Die Politische Ökonomie der Revolution
Was man als Ökonom zu den Ereignissen in Ägypten sagen kann

Der nun offene Widerstand der ägyptischen Bevölkerung gegen das Regime des Husni Mubarak wird in den Medien auch als Internet-Phänomen dargestellt. Von einer sogenannten Facebook-Revolution ist da die Rede, anspielend darauf, daß die Koordinierung der Proteste offenbar wenigstens zum Teil über soziale Netzwerke erfolgte. Es scheint, als seien zwei Dinge als Auslöser der aktuellen Entwicklungen zusammengekommen: Der in der Bevölkerung schon lange weit verbreitete, latente Wunsch nach einem Sturz des Regimes sowie die erfolgreiche Vertreibung des tunesischen Diktators als konkreter Auslöser und unmittelbares Vorbild. Aber was genau ist da eigentlich passiert?

Man übertreibt sicherlich nicht mit der Behauptung, daß noch unmittelbar vor dem tunesischen Aufstand kaum ein westlicher Beobachter für die nächste Zeit auf revolutionäre Umstürze in Nordafrika gewettet hätte. Genau solche überraschenden Revolten hat der an der Duke University lehrende Ökonom Timur Kuran analysiert, und zwar in einem 1989 (Anfang 1989!) veröffentlichten Papier. Er unterscheidet zwischen privaten Präferenzen der Individuen und ihren öffentlich geäußerten Meinungen. Beides kann sich unterscheiden. Wer unbequeme private Meinungen öffentlich vertritt, kann durch gesellschaftlichen Druck oder gar Ausschluß bestraft werden. Wer auf der anderen Seite mit großen Unterschieden zwischen seiner privaten und seiner öffentlich geäußerten Meinung lebt, der trägt psychologische Kosten seiner eigenen Unehrlichkeit. Beides wird gegeneinander abgewogen; je nach dem Ausmaß der gesellschaftlichen Strafen für unbequeme Meinungen kann es dann zu erheblichen Differenzen zwischen der öffentlichen Meinung und den tatsächlichen Präferenzen großer Teile der Bevölkerung kommen.

Dieser Mechanismus kann aber auch in die entgegen gesetzte Richtung funktionieren: Erwarten große Teile der Bevölkerung, daß das Regime an Popularität verliert und daß die Unterstützung der Regierung gesellschaftliche Ächtung nach sich zieht, so wird man auch Individuen beobachten, die öffentlich einen Umsturz unterstützen, obwohl sie privat noch mit dem Regime sympathisieren. Der wesentliche Punkt in Kurans ökonomischen Modell von Revolutionen besteht also darin, daß die öffentliche Meinung und das daraus folgende politische Handeln gar nicht aus der Aggregation echter Präferenzen der Bürger folgt, sondern aus kollektiven Erwartungen daran, welches die positiv sanktionierte öffentliche Meinung sein wird. Politisches Handeln ist expressives Handeln.

Hier kommt nun tatsächlich die Facebook-Revolution ins Spiel. Die Bedeutung der neuen Medien besteht nicht so sehr darin, daß sie als Instrument zur Koordination von Terminen für Proteste dienen. Das Problem bestünde hier auch darin, daß digitale Versprechen zur Teilnahme an potentiell lebensgefährlichen Protesten in der analogen Welt kaum durchsetzbar, also nicht bindend sind. So manchem Facebook-Helden könnte auf dem weiten Weg zur Demonstration auf einem realen Marktplatz das Herz in die Hose rutschen. Was die neuen Medien in diesem Fall aber wirklich leisteten, das war eine Veränderung der kollektiven Erwartungen darüber, wie die tatsächlichen Einstellungen der Bürger zum Regime sind. Internet-Medien ermöglichten es den Tunesiern und den Ägyptern relativ gefahrlos (also: zu relativ geringen Kosten) zu offenbaren, wie unzufrieden sie wirklich mit dem Regime sind. Die resultierende schnelle Veränderung des öffentlichen Meinungsgleichgewichtes führte dann zu den massiven Protesten.

