Wer Steuern erhebt, macht Politik. Aus staatspolitischer Sicht ist deshalb die Zuteilung der Steuerhoheit in einem Staat eine zentrale Frage. Steuerhoheit bedeutet ein sehr weitgehendes staatliches Eingriffsrecht in die freie Lebensplanung der Bürger. Natürlich zählt der Fiskus zu den ureigenen und unabdingbaren Aufgaben des modernen Staates – die Frage ist also nicht, ob er dieses Recht legitimerweise haben sollte oder nicht. Die Frage ist, wie er diese Eingriffsrechte vernünftigerweise regelt, ausgestaltet und praktiziert.
In den meisten modernen Nationalstaaten gilt das Motto des deutschen Ökonomen Wilhelm Röpke: «alles in einen Topf, alles aus einem Topf». Steuern werden zentral eingezogen und zentral verwaltet. Anders in der Schweiz. Hier liegt die Steuerhoheit zunächst einmal bei den Kantonen. Doch hat der Bund den Kantonen seit 1848 allmählich Kompetenzen abgetrotzt. Die steuerpolitische Praxis präsentiert sich über 150 Jahre nach Gründung des Bundesstaates zunehmend verworren. Die Kompetenzen der beiden Staatsebenen werden nicht mehr fein säuberlich getrennt, sondern verwischen sich. Und wo die Verantwortlichkeiten nicht mehr klar geregelt sind, erodieren sie.
Die Diagnose ist nicht neu: Für den Schweizer Finanzföderalismus hat der ehemalige Bundesrat Kaspar Villiger bereits im Jahre 2001 eine «Verschlammung» diagnostiziert. In der ökonomischen Literatur wird dieses Phänomen als Prozess der schleichenden Zentralisierung der Staatstätigkeit beschrieben; es wirkt die ausgeprägte Anziehungskraft des «zentralen Etats» mit zunehmenden Verbundfinanzierungen und Verbundaufgaben zwischen Bund und Kantonen. Zu nennen sind beispielsweise die Ergänzungsleistungen (1965), der regionale Personenverkehr (1996), die individuelle Prämienverbilligung (1996) oder der Bildungsartikel (2006). Die Kraft der für die Politik auf allen Staatsebenen verpflichtenden Steuerhoheit erodiert. Alle reden mit, niemand übernimmt Verantwortung, und der Bürger erhält am Ende die Rechnung.
Ein Blick in die Finanzgeschichte offenbart, dass das nicht immer so war. Nachdem die Aufgaben und Finanzkompetenzen zwischen Bund und Kantonen bei der Bundesstaatsgründung 1848 noch weitgehend getrennt waren, setzte spätestens ab 1914 ein Prozess der Zentralisierung der Kompetenzen ein. Es etablierte sich schleichend ein System des Vollzugsföderalismus, in dem die Kantone für den Vollzug der Bundesgesetze verantwortlich sind.
Entscheidend war insbesondere die erstmalige Einkommensbesteuerung auf Bundesebene ab 1915 (Kriegssteuer, heute: Bundessteuer) und deren Verstetigung als Provisorium ab 1941, die eine Abkehr vom steuerlichen Trennsystem hin zu einem Verbundsystem bedeutete. Der nüchterne Blick offenbart das gebildete Steuerkartell: Die Kantone geben Steuerkompetenzen ab und werden vom Bund an der Kartellrente mit einem Kantonsanteil an den Einnahmen abgegolten.
Der Zürcher FDP-Nationalrat und spätere Bundesrat Ernst Wetter wertete die Kantonsanteile an den Bundeseinnahmen 1938 in einer Nationalratsdebatte folgerichtig als Bestechungsgeld – und dies wörtlich, nicht metaphorisch: «Die steuerliche Zentralisation führt eine politische Zentralisation nach sich und untergräbt damit das Fundament unseres föderativen Staates. […]. So ist es auch bei uns gegangen: Der Bund brauchte neue Einnahmen, er brauchte neue Steuern. Die Kantone haben sich zuerst dagegen gesperrt, sie haben das Gefühl gehabt, jetzt greife man in etwas hinein, das ihnen gehört. Deshalb haben sie vom Bund eine Entschädigung verlangt. Sie haben gleichsam eine Verzichtsprovision für sich ausbedungen. Sie haben sich mit einem Anteil – entschuldigen Sie das Wort – bestechen lassen.» Klar ist heute: Die Kantone zahlen einen hohen Preis für die Schaffung dieser Verbundeinnahme: die schleichende Preisgabe ihrer Finanzautonomie.
