Sanktionsversagen? Was nun?

Überall wird diskutiert, ob die westlichen Sanktionen der russischen Wirtschaft überhaupt schaden. Doch das ist die falsche Frage. Natürlich schaden sie der russischen Wirtschaft. Aber durch ihre Wirkungsweise spielen sie Putin auch in die Hände und stärken sein Regime. Das war zu erwarten: Schon viele autokratische Regierungen wurden vom Westen hart sanktioniert und haben dennoch lange überlebt, so etwa die Regime von Fidel Castro, Saddam Hussein, Bashar al-Assad, der Kim-Clan oder die iranischen Mullas. Warum ist das so und gäbe es bessere Alternativen?

Sanktionen versagen

Wirtschaftliche Sanktionen können die Wirtschaft des Ziellandes stark schwächen, falls ihnen das sanktionierte Land nicht leicht durch Ausweichhandel über Drittländer und Anpassungen der inländischen Produktion ausweichen kann. Doch selbst eine wirtschaftliche Schwächung heißt noch lange nicht, dass Sanktionen dem anvisierten Regime schaden. Vielmehr drohen sie gerade dann das Regime zu stabilisieren und seine Macht gegenüber der Bevölkerung zu mehren.

Sanktionen führen im sanktionierten Land zu einer Verknappung vieler Importgüter. Sie wirken dabei ähnlich wie Protektionismus. Dieser führt bekanntlich zu vielen Verlierern, aber eben auch zu bestimmten Gewinnern. Die Verknappung erlaubt dem Regime, die knappen Güter zu rationieren und mit deren gezielter Zuteilung Macht auszuüben. Die eigene Klientel kann bei der Rationierung bevorzugt bedient werden. Zugleich kann das Regime die Kontrolle über die inländischen Anbieter von Ersatzprodukten und so seine Macht weiter ausweiten. In Kuba und im Iran kontrollieren das Castro-Regime und die Revolutionsgarden große Teile der Produktion.

Indem Sanktionen den legalen Handel einschränken, fördern sie den Schmuggel. Diesen kann das Regime kontrollieren und die Gewinne abschöpfen. Noch einfacher ist die Umgehung der westlichen Sanktionen, wenn sich ihnen große Teile des Rests der Welt nicht anschließen. Dann fließen die Importe und Exporte über Drittländer, zumeist über vom Regime kontrollierte Kanäle. Auch der sanktionsbedingte Rückzug westlicher Unternehmungen spielt dem Regime in die Hände. Die westlichen Firmen verkaufen ihre Aktiva sehr günstig, weil es kaum Wettbewerb unter den Käufern gibt. Denn die Erlaubnis zum Kauf und günstige Kredite der Staatsbanken zu seiner Finanzierung erhalten zumeist nur Freunde des Regimes. Zugleich erschweren es die Finanzsanktionen den noch aktiven Oppositionellen, weiter tätig zu sein, weil Finanztransaktionen nun zwingend über regimenahe Kanäle gehen müssen.

Zwar trifft die sanktionsbedingte Wirtschaftskrise die Bürger hart. Aber gerade das begünstigt ein „rally around the flag“, bei dem sich die Bevölkerung hinter der Regierung schart. Die sanktionsbedingte Verarmung und das Abschneiden der freien Handelsbeziehungen machen die Bürger vom Regime abhängiger und lähmen ihre Anreize, gegen das Regime aufzubegehren. Sie wissen, dass auf ein autokratisches Regime selten eine demokratische, bürgerorientierte Regierung folgt, und dass ein Machtvakuum mit drohendem Bürgerkrieg für sie oft noch fataler als das bisherige Regime ist.

Was kümmert es das Regime?

Aufgrund dieser Mechanismen lernen Regime nicht nur mit Sanktionen zu leben, sondern sie sogar zu lieben. Das Land verarmt, aber was kümmert das das Regime? Die Sanktionen helfen ihm, seine Macht zu erhalten. So scheint es auch im Falle von Russland zu sein.

Gleichwohl können Sanktionen für den Westen sinnvoll sein, wenn sie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des sanktionierten Landes so stark senken, dass längerfristig auch das militärische Potential des Regimes sinkt. Nach vielen Sanktionsjahren kann dann das Regime militärisch einfacher bezwungen werden. Das galt im Falle von Milosevic in Serbien und Hussein in Irak. Doch bei der Atommacht Russlands erscheint ein militärisches Vorgehen auch längerfristig nicht besonders realistisch. Außerdem kann diese Strategie leicht schiefgehen: Wenn das Regime fürchtet, dass die Sanktionen längerfristig sein militärisches Potential schwächen, muss es seine militärischen Ziele möglichst vorher zu erreichen versuchen.

Bessere Alternativen

Wenn Sanktionen nicht funktionieren, was dann? Ein Ansatz ist, das Regime – nicht das Land – aktiv zu destabilisieren. Dazu bieten sich zwei konkrete Wege an.

Mutmaßlichen Tätern könnte die Möglichkeit geboten werden, sich vom Regime loszusagen, ins Ausland abzusetzen und wichtige Informationen über das Handeln des Regimes preiszugeben, die in Rechtsverfahren vor internationalen Gerichten zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Verurteilung der Schuldigen beitragen. Um die richtigen Anreize zur Mitwirkung zu setzen, müssten ihre Strafen bei Preisgabe wichtiger Informationen gemindert werden und sie müssten einen Bruchteil des von ihnen angehäuften Reichtums legalisieren können, um ein neues Leben zu beginnen. Diese Strategie entspricht einer Kronzeugenregelung, wie sie im Kampf gegen das organisierte Verbrechen und die Mafia erfolgreich ist. Sie könnte auch gegen mafiöse Regime wie jenes in Russland gut wirken. Sie wird mit der Zunahme der Verbrechen, die durch das Regime begangen werden, immer wichtiger.

