Braucht Europa einen „Lender of last resort“ für öffentliche Schuldner?

Seit Ausbruch der Staatsschuldenkrise werden in den Peripherieländern die Rufe lauter, wonach die Europäische Zentralbank als „lender of last resort“ für öffentliche Schuldner agieren und unbegrenzt und bedingungslos Staatsschuldtitel am offenen Markt oder direkt vom Emittenten aufkaufen soll. Begründet werden solche Forderungen zumeist mit der Gefahr einer spekulativen Staatsschuldenkrise und dem Risiko eines finanziellen Meltdowns des öffentlichen Sektors: Wenn Marktteilnehmer Zweifel an der Zahlungsfähigkeit öffentlicher Schuldner haben, erhöhen sie ihre Renditeforderungen. Dies vergrößert bei kurzfristig gegebenen Steuereinnahmen die Ausfallwahrscheinlichkeit von Staatsanleihen, wodurch die Renditeforderungen am Markt weiter zunehmen. Letztlich kann sich damit die Erwartung eines Staatsbankrotts von selbst erfüllen.

Nach Auffassung vieler Beobachter kann allein die EZB diesen circulus vitiosus verhindern, indem sie ankündigt, die Umlaufrendite durch Ankäufe von Staatsanleihen nicht über einen kritischen Wert ansteigen zu lassen. Deshalb fordern Anhänger einer LoLR-Politik, die EZB mit dem Mandat auszustatten, für Finanzmarktstabilität zu sorgen, und sie zu verpflichten, im Notfall in großem Stil Staatsanleihen aufzukaufen. Zweckgesellschaften, wie der EFSF oder der ESM seien dazu nicht in der Lage, weil sie nicht über genügend „Feuerkraft“ verfügten und deshalb auch nicht glaubwürdig die Marktzinsen von Staatsanleihen stabilisieren könnten (De Grauwe, 2011).

Das Konzept eines LoLR geht zurück auf Walter Bagehot (1873), wonach die Zentralbank während einer Finanzkrise illiquiden, aber solventen Schuldnern Liquidität zur Verfügung stellen sollte. Diese Liquiditätsversorgung einzelner Geschäftsbanken durch die Notenbank kann zweckmäßig sein, wenn es zu einem bank run kommt oder der Interbankenmarkt wegen eines steigenden Liquiditäts- und Kontrahentenrisikos versagt und Geschäftsbanken sich gegenseitig keine Liquidität mehr zur Verfügung stellen. In diesem Fall verhindert die Zentralbank als LoLR, dass Geschäftsbanken Aktiva verlustbringend liquidieren müssen und sich die Liquiditätskrise zu einer Solvenzkrise auswächst, die eine Rekapitalisierung von Geschäftsbanken erforderlich macht. Zugleich schafft die Zentralbank dadurch aber auch Anreize für die Bankeigner, zusätzliche Risiken einzugehen, und reduziert die Anreize für Bankschuldner, das Bankmanagement zu überwachen. Um diesen moral hazard zu vermeiden, fordert Bagehot eine Kreditvergabe nur gegen Sicherheiten und zwar zu Zinssätzen, die über dem Vorkrisenniveau liegen (Freixas et al., 2000).

Befürworter des Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB übertragen nun das ursprünglich für den Bankensektor entwickelte Konstrukt eines LoLR auf öffentliche Schuldner. Sie begründen die Notwendigkeit eines LoLR vor allem mit den Besonderheiten in einer Währungsunion, wo die Geldpolitik für einzelne Mitgliedsstaaten heteronom ist und auf supranationaler Ebene festgelegt wird (De Grauwe, 2011). Weil sich die Gebietskörperschaften in einer Währung verschulden müssen, die sie nicht kontrollieren, können selbst solvente öffentliche Schuldner ihren Gläubigern nicht immer garantieren, dass sie stets über genügend Liquidität verfügen, um die Schuld bei Fälligkeit zu bedienen. Befürchten Anleger, dass sie ihr Geld nicht in jedem Fall zurück erhalten, legen sie es anderweitig an, was die Märkte für Staatsanleihen instabil mache und die Gefahr von Ansteckungseffekten erhöhe. Das Fehlen einer impliziten Garantie unterscheidet daher die Mitgliedsstaaten der Europäischen Währungsunion von „stand-alone“ Ländern, wie Japan, Großbritannien oder den USA, die noch über eine autonome Geldpolitik verfügen und in denen die Zentralbank die Rückzahlung der Staatsschulden garantiert. Diese Lücke soll die EZB schließen, indem sie bereitsteht, unbegrenzt Staatsanleihen aufzukaufen.