Es bleiben natürlich einige offene Fragen: Wieso die Vorreiterrolle der Tunesier? Wieso reagieren die Ägypter auf dieses Vorbild besonders stark, die Bevölkerungen in anderen diktatorisch regierten Staaten der Region schwächer, andere gar nicht? Dies wird wiederum etwas mit den erwarteten Kosten der oppositionellen Meinungsäußerungen zu tun haben. Nicht in allen Staaten der Region können Oppositionelle erwarten, daß das Militär sich gegenüber Massenprotesten eher passiv verhalten wird. Manche Regimes sind für Dissidenten noch gefährlicher als die Diktaturen in Tunesien und Ägypten. Und nicht überall gibt es halbwegs organisierte Oppositionsbewegungen, nicht überall ist auch die latente Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten so groß. All solche Unterschiede zwischen Ländern im Detail ändern aber nichts daran, daß Kuran einen einfachen, doch bestechend plausiblen Erklärungsansatz für überraschende Revolten geliefert hat.

Ronald Wintrobe hat in einem 1990 veröffentlichten Papier zwei unterschiedliche Typen von Diktaturen unterschieden: Tinpots und Totalitäre. Die zweite Gruppe von Diktaturen ist darauf aus, ihren Bürgern einen Lebensstil vorzuschreiben. Solche Regimes wollen ihre Macht maximieren, um ihre eigenen Vorstellungen vom richtigen Leben allen Bürgern aufzupressen. Tinpots sind in gewisser Weise harmloser. Ihre ideologischen Motive sind nachgeordnet oder gar nicht vorhanden und Macht ist ihnen kein Selbstzweck. Es geht ihnen letztendlich vor allem darum, während ihrer Amtszeit ihr ausländisches Bankkonto zu füllen und zu diesem Zweck ihre Amtszeit möglichst in die Länge zu ziehen. Man kann wohl mit einiger Sicherheit sagen, daß Husni Mubarak am ehesten als Tinpot zu kategorisieren ist. Dafür sprechen nicht nur die jüngst berichteten, angeblich 40 Mrd. US-Dollar auf ausländischen Privatkonten des Diktators, sondern auch die weitestgehende Abwesenheit aggressiver ideologischer Grundmotive seiner Herrschaft. Immerhin ist seine Partei immer noch unbehelligt Mitglied der Sozialistischen Internationale.

Solche Tinpot-Regimes haben den Vorteil, daß sie eigentlich recht leicht von außen zu manipulieren sind. Sie sind, kurz gesagt, bestechlich. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird am 4.2. Guido Westerwelle mit der Feststellung zitiert, bei Mubarak handele es sich um einen „Mann mit enormer Erfahrung, großer Weisheit und die Zukunft fest im Blick“. Das Zitat stammt aus dem Jahr 2010, und der Autor des FAZ-Artikels verteidigt den Außenminister: Damals sei dies aus Sicht der außenpolitischen Staatsräson ein kluges Statement gewesen. Die Frage nach der Klugheit soll hier nicht weiter verhandelt werden. Jedenfalls haben aber in den letzten dreißig Jahren westliche Regierungen aller Couleur arabische Diktaturen gestützt. Vor dem Hintergrund der politisch-ökonomischen Einsichten über diese Art von Regimes muß man sich dann allerdings doch fragen, wieso westliche Regierungen ihren guten und teueren Draht in die jeweiligen Chefetagen nicht genutzt haben, um politische und wirtschaftliche Liberalisierungen im Gegenzug zu den dorthin geflossenen, teils enormen Transferzahlungen zu fordern.

