„Die westlichen Sanktionen gegen Russland lähmen das Land nicht unmittelbar. Aber sie wirken wie ein schleichendes Gift.“ (Holger Schmieding)
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dauert schon über ein Jahr. Ein Ende ist nicht in Sicht. Seit Anfang des Winters herrscht ein mörderischer Stellungskrieg. Russische Raketen und Drohnen ermorden Menschen, zerstören Unterkünfte und Unternehmen. Und sie legen die kritische Infrastruktur der Ukraine in Schutt und Asche. Das verbrecherische russische Treiben lässt sich nur stoppen, wenn es gelingt, Russland zu schwächen und die Ukraine zu stärken, wirtschaftlich und militärisch. Wirtschaftliche Sanktionen sind ein Mittel. Der Westen setzt darauf seit Beginn des Krieges. Die EU hat schon das 10. Sanktionspaket verabschiedet. Wirklich beeindruckt haben die Sanktionspakete die russische Wirtschaft allerdings bisher nicht. Sie ist erstaunlich resilient. Der Zusammenbruch bleibt aus, bisher. Die wirtschaftliche Basis des Krieges scheint weiter intakt. Ist diese Resilienz nachhaltig oder künstlich? Wenn es nicht gelingt, die russische wirtschaftliche Basis schnell nachhaltig zu schwächen, muss der Westen alles tun, die Ukraine zu stärken, wirtschaftlich und militärisch. Die militärische Nothilfe für die Ukraine muss erhöht werden. Tatsächlich scheint die Militärhilfe des Westens endlich in Gang zu kommen. Die Hilfe der Länder fällt allerdings ganz unterschiedlich aus (hier). Massive westliche Hilfe ist aber auch notwendig, um die finanzielle und humanitäre Stabilität der Ukraine aufrecht zu erhalten. Nur eine stabile Ukraine und ein geschwächtes Russland erhöhen die Chancen auf Friedensverhandlungen.
Umfassende Sanktionspakete
Die Drohungen waren drastisch, die Reaktion erfolgte prompt. Als Russland im Winter 2021/2022 seine Truppen an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren ließ, drohte der Westen mit Sanktionen, wie sie Russland noch nie gesehen habe (Joe Biden). Wirklich beeindruckt hat das Putin aber nicht. Er griff die Ukraine trotzdem an. Auf den russischen Überfall reagierte der Westen prompt und geschlossen. Die wirtschaftlichen Sanktionen, die noch seit der russischen Krim-Annexion 2014 zumindest formell in Kraft waren, wurden nach dem Einmarsch immer wieder verschärft (hier). Der Westen beschränkt inzwischen den Handel mit Gütern und Diensten, sanktioniert Transaktionen auf den Finanzmärkten, friert russisches Vermögen ein, verweigert der russischen Nationalbank den Zugriff auf ihre mehr als 300 Mrd. Dollar schweren Devisenreserven und legt „schwarze“ Listen für Personen und Unternehmen an. Russische Banken wurden vom SWIFT-System ausgeschlossen, über 70 % der russischen Finanzakteure von den Kapitalmärkten abgeschnitten, ein Importverbot für russische Kohle beschlossen, eine Ölpreisobergrenze verhängt, ein partielles (Schiffs)Ölembargo eingeführt und der russische Zugang zu wichtigen Schlüsseltechnologien beschränkt. Im letzten, dem 10. Sanktionspaket einigten sich die Länder auch auf Sanktionen für Drittstaaten. Immer wieder verstärkt wurden die Ausfuhrbeschränkungen für Güter mit „doppeltem“ Verwendungszweck (hier).
Der Westen hat von Anfang an klargemacht, dass ein direktes militärisches Eingreifen – keine „boots on the ground“ und keine NATO-Flugzeuge im ukrainischen Luftraum – in der Ukraine nicht in Frage komme: Militärische Hilfe ja, eigene Truppen nein. Wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland sind ein (unvollkommenerer aber humanerer) Einsatz für (eskalierende) kriegerische Eingriffe der NATO. Mit wirtschaftlichen Sanktionen will man Russland wirtschaftlich in die Knie zwingen und es bewegen, den Krieg mangels ökonomischer Masse möglichst schnell zu beenden. Sanktionen sollen über zwei Kanäle wirken: Hohe wirtschaftliche Schäden und Unfinanzierbarkeit von Kriegen. Mit wirtschaftlichen Sanktionen schränkt der Westen die internationale Arbeitsteilung mit Russland ein. Die wirtschaftlichen Vorteile aus dem Handel, den Kapitalbewegungen und der Mobilität werden geschrumpft. Der Westen schädigt damit nicht nur Russland. Auch er selbst kommt nicht ungeschoren davon. Die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung, von der alle profitieren, kehren sich um: Alle verlieren. Ob Sanktionen erfolgreich sind, hängt aber nicht nur davon ab, ob Russland möglichst schnell wirtschaftlich in die Knie geht. Das scheint alles andere als selbstverständlich. Der Erfolg wird auch daran gemessen, wie schnell der wirtschaftliche Niedergang politische und militärische Veränderungen in Russland auslösen. Die Erfahrungen der Vergangenheit machen skeptisch (hier). Der militärische Erfolg von Sanktionen ist eher bescheiden.