Eine Schwachstelle dieser Argumentation liegt darin, dass sie nicht genau zwischen Liquiditäts- und Solvenzproblemen öffentlicher Schuldner unterscheidet. Das Problem Griechenlands, aber wohl auch Spaniens oder Italiens, liegt nicht darin, dass diese Länder Kassenkredite benötigen, um vorübergehende Zahlungsausfälle zu kompensieren. Vielmehr legen Investoren ihr Geld nicht mehr in griechischen, spanischen oder italienischen Staatsanleihen an, weil sie es für unwahrscheinlich halten, dass die Steuereinnahmen ausreichen, um den Schuldendienst leisten können. Deshalb investieren sie in Staatsanleihen mit geringerer Ausfallwahrscheinlichkeit. Als LoLR vermag die Europäische Zentralbank aber nicht die Solvenzprobleme von Gebietskörperschaften lösen; dazu bedarf es vielmehr struktureller Reformen und verbesserter fiskalischer Fundamentaldaten, damit Investoren das Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit zurückgewinnen.

Langfristige Rendite
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Obige Abbildung verdeutlicht diese Schwierigkeiten für die Geldpolitik, die Finanzierungsbedingungen für Staaten mit ungünstigen Fundamentaldaten zu verbessern. Sie zeigt die Umlaufrenditen von Staatsanleihen aus Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Italien seit Mai 2012. Obwohl die EZB seither Staatsanleihen aus diesen Ländern im Volumen von bislang mehr als 280 Mrd. Euro angekauft hat, sind deren Zinssätze weiter angestiegen. Eine Ausnahme bildet (neben Portugal) vor allem Irland, das glaubhaft ein Reformprogramm eingeleitet und inzwischen auch wieder Zugang zu den langfristigen Kapitalmärkten gefunden hat. Augenscheinlich verpuffen die Zinseffekte von Staatsanleihekäufen ohne nachhaltige Strukturreformen schnell, sodass die EZB über sehr lange Zeit und in großem Umfang intervenieren müsste, um einen nachhaltigen Zinseffekt zu erzielen. Davor scheut die EZB bislang zurück, und dass aus gutem Grund, weil die Konsequenzen unüberschaubar sein dürften.

Erstens übernimmt die Zentralbank mit dem Ankauf von Staatschuldtiteln erhebliche Risiken in ihr Portefeuille und läuft Gefahr, zusätzliches Eigenkapital von den Mitgliedsstaaten der Währungsunion zu benötigen, falls es zu einem Schuldenschnitt kommt. Wer zusätzliches Kapital gibt, will wahrscheinlich auch mitreden, sodass die Unabhängigkeit der Geldpolitik in Gefahr geriete. Bislang hat das Eurosystem Anleihen aus Irland, Griechenland, Portugal, Italien und Spanien in einem Volumen angekauft, das etwa das Dreifache von Eigenkapital und Rücklagen des Eurosystems ausmacht. Dies wäre selbst bei einem teilweisen Ausfall schnell aufgebraucht. Zwar argumentieren Befürworter einer LoLR-Politik, dass eine Risikoübernahme Folge jeder Art von Offenmarktpolitik sei, weil ja auch von Banken bei der EZB gestellte Sicherheiten ausfallen können. Allerdings sind die Risiken bei normalen Offenmarktgeschäften weit gestreut und bilden keine Klumpen, wie das mit dem Ankauf von Staatsanleihen aus den Peripherieländern der Fall ist.