Die Emigration für das Regime besonders systemrelevanter Personen kann aktiv gefördert werden. Der Handlungsspielraum russischer Forscher oder IT-Spezialisten und Teile der Intelligenzija ganz allgemein sollte daher fruchtbar erweitert werden, sodass sie sich einfacher vom Regime lossagen können. Ihnen soll die Möglichkeit gegeben werden, mit ihren Füßen gegen den Kreml zu stimmen. Es ist für Autokraten und ihre Entourage zentral, dass die talentiertesten Köpfe keine attraktiven Alternativen zum Regime haben. Sobald glaubwürdige Auswanderungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, werden diese auch genutzt. Eine echte Exit-Alternative fördert auch den Mut zur Kritik im Inland. Zur Not kann man eben auswandern. Einer speziellen Gruppe potenzieller russischer Auswanderer könnte ein besonderes Angebot gemacht werden. So wäre aktiven russischen Offizieren die Option zu eröffnen, sofort im Westen eine neue Existenz aufzubauen. Ihre Auswanderung und die damit verbundene Waffenniederlegung könnte mit dem Angebot eines Ausbildungsplatzes und der Zahlung eines „Entwaffnungsgeldes“ von beispielsweise einem russischen Jahresgehalt unterstützt werden. Selbst wenn alle aktiven russischen Offiziere kommen würden, wären die Kosten mit einmalig rund drei Milliarden Dollar sehr überschaubar.

Königsweg: Kosten-Nutzen-Abwägung

Der Königsweg ist jedoch die Selbststärkung des Westens bei gleichzeitiger Schwächung des russischen Regimes. Dazu ist eine rationale Kosten-Nutzen-Abwägung notwendig. Derzeit kosten die Sanktionen gegen Russland und die russischen Gegensanktionen die westlichen Wirtschaften wohl mehrere Prozentpunkte der gesamtwirtschaftlichen Leistung. Bei Verzicht auf Sanktionen wäre die Wirtschaftsleistung deutlich höher. Entsprechend könnte der Westen einen Teil der nicht verlorenen Wirtschaftsleistung für Militärhilfe an die Ukraine und vor allem für die eigene Aufrüstung einsetzen. Wenn die Sanktionen die Wirtschaftsleistung des Westens um zwei Prozent reduzieren, entspricht das für die EU, USA, Großbritannien und Kanada zusammen rund einem jährlichen Verlust von 800 Milliarden Dollar. Wenn davon je ein Zehntel in weitere Militärhilfe an die Ukraine und die Aufrüstung des Westens gesteckt würde, überträfen allein diese Zusatzausgaben die russischen Rüstungsausgaben jeweils deutlich. Das Regime Putins würde dadurch wohl wesentlich wirkungsvoller in Schach gehalten als durch Sanktionen.

Dieses Vorgehen der Selbststärkung ist zudem nicht nur gegen die aktuelle russische Bedrohung sinnvoll, sondern erst recht in Anbetracht der allgemeinen Weltlage. Der Westen braucht nicht eine Maßnahme wie Sanktionen, deren Nutzen fragwürdig ist, deren Kosten sicher groß sind und die wegen der beschränkten wirtschaftlichen Kapazitäten kaum wiederholt eingesetzt werden kann. Vielmehr braucht der Westen eine allgemeine Erhöhung seiner Abschreckungskraft – ansonsten kommen bald neue Attacken von bekannten und noch unbekannten Gegnern.

Blog-Beiträge zum Thema:

Norbert Berthold (JMU, Juni 2022): Totales Energie-Embargo oder russischer Vasallenstaat? Ein Plädoyer für massive Militär(sofort)hilfe an die Ukraine

Erfolgreiche Wirtschaftssanktionen zu einem hohen Preis?

Norbert Berthold (JMU, Februar 2022): Die Politik wirtschaftlicher Sanktionen. Ökonomisch kostspielig, politisch ineffizient?

Reiner Eichenberger und David Stadelmann
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Eine Antwort auf „Sanktionsversagen? Was nun?“

  1. „Eine adäquate Antwort auf die russische Aggression ist massive militärische Hilfe, schnell, effizient und modern. Das vorrangige Ziel ist, die Ukraine unverzüglich in die Lage zu versetzen, dem russischen Angriff erfolgreich Einhalt zu gebieten. Beim Einsatz der Mittel ist zweierlei zu beachten: Erstens muss das Assignment-Problem gelöst werden. Die Instrumente sollten Vorrang haben, die zu den besten Ergebnissen führen. Fakt ist: Kriege gewinnt man mit Waffen, nicht mit Sanktionen. Militärische Hilfe für die Ukraine muss ganz oben auf der Agenda stehen. Alles andere ist „Handelsklasse C“. Zweitens sollte man das Tinbergen-Theorem beachten, um zu verstehen, warum Sanktionen militärisch eher wenig bewirken. Instrumente können nur effizient eingesetzt werden, wenn für jedes Ziel ein unabhängiges Mittel eingesetzt wird. Wirtschaftliche Sanktionen können helfen, die internationale Arbeitsteilung zu blockieren. Sie haben aber militärische Defizite. Waffenlieferungen sind demgegenüber geeignet, militärische Ziele zu erreichen. Es ist wenig effizient, mit wirtschaftlichen Sanktionen die russische Wirtschaft zu schädigen und ernsthaft zu glauben, damit den Krieg schneller siegreich für die Ukraine beenden zu können.“
    http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=31085

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