Finanzielle Ansteckung in Europa und die Rolle des ESM

Seit Ausbruch der Staatsschuldenkrise in Griechenland im Frühjahr 2010 befürchten viele Beobachter eine Ausweitung der Krise auch auf andere Sektoren und auf andere Länder in Europa. Es herrscht die Angst, dass ein Zahlungsausfall Griechenlands zu einer neuen Bankenkrise führen und sich auf die öffentlichen Haushalte anderswo übertragen könnte, ohne dass sich dort die Fundamentaldaten verschlechtert hätten. Die Furcht vor solchen Ansteckungseffekten war der Grund, warum im Juli 2011 das Mandat des temporären Rettungsfonds EFSF ausgeweitet wurde, dessen ursprüngliche Aufgabe darin bestand, auf Antrag eines Landes finanzielle Hilfen zur Verbesserung der Fundamentaldaten gegen Auflagen bereitzustellen. Inzwischen dürfen sowohl der EFSF als auch der dauerhafte Rettungsschirm ESM finanzielle Hilfen auch an Nicht-Programmländer gewähren und sind befugt, auf Primär- und Sekundärmärkten Staatsschuldtitel anzukaufen. Auf diese Weise sollen beide Rettungsschirme als Brandmauer fungieren und einen finanziellen Flächenbrand in Europa verhindern.

Zumindest die Gefahr einer Ansteckung vom Staats- in den Bankensektor ist nicht völlig von der Hand zu weisen, wobei sich ein gestiegenes Länderrisiko auf mehreren Wegen in die Bilanzen des Geschäftsbankensektors übertragen kann (Deutsche Bundesbank, 2011): Im Handelsbuch steigt der Abschreibungsbedarf, weil Banken ihr Portfolio an Staatsschuldtiteln wertberichtigen müssen; zudem erhöhen sich die Refinanzierungskosten für betroffene Banken, weil die Risikoaufschläge zunehmen und die Bewertungsabschläge für Staatsanleihen bei der Besicherung von Interbankenkrediten zunehmen. Schließlich verbleiben Staatsschuldtitel natürlich nicht nur in den Bilanzen der heimischen Banken, sondern werden infolge grenzüberschreitender Interbankenbeziehungen auch von ausländischen Geschäftsbanken gehalten, deren Prämien für Credit Default Swaps (CDS) mit hohem Exposure gegenüber den Staaten der Krisenländer zunehmen.

Tatsächlich sprechen mehrere Indizien für solch eine „Sovereign-to-bank contagion“: Erstens hängen die Prämien für CDS für Staaten und Banken eines Landes eng zusammen; in den Programmländern Irland und Portugal, aber auch in Spanien und in Italien, zahlen die Banken ähnliche hohe Kreditausfallprämien wie die öffentliche Hand. Zudem sind seit Ausbruch der Finanzkrise im August 2007 zwei Drittel der Banken eines Landes innerhalb von sechs Monaten nach Herabstufung des Souveräns ebenfalls herabgestuft worden (Deutsche Bundesbank, 2011). Drittens scheinen die Prämien für Kreditausfallversicherungen, beispielsweise für französische Banken, die in besonderem Maße Staatsschuldtitel aus Irland, Griechenland, Portugal und Italien halten, stark mit den CDS Prämien für öffentliche Schuldner in diesen Ländern abzuhängen (Constâncio, 2011).

Weniger klar ist jedoch, ob eine Übertragung auch auf andere Staaten zu befürchten ist. Solch eine „sovereign-to-sovereign contagion“ kann natürlich über den Bankensektor erfolgen, wenn ein Zahlungsausfall des Souveräns in einem Land die Solvenz der Geschäftsbanken in einem anderen Land gefährdet und ein Bailout durch den dortigen Souverän notwendig macht. Dies setzt allerdings voraus, dass die Schuldtitel des ersten Staates nicht weit gestreut sind, sondern in den Portfolios von Geschäftsbanken weniger anderer Länder befinden. Selbst wenn solche Klumpenrisiken bestehen, können Verluste vom Bankensektor aufgefangen werden, auch ohne dass ein Bailout erforderlich wird. Immerhin scheinen die europäischen Banken die jüngste Umschuldung Griechenlands einigermaßen weggesteckt zu haben.

Darüber hinaus kann eine länderübergreifende Ansteckung spekulativ begründet und Folge einer sich selbst erfüllenden Erwartung sein. Die Angst besonders vor dieser spezifischen Übertragung war vermutlich der Hauptgrund für die Mandatsausweitung des EFSF im Juli 2011. Beobachten Marktteilnehmer den Zahlungsausfall eines Landes, fürchten sie einen Anstieg der Ausfallwahrscheinlichkeit von Staatsschuldtiteln auch anderer Souveräne. In Folge steigen für diese Länder die Zinssätze an, was trotz weiterhin unveränderter Fundamentaldaten eine sich selbst erfüllende Staatschuldkrise zur Folge haben kann. Als anekdotische Evidenz für das Vorliegen des spekulativen Ansteckungskanals wird häufig auf die Herabstufung Portugals durch Moody’s im Juli 2011 verwiesen die unter Verweis auf die wirtschaftliche Lage in Griechenland und auf mögliche Ansteckungseffekte erfolgte (Moody’s, 2011). Infolgedessen stiegen auch die Zinsen für italienische und spanische Anleihen, obwohl keine neuen Informationen über die Wirtschaftslage und die Haushaltssituation in diesen Ländern verfügbar waren (Constâncio, 2011).

