Der Tarifkonflikt bei der Bahn
10 Lehren aus dem Arbeitskampf der Lokführer

Der Tarifstreit bei der Bahn testete die Grenzen der Tarifautonomie. Schwachstellen wurden sichtbar. Reform des Arbeitskampfrechts, Wettbewerb auf der Schiene, Privatisierung der Bahn sind wichtige Baustellen.

„Die größte geschäftliche Stärke in unserem Zeitalter ist der Vorsprung.“ (Walther Rathenau)

Eine tarifpolitische Schlacht ist geschlagen. Weitere Kämpfe werden folgen. Nach heftigen Streiks haben sich die GDL und die Deutsche Bahn auf einen neuen Tarifvertrag geeinigt. Er sieht vor, die 35-Stunden-Woche für Schichtarbeit schrittweise bis 2029 einzuführen. Allerdings können die Arbeitnehmer individuell entscheiden, ob sie, ohne auf Lohn zu verzichten, kürzer arbeiten wollen oder eine Arbeitszeit zwischen 35 und 40 Stunden wählen. Wer mehr arbeitet erhält pro Stunde zusätzlicher Arbeitszeit 2,7 % mehr Lohn. Das ist der Kern der Vereinbarung. Darüber gingen die tarifliche Lohnsteigerung von 420 Euro, die Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 2850 Euro und die Laufzeit des Tarifvertrages von 26 Monaten unter. Der Arbeitskampf testete die Grenzen der Tarifautonomie aus. Schwachstellen wurden sichtbar. Welche Lehren lassen sich daraus ziehen?

1. Lehre: Mit (Sparten)Gewerkschaften ist weiter zu rechnen

Sparten-Gewerkschaften erleben eine Renaissance. Der industrielle Sektor hat die beste Zeit hinter sich. Damit verlieren auch Einheits-Gewerkschaften an Einfluss. Die Qualifikationen der Arbeitnehmer werden (noch) heterogener. Bestimmte Berufsgruppen sind schwer zu ersetzen, zumindest noch eine Weile. Die Lokführer zählen dazu. Auf absehbare Zeit bleibt ihre Marktmacht hoch. Sie wollen ein größeres Stück des Kuchens. Die „umverteilenden“ Flächentarife der Einheitsgewerkschaften sind ihnen ein Dorn im Auge. Die lohn- und tarifpolitische Solidarität mit Arbeitnehmern, die weniger marktmächtig sind, erodiert. Agieren die „Schaltstellen-Arbeitnehmer“ in Sparten-Gewerkschaften auf eigene Rechnung, können sie ihre Ziele besser erreichen.

2. Lehre: Schwacher Wettbewerb auf Absatzmärkten stärkt Gewerkschaften

Schlagen Arbeitnehmer in Unternehmen lohn- und tarifpolitisch über die Stränge, bringen wettbewerbsintensive Absatzmärkte sie normalerweise wieder zur Vernunft. Sie verlieren Marktanteile, machen Verluste, verlagern die Produktion ins Ausland. Im schlimmsten Fall droht ihnen die Pleite. Das scheint bei der Deutschen Bahn nicht so. „Schienen lassen sich nicht ins Ausland verlagern“ (Richard Giesen). Das ist auch gar nicht notwendig. Es reicht schon, wenn auf den inländischen Schienen der Wettbewerb intensiv ist. Er härtet die Budgetrestriktion der Unternehmen. Tatsächlich ist der (Leistungs)Wettbewerb auf der Schiene aber politisch stark eingeschränkt. Die Deutsche Bahn muss den Wettbewerb zumindest im Personenverkehr gegenwärtig nicht fürchten. Das stärkt die Marktmacht der Sparten-Gewerkschaften.

3. Lehre: Staatliche Unternehmen haben weiche Budgetrestriktionen

Spezifische Qualifikationen sind das eine, staatliche Alimentierung ist das andere. Beides stärkt die Marktmacht von Sparten-Gewerkschaften. Vor allem in den Bereichen von Verkehr, Gesundheit und allgemein der Daseinsvorsorge tummeln sich staatliche Unternehmen. Die Deutsche Bahn ist eines. Solche Unternehmen haben tiefere finanzielle Taschen. Wenn sie Defizite einfahren und es hart auf hart kommt, werden die Steuerzahler (heute und morgen) zur Kasse gebeten. Die Budgetrestriktion solcher Unternehmen ist (wachs)weich. Das ist eine willkommene Einladung an (Sparten)Gewerkschaften, lohn- und tarifpolitisch immer wieder über die Stränge zu schlagen. Die GDL hat diese Einladung auch diese Mal wieder dankend angenommen.  

