Die von den europäischen Staats- und Regierungschefs beschlossene Ablösung des Europäischen Rettungsschirms (EFSF) durch den sogenannten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ab 2013 verändert die institutionelle Qualität der Eurozone fundamental: Sie wird eine Transferunion auf der Basis einer Haftungsgemeinschaft. Damit beschließt die politische Klasse ein institutionelles Arrangement für Europa, das sie selbst in der Zeitspanne vom Maastricht-Vertrag 1992 bis noch vor einer Woche als völlig ausgeschlossen tabuisiert hat. Der ESM ist ein Desaster für die zukünftige Funktionsfähigkeit der Währungsunion, weil er als Transferunion fundamental wichtige Anreize für Nehmer- und Geberländer zu stabilitätsorientierter Fiskalpolitik ins Gegenteil verkehrt und damit die bisher schon – vielfältig aufgezeigten – mißglückten Konstruktionselemente der Europäischen Währungsunion um weitere anreizineffiziente Umdrehungen verschlechtert.
Wir wissen doch aus der Erfahrung mit Finanzausgleichssystemen, daß sie perverse Anreize auf Geber und Empfänger aussenden, die beide Seiten zu weniger Fiskaldisziplin einladen und das grundlegende Prinzip von stabilitätspolitischer Selbstverantwortung aushebeln. Wenn der ESM zwar einen gewissen Sanktionsautomatismus bei Nichteinhaltung der Stabilitätskriterien enthält, so wirkt er dennoch nicht oder allenfalls nur bedingt, weil seine Automatik weiterhin letztlich von diskretionären Politikentscheidungen eingeschränkt wird. Da von der Politikseite die sanktionsrelevante Schärfung des Stabilitätspaktes gepriesen wird, die nunmehr die Fiskaldisziplin der Mitglieder der Eurozone stärker als bisher gewährleisten würde, so sei auf die bisher schlechten Erfahrungen mit diskretionärer politischer Entscheidungskompetenz in Europa verwiesen: Je schärfer die Stabilitätskriterien und Strafandrohungen, desto größer die Neigung zu ihrer Umgehung durch politische Diskretionarität bis hin zur Regelverletzung europarechtlicher Normen. Denn es entscheiden nach wie vor (potentielle) Sünder über Sünder. Warum sollte sich also an der Nichteinhaltung stabilitätspolitischer Disziplin zukünftig Wesentliches ändern?
Ohne Zweifel wäre die Einführung des Euro am öffentlichen Widerstand gescheitert, wenn damals bekannt gewesen wäre, welche Finanzordnung dem Euro heute übergestülpt wird. Die Geschichte des Euro ist in der Tat eine Leidensgeschichte der kontinuierlich gebrochenen Politikerversprechungen. Sie kennzeichnet einen Weg der steigenden Diskrepanz zwischen politischen Desiderata und den zu ihrer Realisierung zwingend notwendigen, aber fehlenden ökonomischen Voraussetzungen. Sie ist die Inkarnation von Politiker-Unglaubwürdigkeit, von währungsökonomischer Ignoranz der politischen Klasse, von deren europapolitischem Opportunismus, von falschem europäischen Solidaritätsverständnis, von mantra-affiner alternativloser Euro-Besessenheit.
Dies führt uns zu folgenden grundsätzlichen Überlegungen, die die finale Qualität des europäischen Integrationsprozesses betreffen. Eine transnationale Transferunion, wenn sie zwischen wirtschafts- und fiskalpolitisch stark heterogenen Ländern funktionieren soll, setzt eine dieser Heterogenität entsprechende belastbare Solidarität der Geber- zu den Nehmerländern voraus. Im Zweifel, wie wir wissen, unter der Prämisse: Koste es, was es wolle. Eine derartig anspruchsvolle Transfer-Solidarität der Geber zu den Nehmern kann dauerhaft wohl nur in einer Jurisdiktion funktionieren, die einem Bundesstaat entspricht, in dem die mit stärkerer national- als transnational-solidarischer Empathie ausgestatteten Zahler gegenüber den Empfängern die geforderte Solidarität aufbringen.