Zweitens führte der unbedingte Ankauf von Staatsanleihen zu einer unkontrollierbaren Ausweitung im Volumen der Notenbankbilanz und schaffte eine Überschussliquidität, die langfristig inflationswirksam werden kann. Dem halten Befürworter einer LoLR-Politik entgegen, dass die Politik eines LoLR nicht zwangsläufig die Geldmenge erhöhen und inflationsfördernd wirken muss, weil die Überschussliquidität von den Geschäftsbanken auf Konten bei der Zentralbank gehalten wird. Tatsächlich ist im Euro-Währungsgebiet das Basisgeldwachstum erheblich angestiegen, ohne dass die Wachstumsrate von M3 und die Inflationsrate entsprechend zugenommen haben. Ein Großteil der Überschussliquidität wird von den Geschäftsbanken als Überschussreserve gehalten, was zu einer Abnahme im Geldangebotsmultiplikator geführt hat. Allerdings wird dadurch ein Inflationspotenzial geschaffen, das effektiv wird, sobald die Geldmärkte ihre Funktionsfähigkeit wiedergewonnen haben.

Schließlich ist zu befürchten, dass eine LoLR-Politik den Konsolidierungsdruck von den öffentlichen Haushalten in den Peripherieländern nimmt und in Zukunft immer weitere Wertpapierankäufe durch die Zentralbank notwendig werden. Warum sollten Iren, Griechen oder Portugiesen schmerzhafte Konsolidierungsprogramme durchführen oder in Zukunft Fiskaldisziplin zeigen, wenn die EZB in Frankfurt mit einer Kreditlinie bereitstünde? Druck auf die Geldpolitik auszuüben, ist häufig einfacher, als von heimischen Gewerkschaften Arbeitsmarktreformen einzufordern oder in Lokalparlamenten die Diäten von Abgeordneten der eigenen Partei zu kürzen. Zwar soll der jüngst beschlossene Fiskalpakt solch einem moral hazard entgegen wirken, an dessen Wirksamkeit aber erhebliche Zweifel angebracht sind, weil die im Vertrag vorgesehene Klagemöglichkeit einzelner Unterzeichnerstaaten vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Schuldensünder kaum praktikabel oder mit hohen politischen Kosten verbunden ist. Darüber hinaus schreibt der Fiskalpakt eine Obergrenze lediglich für das strukturelle jährliche Haushaltsdefizit vor und nimmt damit ausdrücklich Überschreitungen in Kauf, die konjunkturelle Ursachen haben oder Folge außergewöhnlicher Umstände sind.

Bislang hat sich die EZB den Forderungen noch widersetzt, unbedingt und unbegrenzt Staatsanleihen anzukaufen – auch wenn die Bemerkungen von EZB-Präsident Draghi in London Ende Juli (wonach die EZB im Rahmen ihres Mandats bereit sei, alles zu tun, um den Euro zu schützen) zunächst anders interpretiert wurden (Draghi, 2012). Die Frage ist, wie lange die EZB dem Druck in Zukunft noch standhält.

Literatur

BAGEHOT, W. (1873): Lombard Street: A Description of the Money Market, London (reprint): Dodo Press.

DE GRAUWE, P. (2011): The European Central Bank as a Lender of Last Resort, VoxEU, 18 August 2011.

DRAGHI, M. (2012): Speech by Mario Draghi, President of the European Central Bank at the Global Investment Conference in London, 26 July 2012, Frankfurt/Main.

FREIXAS, X., GIANNINI, C., HOGGARTH, G., SOUSSA, F. (2000): Lender of last resort: What have we learned since Bagehot?, in: Journal of Financial Services Research 18(1), 63-84.

3 Antworten auf „Braucht Europa einen „Lender of last resort“ für öffentliche Schuldner?“

  1. …und so schließt er messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf!

    Man fühlt sich an Christian Morgenstern erinnert, wenn man hier liest: „Das Problem (…) Spaniens oder Italiens, liegt nicht darin, dass diese Länder Kassenkredite benötigen, um vorübergehende Zahlungsausfälle zu kompensieren“. Das ist schlicht empirisch falsch. Bei vernünftigen Zinssätzen gäbe es in diesen Ländern keinen Grund Staatsinsolvenzen zu befürchten.

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