Wie bei der Einführung der direkten Bundessteuer 1941 bedeutet nun aktuell auch die Einführung der OECD-Ergänzungssteuer eine finanzielle Schicksalsverbundenheit zwischen dem Bund und den Kantonen. Vergangene Erfahrung lehrt: Mit dem Anstieg der Bundeseinnahmen dürfte aus dieser Verbundenheit immer mehr eine Abhängigkeit werden.
Die Folgen werden zweierlei sein: Zum einen haben die Kantone keine Kompetenzen in der Gestaltung der Ergänzungssteuer und damit auch nicht bezüglich der Höhe ihrer Anteile. Zum andern hat der Bund aber auch einen direkten Einfluss auf den Steuerertrag der Kantone. Es war der Zürcher Finanzwissenschaftler Eugen Grossmann, der bereits 1951 auf die Auswirkungen der von beiden Staatsebenen genutzten Steuerbasis durch ein solches Verbundsystem hinwies. Er hielt nüchtern fest, dass «[…] das Vordringen des Bundes auf dieses Gebiet de facto zu einer starken Einschränkung der finanzpolitischen Bewegungsfreiheit der Kantone geführt hat.»
Durch die geteilten Finanzierungs- und Gesetzgebungskompetenzen geraten Bund und Kantone immer mehr in eine Politikverflechtungsfalle. Die Folgen dieser Verschlammung des Föderalismus sind politische Blockaden und Kompetenzstreitigkeiten.
Die Verschlammung trägt nicht nur zu einer Beschränkung des Handlungsspielraums der Kantone bei, sie ist auch für Ineffizienzen bei der Aufgabenerfüllung verantwortlich. Das Haftungsprinzip fordert nämlich nicht nur die ausschliessliche Zuweisung von Steuerquellen, sondern auch die Übereinstimmung des Kreises von Nutzniessern, Steuerzahlern und Entscheidungsträgern einer staatlichen Leistung. Schweizer Finanzwissenschafter wiesen regelmässig auf diesen Missstand hin. So war sich der Berner Jakob Steiger bereits 1916 sicher, dass die Kantone bei vielen Projekten: «[…] mit den kantonalen Mehrausgaben […] viel schärfer gerechnet [hätten] als unter dem System der Bundessubventionen».
Die Entwicklung blieb nicht unbemerkt. In der Schweiz wuchs der Widerstand gegen die schleichende Zentralisierung nach einem Ausbau der Bundesaufgaben in den 1960er-Jahren stark, und es wurde von verschiedener Seite eine Revitalisierung des Föderalismus gefordert. Dies führte nach mehreren weitgehend gescheiterten Anläufen zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA), die in der Volksabstimmung vom 28. November 2004 mit deutlicher Mehrheit angenommen wurde. Mit dieser Föderalismusrevision konnte der Finanzausgleich vereinfacht und von einigen Fehlanreizen befreit werden. Gleichzeitig wurden mehrere Verbundaufgaben getrennt und ausschliesslich einer Staatsebene zugewiesen.
Ist also alles gut? Leider nicht. Der Prozess der schleichenden Zentralisierung nach der NFA schreitet weiter voran. In den letzten beiden Jahrzehnten wurden laufend wieder neue Verbundfinanzierungen und Verbundaufgaben geschaffen. Und das «süsse Gift» der finanziellen Abhängigkeit der Kantone vom Bund nimmt parallel dazu ebenfalls zu.
Wir lernen also: Es gibt kein perfektes institutionelles Setting, das vor einer schleichenden Zentralisierung schützt. Es spielen hier eigene Dynamiken, die zum modernen Staat zu gehören scheinen. Es ist Aufgabe der Wissenschaft, diese Tendenzen zu beschreiben und zu begreifen. Und es ist Aufgabe der Politik, hier Gegensteuer zu geben – in Übereinstimmung mit der Verfassung der Eidgenossenschaft, wonach die Souveränität bei Volk und Kantonen liegt.
Ein vitaler Föderalismus braucht einen starken Bund und starke Kantone. Der Bund muss institutionell so stark sein, dass er den Subventions- und Transferbegehren der Kantone effektiv widerstehen kann. Die Kantone müssen institutionell so stark sein, dass der Bund nicht schleichend die Kontrolle über ihre Aufgabenerfüllung übernimmt. Deshalb sollte das Haftungsprinzip als zentrale politische Rahmenbedingung wieder handlungsleitend werden – den verführerischen Reflex, die Verantwortung durch Vergemeinschaftung der Kompetenzen abzuschieben, gilt es dagegen effektiv zu beschränken und zu bekämpfen. Jeden Tag aufs Neue.
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