Resilientes Russland?
Die Sanktionspakte 2022 wurden schnell geschnürt, gut koordiniert und sie sind breit angelegt. Große westliche Unternehmen verließen Russland, der Technologietransfers nach Russland stoppte, qualifizierte (russische) Arbeitskräfte wanderten ab. Das verstärkte die Wirkung der Sanktionspakete. Für viele Ökonomen war klar, die Sanktionen würden Russland ruinieren. Die Wirtschaft würde wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Russland sei wirtschaftlich ein Scheinriese. Davon waren auch seriöse Institutionen überzeugt. Die Weltbank prognostizierte, dass die russische Wirtschaft noch im Jahr 2022 um 10 % schrumpfen würde. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung war der Meinung, das russische Sozialprodukt würde sogar um 11,7% sinken. Die Meinung war auch unter Ökonomen weit verbreitet, dass der russische Rubel drastisch abwerten und die Arbeitslosigkeit stark ansteigen würde. Soziale Unruhen würden Russland wirtschaftlich den Rest geben. Die Macht des Putin-Clans würde erodieren. Der Krieg mangels Geld schnell ein Ende finden. Die Zahlen sagen allerdings etwas anderes, zumindest bisher. Der Internationale Währungsfonds ermittelte, dass die russische Wirtschaft im vergangenen Jahr lediglich um 2,1 % schrumpfte. Für 2023 wird ein Wachstum von 0,3 % prognostiziert. Von der befürchteten Rubel-Schwäche ist wenig geblieben. Der Rubel hat sich nach einem Einbruch im März wieder erholt. Die Arbeitslosigkeit blieb stabil. Von sozialen und politischen Unruhen ist nichts zu sehen, noch nicht.
Die Zahlen deuten darauf hin, dass die russische Wirtschaft im Jahr nach dem Kriegsbeginn weniger schrumpfte als angenommen. Das gilt trotz aller Datenprobleme und russischer Propaganda mit geschönten Daten. Mindestens viererlei könnte mit dazu beigetragen haben, die Resilienz der russischen Wirtschaft zu unterschätzen: Löchrige Sanktionen, explodierende Preise für fossile Brennstoffe, weltweite Umgehungen und eine clevere russische Wirtschaftspolitik (hier; hier). Die westlichen Sanktionen sind alles andere als wasserdicht. Vor allem der Energie-Sektor wurde zunächst größtenteils nicht sanktioniert. Die EU war von fossilen Brennstoffen aus Russland abhängig, manche Länder mehr, manche weniger. Russland nutzte den Gashahn als Waffe. Die Öl-Sanktionen begannen erst Ende 2022 zu greifen. Der Ölpreis-Deckel lässt weiter Ausnahmen zu. Explodierende Preise für Öl und Gas überkompensierten bis in den Herbst 2022 Russland für die rückläufigen Mengen. An Einnahmen aus fossiler Energie mangelte es dem Kreml trotz Preisrabatten nicht. Daneben werden die Sanktionen des Westens großflächig umgangen. Der größte Teil der Staaten hat bis heute Russland nicht verurteilt und hat kein Interesse an Sanktionen. Einige Länder, wie China, Indien und die Türkei leisten lukrative Beihilfe zur Umgehung der westlichen Sanktionen. Schließlich verfolgte Russland eine clevere Wirtschaftspolitik. Es spannte fiskalische Rettungsschirme auf und stabilisierte den Kurs des Rubels durch eine restriktive Geldpolitik und Kapitalverkehrskontrollen.
Dreht der Wind?