4. Lehre: Die „neue“ Marktmacht der Gewerkschaften ist fragil

Der Arbeitskampf auf der Schiene wurde von der GDL wohl auch deshalb so unerbittlich geführt, weil sich die Lage auf den Arbeitsmärkten verändert hat. Aus (weltweiten) Arbeitgeber- sind (nationale) Arbeitnehmermärkte geworden. Nicht mehr das chinesische Arbeitsangebot dominiert, es ist die heimische Demographie. Überall mangelt es an Fachkräften, auch bei den Lokführern. Das stärkt die Verhandlungsposition der GDL. Daran wird sich so schnell nichts ändern. Ob das auch die (Einheits-)Gewerkschaften stärkt, ist unklar. Der strukturelle Wandel fordert sie heraus. Gewerkschaftlich stark organisierte Industriearbeiter gehen, gewerkschaftlich schwach organisierte Dienstleistungsarbeitnehmer sollen kommen. Ausgemacht ist das aber nicht. Demographie und Strukturwandel sind für die Gewerkschaften ambivalent.

5. Lehre: Die Verteilungskämpfe der Tarifpartner verändern sich

Der Arbeitskampf verändert sich. Die Fronten verlaufen heute anders als früher. Das hat auch der jüngste Arbeitskampf auf der Schiene gezeigt. Der „alte“ Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital rückt in den Hintergrund. Die verbalen Ausfälle von Claus Weselsky gegen die „Boni-Kapitalisten“ der Bahnspitze ändern daran nichts. Der Gegensatz der Interessen von Arbeit und Kapital wird kleiner. Mit steigendem Wohlstand werden immer mehr Arbeitnehmer selbst zu Kapitalisten. Ein „neuer“ Klassenkampf entwickelt sich. Arbeit kämpft nicht nur gegen Kapital, Arbeit kämpft auch gegen Arbeit. Im Tarifstreit der Bahn verläuft eine neue Front zwischen den Lokführern und dem Rest der Belegschaft. Die diffamierenden Äußerungen der GDL gegenüber der EVG sprechen Bände. Steigende Heterogenität der Arbeit begünstigt diese neue Variante des Klassenkampfes.

6. Lehre: Ein Wettbewerb der Gewerkschaften ist sinnvoll

Die Interessen der Arbeitnehmer differenzieren sich aus. Alles über einen Kamm zu scheren, zahlt sich nicht mehr aus. Einheits-Gewerkschaften können viele Interessenkonflikte nicht lösen. Berufsständische Gewerkschaften füllen die Lücke. Ein Wettbewerb der Gewerkschaften ist sinnvoll. Er braucht allerdings einen Rahmen, damit er nicht dysfunktional wird. Das Ergebnis ist mehr Tarifpluralität und weniger Tarifeinheit. Damit sind aber auch die Konflikte in den Betrieben programmiert. Das Tarifeinheitsgesetz hat sie bei der Bahn nicht verhindert. Die negativen Drittwirkungen sind groß. Ein möglicher Weg führt über betriebliche Bündnisse für Arbeit (hier). Kapital und (alle) Arbeit müssen sich als Kampfgemeinschaft gegen unternehmerische Wettbewerber zusammenraufen. Das ist nur bei harten Budgetrestriktionen möglich. Die existieren aber bei der Deutschen Bahn nicht.

7. Lehre: Die Lohn- und Tarifabschlüsse werden dezentraler

Der Tarifabschluss der GDL mit der Bahn zeigt, dass der wachsenden Heterogenität nach und nach Rechnung getragen wird. (Einheits-)Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben sich in der Vergangenheit – oft getrieben durch die Betriebsräte – murrend damit arrangiert, kollektive Lohn- und Tarifvereinbarungen stärker betrieblich zu differenzieren. Tarifliche Öffnungsklauseln wurden, zumindest in Krisenzeiten, öfter akzeptiert. Der neueste Abschluss der GDL mit der Bahn hat diese heterogenere Entwicklung weiter vorangetrieben. Zumindest die Lokführer können ihre Arbeitszeit individueller gestalten. Die Kollektivverträge geben den Rahmen zwischen 35 und 40 Stunden vor. Arbeitnehmer können individuell von den vereinbarten Schritten zur Arbeitszeitverkürzung nach oben abweichen und für einen höheren Verdienst mehr arbeiten.