Andererseits kann dieser Zinsanstieg aber auch Folge eines „wake-up calls“ sein, weil die Herabstufung Portugals die Aufmerksamkeit der Anleger hinsichtlich der Haushaltslage in anderen Peripherieländern erhöht hat. Anders als bei einer spekulativen Ansteckung, bei der eine Staatsschuldenkrise nicht fundamental begründet ist, sondern auf sich selbst erfüllenden Erwartungen beruht, existieren diese fundamentalen Schwächen im Falle eine „wake-up calls“ durchaus, werden allerdings nur verzögert erkannt. Der drohende Zahlungsausfall Griechenlands war demnach Anlass für die Marktteilnehmer, auch die Haushaltslage und übrige Fundamentalvariablen in anderen Ländern genauer zu betrachten. Tatsächlich gibt es Hinweise auf die Gültigkeit der “wake-up call Hypothese“ in Europa während der letzten Monate (Mink, De Haan, 2012). Insofern ist die empirische Evidenz für das Vorliegen von Ansteckungseffekten keinesfalls eindeutig, und die Mandatsausweitung für den EFSF und den ESM steht auf nicht unumstrittenen empirischen Füßen.

Hinzu kommt, dass der ESM aus mehreren Gründen möglicherweise sogar dazu beiträgt, die Ansteckung zu befördern, die er eigentlich verhindern soll: Erstens nimmt die Möglichkeit eines bailouts durch den ESM ohne Konditionierung den Druck von den Defizitländern, ihre Haushaltskonsolidierung voranzutreiben. Dies birgt die Gefahr, dass die Fondsmittel in Zukunft weiter aufgestockt werden müssen, wodurch die Haushaltsrisiken für die Geberländer zunehmen. Sollte zweitens eines der Geberländer des ESM sein bisheriges Rating verlieren und herabgestuft werden, droht dies auch dem ESM, sofern nicht andere Geberländer ihren Fondsanteil erhöhen und eine Kapitalerhöhung vornehmen. Ein Kapitalnachschuss kann aber auch die Bonität der übrigen Länder beeinträchtigen, deren Rating ja nicht in Stein gemeißelt ist. Drittens dürfte in Zukunft bei jeder drohenden Bankeninsolvenz unter Verweis auf Ansteckungseffekte in Europa nach Hilfen aus dem Rettungsschirm gerufen und zugleich behauptet werden, dass dieser vor contagion nur unzulänglich schützt. Damit dürften die Stimmen lauter werden, die eine Aufstockung der Brandmauer und eine stärkere Absicherung vor finanzieller Ansteckung fordern, auch wenn deren Existenz zumindest zweifelhaft ist.

Kenneth Rogoff (2012) hat Europa jüngst mit einem Brautpaar verglichen, das sich nicht zu heiraten traut, aber probeweise ein gemeinsames Konto einrichtet, zu dem auch andere Familienmitglieder Zugang haben. Seine Parabel beschreibt zunächst, was bei einem gemeinsamen Konto alles schiefgehen kann. Schließlich wenden sich die Mitglieder an einen Finanzberater, der die offensichtlich brillante Idee einer gemeinsamen Kreditkarte hat, „with payments guaranteed unconditionally by all, including the wealthiest cousins.“ Die Kreditkarte spielt wohl die Rolle des Rettungsfonds in Europa. Sie erlaubt es den armen Familienmitgliedern, fällige Schulden gegen das Versprechen abzulösen, ihre Ausgaben anzupassen. Alles läuft gut, bis ein Familienmitglied die Ausgabenkürzung nicht mehr mitmacht und die wohlhabenderen Familienmitglieder gezwungen werden, ihr Vermögen zu verpfänden, um den unmittelbaren Kollaps zu vermeiden. Natürlich endet das Experiment in der Parabel katastrophal.

Rogoff lässt offen, ob das Pärchen am Ende tatsächlich heiratet. Die Chancen hierfür dürften eher schlecht stehen. Ähnliches ist leider auch für die Eurozone zu befürchten, weil Rettungsschirme zwar kurzfristig helfen, langfristig aber die Akzeptanz der europäischen Idee gefährden.

Literatur

Constâncio, V. (2011), Contagion and the European Debt Crisis. Keynote lecture by Vítor Constâncio, Vice-President of the ECB at the Bocconi University/Intesa Sanpaolo Conference on „Bank Competitiveness in the Post-crisis World“ Milan, 10 October 2011, http://www.ecb.int/press/key/date/ 2011/html/sp111010.en.html

Deutsche Bundesbank (2011, Finanzstabilitätsbericht, Frankfurt / Main.

Mink, M.; De Haan, J. (2012), Contagion during the Greek Sovereign Debt Crisis, De Nederlandsche Bank, Working Paper No. 334, Amsterdam.

Moody’s (2011), Moody’s Downgrades Portugal to Ba2 with a Negative Outlook from Baa1, Global Credit Research – 05 July 2011.

Rogoff, K. (2012), A Euro Parable: The Couple with a Joint Account, in: Financial Times, April 23, 2012.

 

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