Es spricht allerdings einiges dafür, dass die Resilienz der russischen Wirtschaft im Jahr 2022 künstlich und nicht nachhaltig war. Unter Ökonomen dominiert die Meinung, wirtschaftliche Sanktionen zeigen zwar kurzfristig wenig Wirkung, längerfristig wirken sie aber sehr wohl spürbar. Nun scheint sich aber auch schon Anfang 2023 der Wind zu drehen. Die wirtschaftlichen Daten aus 2022 scheinen über den Ernst der wirtschaftlichen Lage in Russland zu täuschen. Die westlichen Sanktionen wirken schon. Darauf deutet die veränderte Struktur der Handelsbeziehungen hin. Russland lebt ganz wesentlich vom Export fossiler Brennstoffe, Öl und Gas. Der Wert dieser Exporte hat sich sowohl wert- als auch mengenmäßig seit dem Beginn des Krieges verringert. Er hielt sich zwar noch bis zum Sommer 2022 wegen explodierender Preise für Öl und Gas einigermaßen stabil. Und dies, obwohl etwa russisches Erdöl seit Kriegsausbruch weltweit mit einem Abschlag gehandelt wird. Ab Herbst 2022 brach der Exportwert allerdings ein. Der Grund lag in weltweit sinkenden Preisen für fossile Brennstoffe. Dabei konnte der wertmäßige Rückgang der Exporte in die EU nicht durch chinesische, indische und türkische Importe ausgeglichen werden. Der Rückgang in den Mengen exportierter fossiler Brennstoffe fiel weniger drastisch aus. Die fehlenden Mengen der EU konnten besser durch russische Exporte nach China, Indien und die Türkei ausgeglichen werden.
Der spürbare Einbruch in den russischen Einnahmen aus fossilen Brennstoffen bleibt nicht ohne Folgen, weder finanziell noch militärisch. Es wird dem Kreml schwerer fallen, den kostspieligen Krieg in der Ukraine durch die westlichen Importeure fossiler Brennstoffe aus Russland finanzieren zu lassen. Vor einer Illusion sei allerdings gewarnt: Weder kurz- noch mittelfristig wird es zu gravierenden Engpässen in der Finanzierung des Krieges kommen. Die staatliche Verschuldung ist mit etwa 20 % des BIP weiter relativ gering. Internationale Kapitalmärkte können allerdings auf absehbare Zeit nicht mehr angezapft werden. Auch die russische Geldpolitik hat ihr Potential noch nicht ausgeschöpft. Mit der monetären Staatsfinanzierung wächst allerdings die Gefahr inflationärer Entwicklungen. Sie nimmt mit der Dauer des Krieges zu. Die russische Kriegsführung wird sie allerdings kurz- und mittelfristig nicht beeinträchtigen. Das ist die schlechte Nachricht für die Ukraine. Längerfristig schädigt sich aber Russland durch den Ukraine-Krieg massiv selbst. Mit dem Krieg wächst die effizienzverschlingende Kriegswirtschaft, die produktivitätssteigernde Privatwirtschaft leidet. Das Land wird mit den westlichen Sanktionen ein Stück aus der internationalen Arbeitsteilung ausgebootet. Der Handel wird eingeschränkt, ausländische Direktinvestitionen werden weiter schrumpfen, der Technologietransfer nachhaltig behindert, qualifizierte junge russische Fachkräfte werden das Land in Scharen verlassen. Die fossile Transformation des Westens tut ein Übriges. Das alles wirkt wie ein schleichendes Gift für den Wohlstand.
Mission impossible?
Die Sanktionen gegen Russland wirken. Aber es sind zu wenige, sie sind zu schwach und sie wirken zu langsam. Noch weiter zu eskalieren, etwa mit sekundäre Sanktionen, wäre zwar eine Option. Aber eine solche Strategie hat ihre Tücken. Härtere Sanktionen gegen Russland sind auch für uns kostspielig. Der politische Widerstand hierzulande gegen eskalierende Sanktionen wächst. Es ist dennoch möglich, Russland wirtschaftlich zu schwächen und unsere Kosten zu minimieren. Die klimapolitische Transformation macht es möglich. Ein forcierter neuer Energie-Mix, der auf Erneuerbare Energien, Atomkraft, Fracking, Wasserstoffallianzen setzt, wäre so ein Weg. Russland würde auf den schier unermesslichen fossilen Ressourcen sitzen bleiben. Und wir kämen unsere eigenen klimapolitischen Zielen näher. Diese Strategie wirkt allerdings eher übermorgen als morgen. Eine Eskalation der Sanktionen hätte weitere Nebenwirkungen. Viele Länder, die sich bisher neutral verhalten oder gegen Russland positioniert haben, werden gegen den Westen aufgebracht. Der „globale Süden“ würde sich dem neuen chinesischen-russischen Block anschließen. Das kann nicht im Interesse des Westens sein. Damit gerät aber die Ukraine in eine verzweifelte Situation. Deren Menschen und ihr Staat können nur überleben, wenn Russland militärisch nachhaltig die Grenzen aufgezeigt werden, möglichst heute und nicht erst morgen. Der Weg über wirtschaftliche Sanktionen ist zu ineffizient und langwierig. Den überlebt die Ukraine und viele ihrer Bürger nicht.