Eine wichtige Einsicht aus der ökonomischen Diktaturtheorie von Wintrobe besteht darin, daß Repression und Loyalität bei der Sicherung des Machterhaltes von Tinpot-Regierungen Substitute sind. Gegeben die Abhängigkeit dieser Regierungen von ihren westlichen Unterstützern hätte es möglich sein müssen darauf zu drängen, daß die Generierung von Loyalität in der Bevölkerung verstärkt, der Einsatz von Repression aber reduziert wird. Man muß sich in Erinnerung rufen, daß weite Teile der ägyptischen Bevölkerung unter extremer Armut leiden und daß gleichzeitig die Wirtschaftordnung keinesfalls einer liberalen Marktwirtschaft, sondern vielmehr einer vermachteten Rentenverteilungs-Ökonomie entspricht. Der politische Spielraum um Loyalität durch eine Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen zu generieren – und damit auf Repression verzichten zu können – wäre also für die Regierung Mubarak zweifellos vorhanden gewesen.

Es muß den westlichen Regierungen also als schweres Versäumnis angerechnet werden, daß sie in der arabischen Welt Diktaturen aktiv gestützt, aber solche Reformen nie mit dem nötigen Nachdruck gefordert haben.

5 Antworten auf „Die Politische Ökonomie der Revolution
Was man als Ökonom zu den Ereignissen in Ägypten sagen kann

  1. Wenden Sie das Modell des Homo Oeconomicus an! Dann wissen Sie, warum das eine geschehen ist und das andere nicht.

  2. Vielen Dank für diesen hochinteressanten Beitrag! Als meine Familie und ich in unserem verbarrikadierten Haus in Kairo sassen, draussen Panzer auffuhren und Schüsse fielen, dachten meine Frau und ich, so bekloppt es klingt, ebenfalls an den Artikel von Kuran. Ich erlaube mir zwei zusätzliche Bemerkungen, zu der Rolle von Facebook während der Revolution und zur Politik des Mubarak-Regimes:
    Am 24. Januar (also vor den ersten Protesten) postete ich folgenden Beitrag auf meiner Facebook-Seite:“Protests planned in Cairo tonight and tomorrow – when will Egypt get what it needs most: freedom?“ Zu diesem Zeitpunkt und auch in den Tagen danach drückte kein einziger meiner ägyptischen Freude den „Gefällt mir“-Knopf; sie erachteten es wohl als zu riskant. Diejenigen unter ihnen, die eine stärkere Präferenz für einen Regimewechsel hatten, wählten eine interessante Strategie: Sie tauschten ihr Profilfoto aus, entweder in eine ägyptische Fahne oder in eine Aufnahme vom Tahrir-Platz. So kommunizierten sie einerseits, dass sie mit den Idealen der Revolution sympathisierten, konnten sich aber andererseits nicht dem Vorwurf der offenen Parteinahme aussetzen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt, an den ich mich nicht mehr genau erinnere (mit Sicherheit war es nach der Facebook-Blockade der Regierung), hatten fast alle ihre Fotos getauscht.
    Was die Politik des Mubarak-Regimes betrifft, so ist dieses zu einem gewissen Grad Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden: Beginnend in 2004 wurden starke und glaubwürdige marktwirtschaftliche Reformen durchgeführt (deutliche Zollsenkungen, Freihandelsabkommen mit der EU, Steuersenkungen, Entfernen sämtlicher Bezüge auf Sozialismus in der Verfassung, Schutz und Förderung des Wettbewerbs etc.) mit dem Ergebnis eines starken Wachstumsschubs, Aufstieg zu einem „middle income country“ und vermutlich auch der Armutsreduzierung (gute Zahlen gibt es hierzu leider nicht). Viele individuelle Freiheitsrechte blieben jedoch weiterhin eingeschränkt. Dass die Bevölkerung mit steigendem Wohlstand auch diese einfordern würde, hätte Eucken gewusst. Mubarak wusste es nicht.

    Grüsse aus Ägypten,
    Arne Klau
    z. Zt. American University in Cairo

  3. Was will man auch erwarten ? Die meisten „Eliten“ in diesen Staaten sind doch sowieso in den USA ausgebildet worden. Was wir nun sehen ist eine Farce um Marionetten auszutauschen. Die Bevölkerung wird wieder einmal irre geführt. Ich sage nur: Revolution, Revolution ! Aber die Wahrheit ist, dass die internationalen Regierungen mehr oder minder am Ende sind. Keiner glaube mehr an ihre schöpferischen Fähigkeiten. Es wird übel enden …

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