In einem Staatenbund oder auch – im Terminus des Bundesverfassungsgerichts zur Klassifikation der gegenwärtigen institutionellen Qualität der EU – im Staatenverbund läßt sich erfahrungsgemäß eine der national-solidarischen Haftungsbereitschaft entsprechende transnationale Solidaritätsneigung der Bürger kaum erzeugen –Â auch und schon gar nicht durch hastige Politikerbeschlüsse, die diese Solidarität von den Bürgern kostenträchtig mir nichts, dir nichts für Europa einfordern, damit ihr weitgehend fehlkonstruiertes politisches Euro-Projekt nicht doch fehlschlage.
Zwei Alternativen des Denkens tun sich auf. Mit der ersten sympathisieren die bedingungslosen Euro-Protagonisten: Wenn wir nunmehr eine Transferunion installiert haben, die eigentlich nur in einem Bundesstaat funktionieren kann, dann muß die EU institutionell schleunigst in diese Richtung weiterentwickelt werden. Die bekannten Stichworte heißen: Institutionelle Vertiefung, Europäische Wirtschaftsregierung, Harmonisierung und Zentralisierung möglichst vieler nationaler Politikbereiche. Die Transferunion, damit sie funktioniere, wird damit zum Vehikel für einen beschleunigten Integrationsprozeß in Richtung bundesstaatlicher Finalität erkoren. Diese Politikvariante dominiert zur Zeit offensichtlich die europapolitische Agenda, obwohl die bundesstaatliche Finalität nirgendwo explizit kundgetan wird oder gar durchdacht wäre.
Die zweite Denkalternative ist realistischer, pragmatischer. Sie hält, jedenfalls für absehbare Zeit, einen europäischen Bundesstaat nicht nur für nicht erstrebenswert, sondern auch für utopisch. Denn es scheint kein gemeinsamer europäischer Bürgerwille zu einem Europa als Bundesstaat und damit zu nahezu unbegrenzter Zahlersolidarität zu existieren. Allein die Stichworte Großbritannien, Polen und Tschechien mögen hier genannt werden als Substitut für ausführlichere Begründungen für nationale bürgerliche (und wohl auch politische) Nicht-Affinitäten zum europäischen Bundesstaat, für deren Herbeiführung ja Einstimmigkeit im Rat erforderlich wäre.
In dieser realistischen Perspektive ist die integrationsstimulierende Vehikeltheorie der Transferunion obsolet, ebenso obsolet übrigens wie dieselbe Vehikeltheorie für den Euro, die mit seiner Einführung mancherorts gegen die Meinung euro-skeptischer Ökonomen vertreten wurde und die sich spätestens heute, wie wir sehen, als empirisch gehaltlos, ja geradezu als eher kontraproduktiv herausgestellt hat. Sie ist nicht der notwenige Schritt zu mehr institutioneller Vertiefung in Richtung europäischer Bundesstaat mit dem Euro als Einheitswährung, sondern sie ist der eingebaute Fremdkörper, wenn nicht sogar der potentielle Sprengsatz im staaten(ver)bundlichen Integrationsraum Eurozone und Europa, in dem der Solidaritätswille der Bürger durch den Tatbestand der Überforderung der Zahler aufgrund der fiskalpolitischen Undiszipliniertheit der Empfänger deutlich begrenzt wird.
Die im Zuge der Griechenland-Hilfe, der ESFS- und ESM-Beschlüsse von Deutschland tatsächlich und potentiell zu tragenden Lasten stellen eine konkrete Gefahr der Überforderung des deutschen Bundeshalts dar und damit letztlich des deutschen Steuerzahlers . Analoges gilt natürlich für die anderen Zahlerländer der Eurozone, innerhalb derer es aufgrund der Mechanik des ESM im Übrigen vorkommen kann, daß arme stabilitätsorientierte Euro-Mitglieder zu Zahlungen an reiche überschuldete Länder gezwungen werden. Eine transferunionsgetriebene Perversion, die zu Exit-Optionen geradezu einlädt.
Es erscheint deshalb nicht schwer zu prognostizieren, daß die nunmehr beschlossene Installierung der Transferunion die „endgültige Rettung des Euro“ nicht nur nicht sicherstellt, sondern das Gegenteil bewirken wird: die Erosion der Eurozone.
- Ordnungsruf
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