Die EU will gegen die polnische Disziplinarkammer für Richter vorgehen. Zu diesem Zweck haben Rat und Parlament im Dezember 2020 die “Verordnung (EU)2020/2092 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union” beschlossen. Sie enthält “Regeln, die zum Schutz des Haushalts der Union im Falle von Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten erforderlich sind” (Art. 1). Zu derartigen Verstößen gehört nach Artikel 3 “die Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz”. “Geeignete Maßnahmen” sind zu ergreifen, “wenn gemäß Art. 6 festgestellt wird, dass Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen” (Art. 4, Abs.1). Zu den geeigneten Maßnahmen gehört “die Aussetzung von Zahlungen” (Art. 5). Aus Art. 6 geht hervor, dass der Rat die Rechtsstaatsverletzung mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission feststellen kann. Damit unterscheidet sich die Rechtsstaatsverordnung 2020/2092 hinsichtlich der Abstimmungsregel vom Rechtsstaatsartikel 7 im Vertrag über die Europäische Union (EUV), der den Rat ermächtigt, die Rechte – zum Beispiel die Stimmrechte – eines die Rechtsstaatlichkeit verletzenden Mitgliedsstaates auszusetzen. Die Aussetzung von Rechten nach Art. 7 EUV setzt Einstimmigkeit unter den anderen, d. h. den nicht beschuldigten Mitgliedstaaten voraus. Da die polnische Regierung von der ungarischen unterstützt wird, ist diese Einstimmigkeit nicht zu erreichen. Die Rechtsstaatsverordnung 2020/2092 ist also ein Versuch, das Einstimmigkeitserfordernis im EU-Vertrag zu umgehen.
Für EU-Verordnungen bedarf es einer Einzelermächtigung in den europäischen Verträgen. Die Verordnung 2020/2092 nennt als vertragliche Rechtsgrundlage Artikel 322 Absatz 1 Buchstabe a des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union” (AEUV). Dieser lautet wie folgt: “(1) Das Europäische Parlament und der Rat erlassen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnungen nach Anhörung des Rechnungshofs (a) die Haushaltsvorschriften, in denen insbesondere die Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans sowie die Rechnungslegung und Rechnungsprüfung im Einzelnen geregelt werden”. Es ist offensichtlich, dass die vertragschließenden Mitgliedstaaten bei dieser Formulierung an Einzelheiten des Haushaltsvollzugs und nicht an etwas so Fundamentales wie eine Verordnung gegen Rechtstaatsverletzungen gedacht haben. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die polnische Disziplinarkammer “unmittelbar die wirtschaftliche Führung des EU- Haushalts beeinträchtigen” wird. Auch wenn man die polnische Disziplinarkammer für hochproblematisch hält, ist diese Kompetenzüberschreitung nicht hinzunehmen. Sonst wird die EU alle irgendwo in den europäischen Verträgen genannten Ziele ohne Einzelermächtigung über “Haushaltsvorschriften” durchzusetzen versuchen. Am Beispiel einer Rechtsstaatsverletzung und gegen die verhasste polnische Regierung ließ sich diese neue Methode der Machterweiterung anscheinend besonders leicht einführen.
„Sonst wird die EU alle irgendwo in den europäischen Verträgen genannten Ziele ohne Einzelermächtigung über “Haushaltsvorschriften” durchzusetzen versuchen.“ Diese Aussage erscheint zu unbedingt, denn das wird kaum funktionieren, wenn es um Nettozahler geht, die bereit sind, eine solche Maßnahme durch einen Austritt zu beantworten.
Eine Klage gegen diese haarsträubende juristische Konstruktion ist am 16.02.2022 vom Gerichtshof der EU abgewiesen worden, wie er ja überhaupt bisher alle Ultra-Vires-Klagen (Klagen wegen Kompetenzüberschreitung) abgelehnt hat. Der Rechnungshof der EU wird also in Zukunft gemäß Art. 322 Abs. 1 Buchstabe a AEUV die Rechtsstaatlichkeit der Mitgliedstaaten prüfen müssen. Ist das die Aufgabe von Rechnungshöfen?