Gastbeitrag
Wie stark ist die unterliegende Inflation?
Das Ende des Zinserhöhungszyklus ist nah

Der für die kommenden Monate allgemein erwartete Rückgang der Inflationsrate reicht vielen EZB-Ratsmitgliedern für ein Ende des Zinserhöhungszyklus nicht aus, wenn er nur auf eine geringere Teuerung bei einzelnen Gütern wie Energie zurückzuführen ist. Vielmehr müsse auch der unterliegende Preisdruck nachlassen. Ein Blick auf die von den Notenbankern diskutierten Maße für diese „unterliegende Inflation“ zeigt, dass von ihnen bisher die Mehrheit kein Nachlassen des Inflationsdrucks anzeigen. Allerdings werden die Tauben im EZB-Rat in den kommenden Monaten alle Signale einer sich abflachenden Inflation nutzen, um den Zinserhöhungszyklus in absehbarer Zeit zu beenden.

Achtet auf die unterliegende Inflation!

Die Inflationsrate im Euroraum ist seit Oktober von 10,6% auf 6,9% gefallen, und im weiteren Jahresverlauf ist mit einem weiteren spürbaren Rückgang zu rechnen. Zum Ende des Jahres könnte sie bereits wieder unter 3% liegen. Allerdings ist der bisherige Rückgang alleine auf einen geringeren Anstieg der Energiepreise zurückzuführen, die vorher stark zugelegt hatten. Viele andere Preise sind zuletzt sogar stärker gestiegen. Der Kampf gegen die Inflation ist also noch lange nicht gewonnen.

Dessen ist sich auch die EZB bewusst. Daher argumentieren viele Ratsmitglieder, dass der Zinserhöhungszyklus erst enden kann, wenn die unterliegende Inflation zu fallen beginnt. Allerdings gibt es für deren Messung eine ganze Reihe von Methoden, die EZB-Ratsmitglieder zuletzt auch in ihren Reden immer wieder herangezogen haben.[1]

Vier von sieben Indikatoren deuten auf noch steigenden Inflationsdruck, …

Diese Maße für die unterliegende Inflation sollen die kurzfristigen Schwankungen aus der Gesamtinflation herausfiltern, um den unterliegenden Trend der Teuerung zu erfassen. Allerdings kommen sie dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen. So weisen von den im Folgenden vorgestellten sieben Indikatoren vier nach wie vor nach oben, lassen also kein Nachlassen der unterliegenden Teuerung erkennen:

  • Der am häufigsten verwendete Indikator ist die Kerninflationsrate, die die volatilen Energie- und Nahrungsmittelpreise ausblendet. Sie ist im Februar auf 5,6% gestiegen und hat damit die Erwartungen der Volkswirte (Konsens: 5,2%) merklich übertroffen, im März ist die Kerninflation weiter auf 5,7% geklettert (Abbildung 1). Einen ähnlichen Anstieg verzeichnete zuletzt die Kern-Kerninflationsrate, die zusätzlich die saisonal stark schwankenden Preise von Reise-Dienstleistungen sowie der Warengruppen Bekleidung und Schuhe außen vor lässt. Wegen der jährlichen Verschiebung von Feiertagen und Schulferien sorgen Preisänderungen bei Pauschalreisen regelmäßig für spürbare Ausschläge der Vorjahresrate. Ähnliches gilt für die Preise von Bekleidung, wenn sich Frühjahrs- und Winterschlussverkäufe zeitlich verschieben.
  • Auch der gewichtete Median und der bereinigte Mittelwert signalisieren derzeit noch kein Ende des hohen unterliegenden Inflationsdrucks. Anders als bei der (Kern-)Kerninflation werden beim bereinigten Mittelwert nicht einzelne Güter(-gruppen) per se ausgeklammert, sondern nur einmalige starke Preisschwankungen über einem bestimmten Schwellenwert werden herausgerechnet – und zwar selbst bei Gütern, deren Preise normalerweise keine außergewöhnlichen Ausschläge zeigen. Bei der Ermittlung des Medians werden die Vorjahresraten der knapp 100 Gütergruppen des Preisindex der Größe nach geordnet; der Median (Zentralwert) entspricht dann dem Wert, der genau in der Mitte dieser Datenreihe liegt. Mit anderen Worten liegt die eine Hälfte der Daten unterhalb und die andere Hälfte oberhalb des Medians. Daher spielen extreme Inflationswerte nur eine untergeordnete Rolle. Der von der EZB betrachtete gewichtete Median unterschiedet sich von einem „normalen“ Median dadurch, dass (mit Blick auf die Anzahl der Vorjahresraten) nicht gleichviele Werte ober- und unterhalb des Medians liegen, sondern dass die Gütergruppen ober- und unterhalb des Medians das gleiche Gewicht im Wägungsschema des Preisindex, also die gleichen Ausgabenanteile der Konsumenten aufweisen. Beide Methoden sorgen zwar für einen etwas ruhigeren Verlauf der Datenreihen. Der Öffentlichkeit sind sie allerdings weniger leicht zu vermitteln, da von Monat zu Monat andere Güter aus der Berechnung ausgeschlossen werden.