8. Lehre: Deutschland verliert die Lust am Arbeiten!?

Die Tendenz ist eindeutig: Arbeitnehmer wollen weniger arbeiten. Auch die GDL hat nun den Weg zur 35-Stunden-Woche geebnet. In Zeiten eines wachsenden Fachkräfte-Mangels, der auch bei Lokführern herrscht, scheint das auf den ersten Blick aus der Zeit gefallen. Das ist es nicht, wenn kürzere Arbeitszeiten und Löhne durch die Arbeitsproduktivität abgedeckt werden. Ob das bei der staatlichen Bahn, die hohe (steuerlich finanzierte) Defizite einfährt, auch so ist, erscheint allerdings zweifelhaft. Grundsätzlich gilt: Wie die Arbeitnehmer höhere Arbeitsproduktivitäten auf höhere Löhne und mehr Freizeit verteilen, ist ihre Sache. Die Erfahrungen zeigen aber, dass kürzere Arbeitszeiten in Zeiten schwachen Wachstums der Arbeitproduktivität bei den Arbeitnehmern an die Grenze stagnierender Lohneinkommen stoßen. Die Hoffnung der Bahn beim vereinbarten Optionsmodell ist, dass viele Lokführer eher Geld gegen kürzere Arbeitszeiten tauschen.

9. Lehre: Deutschland braucht ein neues Arbeitskampfrecht

Der Tarifkonflikt der GDL mit der Bahn war heftig. Die ökonomischen Kollateralschäden waren beträchtlich. Negative Drittwirkungen der Streiks ließen sich begrenzen, wenn es gelänge, die Marktmacht der Lokführer zu begrenzen. Vorschläge gibt es viele. Die einen wollen die Hürden für Streiks höher legen und Abkühlphasen mit Friedenspflicht einführen, andere zwingende Schlichtungs- und Schiedsverfahren installieren, wieder andere das Arbeitskampfrecht kodifizieren und ihm den Status als Richterrecht nehmen. Noch andere wollen den Gewerkschaften das Streikrecht für Minderheitstarifverträge nehmen. Das würde die GDL treffen. Einige wollen schließlich Sonderregelungen für die kritische Infrastruktur einführen. Was immer man arbeitskampfrechtlich tut, der Konflikt mit der Tarifautonomie und der Widerstand der Tarifpartner ist programmiert.

10. Lehre: Der Wettbewerb auf den Absatzmärkten muss intensiver werden

Mehr Wettbewerb auf den Absatzmärkten (Güter und Personen) der Bahn würde die negativen Drittwirkungen von Tarifverträgen mit den Lokführern verringern (hier). Ein erster Schritt ist, Schiene und Verkehr zu trennen. Der Staat ist für eine funktionierende Infrastruktur zuständig. Das Kartellamt sorgt für (Leistungs-)Wettbewerb auf der Schiene, für Personen und Güter. In einem zweiten Schritt muss die Deutsche Bahn (wirklich) privatisiert werden. Beides würde die Budgetrestriktionen aller Wettbewerber auf der Schiene härten, auch die der Deutschen Bahn, wenn sie sich dem Wettbewerb stellt. Die Anreizstruktur der Bahngewerkschaften würde sich grundlegend ändern. Ihre Lohn- und Tarifpolitiken müssten die Überlebensfähigkeit ihres Unternehmens im Blick haben. Kooperation ist gefragt. Lohn- und tarifpolitische Amokläufe à la GDL wären eher selten.

Fazit: Die Lokführer schaffen sich schneller ab

Die Lohn- und Tarifpolitik steht auf dem Prüfstand. Dafür hat auch der lange und harte Tarifstreit bei der Bahn gesorgt. Die Demographie spielt den Arbeitnehmern in die Karten, einigen mehr als anderen. Arbeitnehmer in Schlüsselpositionen, wie die Lokführer, fahren „windfall profits“ ein. Das gilt vor allem in der Daseinsvorsorge. Aber: Die negativen Wirkungen ihres lohn- und tarifpolitischen Verhaltens auf Dritte sind beim gegenwärtigen institutionellen Arrangement erheblich. Sie gilt es einzudämmen. Eine Reform des Arbeitskampfrechts ist eine Alternative, politisch allerdings keine realistische. Mehr Wettbewerb auf den Absatzmärkten der Daseinsvorsorge ist eine andere. Verstärkte Privatisierungen staatlicher Unternehmen in diesen Sektoren sind eine weitere. Realistisch sind sie beide nicht. Die Chancen stehen aber nicht schlecht, dass die Lohn- und Tarifpolitik der GDL dazu führt, dass sich die Lokführer schneller abschaffen (hier).  

Blog-Beiträge zum Thema:

Norbert Berthold (JMU, 2024): Wer hat Angst vor der GDL? Mehr (Leistungs-)Wettbewerb auf der Schiene

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