Der Westen darf nicht nachlassen, die Ukraine zu unterstützen. Neben finanzieller und humanitärer Hilfe ist mehr militärische Hilfe unerlässlich. Erst sie garantiert ein Überleben der Menschen der Ukraine in einem eigenen Staat. Nur auf einer solideren militärischen Basis können wirtschaftliche Sanktionen ihre Ziele erreichen, die russischen finanziellen Möglichkeiten schrumpfen, die militärische Kraft der russischen Armee erodieren und die Chancen auf Friedensverhandlungen erhöhen. Es gilt, im westlichen Widerstand – wirtschaftliche Sanktionen und (militärische) Hilfe für die Ukraine – gegen Russland nicht nachzulassen. Die Forderung nach einem Stopp der Militärhilfe an die Ukraine ist Unfug. Wer in der Ukraine die Oberhand gewinnt, hängt letztlich davon ab, wer stabiler ist, die westliche Sanktionsallianz einerseits oder das Regime in Russland andererseits. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass die westliche Sanktionsallianz nach und nach zerbröselt. Nationale Interessen können gemeinsames Handeln erodieren. Das spricht dafür, die Anstrengungen möglichst schnell zu erhöhen. Es wäre aber auch hilfreich, wenn es gelänge, das russische Regime zu destabilisieren. Wie das geschehen könnte, ist allerdings unklar. Militärische Hilfe für die Ukraine und harte Sanktionen gegen Russland sind das wichtigste. Reiner Eichenberger und David Stadelmann haben einige Vorschläge gemacht (hier), wie es daneben möglich sein könnte, das System Putin weiter zu destabilisieren.
Fazit
Auf den russischen Überfall auf die Ukraine reagierte der Westen mit wirtschaftlichen Sanktionen. Es erstaunte wie schnell und homogen die Länder handelten. Sie haben die Sanktionen im Verlauf des Krieges immer weiter verschärft. Das war nach der völkerrechtswidrigen russischen Annektion der Krim im Jahr 2014 anders. Damals agierte der Westen halbherzig, eher symbolisch, allenfalls mit Nadelstichen. Der Gipfel der Heuchelei: Die deutsche Politik trieb Nord-Stream voran. Das scheint dieses Mal anders. Gerade hat die EU das 10. Sanktionspaket auf den Weg gebracht. Gewirkt haben sie allerdings bisher allesamt noch nicht wie erhofft. Die russische Wirtschaft ist resilienter als erwartet. Einen spürbaren Einfluss auf die russische Kriegsführung hatten die Sanktionen bisher nicht. Sind sie deshalb wirkungslos? Keinesfalls! Sie sind eher ein schleichendes Gift für die russische Wirtschaft. Bis es allerdings die russische Wirtschaft lähmt und die Putin’s Kriegsführung beeinflusst, ist die Ukraine tot, wenn ihr nicht wirksam militärisch geholfen wird. Für die westliche Strategie muss gelten: First things first. Es reicht nicht, Russland wirtschaftlich zu sanktionieren. Die Ukraine muss überleben. Das gelingt nur militärisch. Weitere massive Militärhilfe ist unverzichtbar. Es geht darum, die verbrecherischen russischen Angriffe auf die Zivilbevölkerung, kritische Infrastruktur, Unterkünfte, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und Kirchen zu unterbinden. Und die Ukraine muss militärisch in die Lage versetzt werden, den russischen Agressor aus der Ukraine zu vertreiben. Nur dann werden Friedensverhandlungen möglich. Westliche Sanktionen sind nicht der Game-Changer. Sie können aber nach und nach helfen, diesen Prozess zu beschleunigen und Russland für lange Zeit wirtschaftlich und politisch aus dem internationalen Spiel zu nehmen.
Blog-Beiträge zum Thema:
Norbert Berthold (2022): Die Politik wirtschaftlicher Sanktionen. Ökonomisch kostspielig, politisch ineffizient?
Reiner Eichenberger und David Stadelmann (2023): Wie Sanktionen sanktionierte Regime stärken können
- De-Industrialisierung nimmt Fahrt auf
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Wie könnte das Blutvergiessen in der Ukraine enden?
Waffen bewirken mehr als westliches Wunschdenken
von Peter Rásonyi (NZZ)
Der Westen hofft auf ein Ende des Blutvergiessens in der Ukraine. Doch mit Kotaus vor Peking und Rücksicht auf Moskau wird der Frieden nicht kommen. Vielmehr braucht es noch mehr Unterstützung für Kiew und eine rasche Aufrüstung des Westens, um eine Waffenruhe zu ermöglichen.
https://www.nzz.ch/meinung/ukraine-krieg-trotz-offensive-braucht-es-mehr-westliche-waffen-ld.1736484