zuletzt mit 61,6% immer noch deutlich unter den im Februar 2020 erreichten 63,3%, und seit Mitte 2020 hat es hier auch keinen Anstieg gegeben (Abbildung 1).

Wäre die Partizipation noch auf dem Wert vom Februar 2020, stünden dem Arbeitsmarkt 4,4 Millionen Erwerbspersonen mehr zur Verfügung. Aber warum halten sich so viele Amerikaner weiter vom Arbeitsmarkt fern, obwohl der coronabedingte Einbruch wirtschaftlich wieder aufgeholt wurde und es gute Beschäftigungsaussichten gibt? Ein genauerer Blick zeigt, dass hierfür mehrere Faktoren ausschlaggebend sind und dass keine allzu große Hoffnung auf eine baldige merkliche Entspannung der Lage besteht. Denn viele dieser Faktoren dürften dauerhaft sein.

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Demographischer Wandel drückt Partizipation …
Einer dieser langfristig wirkenden dämpfenden Faktoren für die Erwerbsbeteiligung ist die Alterung. So nimmt die Partizipationsquote schon immer mit zunehmendem Alter ab. Beispielsweise hat die Altergruppe von 25 bis 54 Jahren eine Partizipationsquote von rund 82%. Diese fällt bei den 55 bis 59-jährigen auf 72% und bei den 60- bis 64-jährigen auf 57%. Wenn der Bevölkerungsanteil der höheren Altersgruppen zunimmt, fällt somit die gesamte Partizipationsquote, auch wenn die Quoten in jeder Altersgruppe konstant bleiben. Dieser Effekt drückt derzeit angesichts der demographischen Entwicklung für sich genommen die Partizipationsquote jedes jahr um gut 1/4 Prozentpunkt und erklärt damit ein knappes Drittel des Rückgangs der Partizipationsquote (Abbildung 2).

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… aber das ist bei weitem nicht alles
Allerdings ist dieser Alterungseffekt bekannt und wird bei den üblichen Projektionen für das Erwerbspersonenpotenzial berücksichtigt. Trotzdem musste das Bureau of Labor Statistics (BLS), die mit der Arbeitsmarktstatistik befassten Behörde, ihre Projektionen seit Ausbruch der Pandemie mehrmals nach unten revidieren, und die nächste Revision steht wohl bald an. So gingen die Statistiker im Oktober 2020 noch davon aus, dass die Zahl der Erwerbspersonen von 163,5 Millionen 2019 auf 167,5 Millionen 2024 steigt. Diese Projektion hatte den „Coronaknick“ noch nicht berücksichtigt. Ein Jahr später – im Oktober 2021 – hat sich der Projektionspfad um durchschnittlich etwa 2,3 Millionen nach unten verschoben. Die dabei unterstellte Erholung der Zahl der Erwerbspersonen ist aber bisher ausgeblieben, sodass auch dieser Pfad gegenwärtig zu optimistisch erscheint (Abbildung 3). Folglich scheint es Strukturänderungen gegeben zu haben, die wohl nicht so leicht rückgängig zu machen sind.

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Drang in den Ruhestand?
Ein Teil des Rückgangs der Partizipationquote im Jahr 2020 ist darauf zurückzuführen, dass sich mehr Personen als üblich in den Ruhestand zurückgezogen haben. So hat die Dallas Fed in einer Studie festgestellt, dass der Anteil der im Ruhestand befindlichen Personen zu Beginn der Pandemie sprunghaft stieg und danach im üblichen Tempo weiter kletterte (Abbildung 4). Damit sind nach Schätzungen der Forscher 1,5 Mio Personen zusätzlich in den Ruhestand gewechselt. Ob sie nach der Pandemie wieder an den Arbeitsmarkt zurückkehren, hängt von vielen Faktoren ab wie der dann herrschenden Wirtschaftslage. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass Personen ihren Ruhestand aufgeben, normalerweise eher gering.