… die drei anderen sind optimistischer

Die drei weiteren Indikatoren für die unterliegende Inflation signalisieren hingegen einen geringeren oder zumindest konstanten Preisauftrieb:

  • Dem Superkern zufolge ist die unterliegende Inflation weiterhin stark, hat sich aber zuletzt zumindest nicht weiter beschleunigt (Abbildung 2). Bei diesem modellbasierten Indikator werden aus den Preisen der einzelnen Gütergruppen (ohne Energie und Nahrungsmittel) stetige Komponenten gefiltert. Berücksichtigt werden dabei alle Güterpreise, die sich mit dem Konjunkturzyklus bewegen, also auf eine Veränderung der Output-Lücke reagieren.
  • Deutlich nachgelassen hat die unterliegende Teuerung in den vergangenen Monaten nur auf Basis der PCCI (Persistent Common Component of the Inflation). Dieser Indikator wird mit Hilfe komplexer statistischer Verfahren berechnet und versucht, die gemeinsame und persistente Komponente der Inflationsraten der Euro-Länder sowie der einzelnen Güter(-gruppen) zu erfassen, sozusagen die gemeinsamen unterliegenden Preisströmungen. Auch der PCCIX, der nur auf die Güter ohne Energie und Nahrungsmittel abstellt, tendiert seit einigen Monaten leicht abwärts und deutet damit auf eine allmähliche Abschwächung des Inflationsdrucks. Der Vorteil des Superkerns sowie der beiden PCCI-Maße ist, dass diese weniger schwanken. Allerdings sind sie angesichts ihrer komplexen Berechnungsverfahren der Öffentlichkeit nur schwer zu erklären, zumal sie revisionsanfällig sind.

Alle sieben Indikatoren weisen einer vergleichenden Studie zufolge gewisse Vorlaufeigenschaften auf. Allerdings variieren diese über die Zeit, sodass kein einziger Indikator mit seinen Fähigkeiten besticht. Die Studie kommt daher zu dem Ergebnis, dass es sinnvoll ist, sämtliche dieser Maße im Auge zu behalten.

Die Dynamik bei nicht-energetischen Industriegütern ist ungebrochen

Darüber hinaus stellen etliche EZB-Ratsmitglieder auf kurzfristigere Veränderungen der Preisindizes ab, um deren Dynamik am aktuellen Rand einzuschätzen. Während also bisher die Vorjahresveränderungen betrachtet wurden, werden jetzt mitunter dieselben Reihen im 3-Monatsdurchschnitt gegenüber dem vorangegangenen 3-Monatsmittel dargestellt. Die Raten werden dabei annualisiert, um mit der Größenordnung der Vorjahresrate vergleichbar zu sein. Demnach hat der Preisauftrieb bei nicht-energetischen Industriegütern offenbar nicht an Dynamik verloren (gelbe Balken in Abbildung 3). Auch bei der Kerninflation ist der Preisauftrieb nach wie vor stark.

Hingegen hat sich die kurzfristige Dynamik bei den Preisen im Dienstleistungsbereich seit Ende des vergangenen Jahres abgeschwächt. Allerdings gehen wir davon aus, dass der Preisdruck in diesem Bereich in den kommenden Monaten erneut zunehmen wird. Hierfür spricht die Entwicklung der Löhne, die einen hohen Anteil der Kosten im Dienstleistungssektor ausmachen: Laut EZB-Chefvolkswirt Philip Lane haben die Tariflöhne deutlich an Fahrt aufgenommen. Die Arbeitnehmer können angesichts des robusten Arbeitsmarkts hohe Lohnforderungen durchsetzen, sodass laut Vorausberechnungen der EZB die Tariflöhne 2023 um rund 5% steigen sollten (Abbildung 4).

Das Ende des Zinserhöhungszyklus ist nah

Alles in allem dürfte der Inflationsdruck vorerst hoch bleiben. Auch wenn die Gesamtinflation im Jahresverlauf weiter fallen wird, sollte die Kerninflation bis zum Herbst über der Marke von 5% liegen und danach nur zögerlich sinken. Dafür spricht vor allem der starke Lohnauftrieb. Nichtsdestotrotz werden die Tauben im EZB-Rat, die grundsätzlich eine lockere Geldpolitik bevorzugen, alle Signale einer sich abflachenden Inflation nutzen, um den Zinserhöhungszyklus in absehbarer Zeit zu beenden, was nach unserer Meinung Mitte des Jahres bei einem Einlagenzins von 3,5% der Fall sein sollte.

[1] Siehe Panetta „Everything everywhere all at once: responding to multiple global shocks“ (Rede vom 22.3.2023), Lane „Inflation and Monetary Policy“ (22.3.2023), Lane „Underlying inflation“ (Rede vom 6.3.2023 in Dublin), Villeroy de Galhau „How monetary policy will defeat inflation: channels and locks“ (Rede vom 17.2.2023), Lane „The euro area hiking cycle: an interim assessment“ (Rede vom 16.2.2023), Schnabel „Monetary policy in times of pandemic and war“ (Web Seminar vom 7.2.2023).

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