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Partizipation von „Prime Age“-Arbeitskräften auch niedrig,…
Darüberhinaus nehmen derzeit auch Personen im besten Erwerbsalter (das die Statistik zwischen 25 und 54 Jahren ansiedelt) in geringerem Umfang am Arbeitsleben teil als vor der Pandemie (Abbildung 5). Hieran hat auch der jüngste Anstieg nichts grundlegendes geändert.

Die Gründe für die geringere Beteiligung dieser so genannten „Prime Group“ sind nicht ganz klar. Bei den jüngeren Mitgliedern dieser Bevölkerungsgruppe könnten die Schwierigkeiten der Kinderbetreuung in Pandemiezeiten eine Rolle spielen und die Wiederaufnahme der Arbeit zumindest verzögern.

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… vielleicht wegen Corona?
Einige der die Partizipationsquote dämpfenden Faktoren wie die Pandemie sind sicherlich vorübergehender Natur. Man sollte aber selbst von einem baldigen Ende der Pandemie – das keineswegs sicher ist – keine allzu großen Auswirkungen auf das Arbeitsangebot erwarten. Darauf deutet zumindest die monatliche Haushaltsumfrage des BLS hin, die auch Grundlage für die Berechnung der Arbeitslosenquote ist. So fragt das BLS seit Mitte 2020 zusätzlich, ob jemand wegen der Pandemie keine Arbeit sucht. Dies traf im Oktober nur noch auf 1,3 Mio Personen zu (Abbildung 6). Zudem ist nicht sicher, dass diese Personen nach dem Ende der Pandemie tatsächlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen werden. Denn schon in den bisherigen Phasen, in denen die Pandemie abflaute, nahm die Zahl der Erwerbspersonen deutlich langsamer zu, als der Kreis derjenigen schrumpfte, die sich nach eigener Aussage wegen der Pandemie nicht um Arbeit bemühten.

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… stille Reserve bei Teilzeitkräften kaum noch vorhanden
Auch durch den Wechsel vieler Arbeitnehmer von Teilzeit auf Vollzeitstellen ist keine spürbare Entlastung des Arbeitsmarktes zu erwarten. Denn die Anzahl der Personen, die gerne Vollzeit arbeiten würden, aber nur einen Teilzeitarbeitsplatz gefunden haben, ist seit dem Hochpunkt im Frühjahr 2020 bereits deutlich gefallen. Zuletzt umfasste diese Gruppe nur noch gut 4 Mio Personen und damit nicht mehr als vor der Pandemie (Abbildung 7).

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Was heißt das für die Fed?
Die „Flucht“ der Amerikaner vom Arbeitsmarkt ändert das Kalkül der Fed. Lange Zeit sahen die Währungshüter kein Problem darin, ihre expansive Politik beizubehalten, bis auch die lange Zeit benachteiligten Bevölkerungsschichten integrieren werden konnten. Damit der Arbeitsmarkt dabei nicht zu heißläuft, war immer noch das Schmiermittel ausreichender Reserven erforderlich. Jetzt, da die Reserven offenbar stark verringert sind, läuft diese Politik Gefahr, dass sie Löhne und Inflation zu stark nach oben treibt. Zwar dürfte sich die Partizipation in den Altersgruppen von 25 bis 54 Jahren weiter erholen. Wie die Erfahrung der letzten Monate (und die Entwicklung nach der Krise von 2009) nahelegt, dürfte dies aber nur sehr langsam vonstattengehen und in den nächsten ein bis zwei Jahren nur für wenig Entlastung sorgen.

Die Fed muss daher ihren Fuß vom Gaspedal nehmen – und dies schneller als lange Zeit angenommen. Wir gehen daher davon aus, dass die Fed bereits Mitte 2022 erstmals die Leitzinsen erhöht und die Obergrenze des Zielkorridors für die Federal Funds bis Ende 2023 auf 2,0% nach oben schraubt.

Bernd Weidensteiner und Christoph Balz

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