Ordnungspolitischer Kommentar
Lasst sie doch streiken?
Zum anhaltenden Tarifkonflikt im Schienenverkehr

Die Tarifaus­einandersetzung der GDL mit der Deutschen Bahn geht gerade mit einem einwöchigen Streik in die nächste Runde. Das öffentliche Meinungs­bild erscheint geschlossener denn je: Vielerorts ist die Forderung zu vernehmen, dem vermeintlich auf dem Rücken der Allgemeinheit ausgetragenen Konflikt endlich Einhalt zu gebieten. Die Bundesregierung sieht sich in ihrem Vorha­ben bestätigt, die Tarifeinheit per Gesetz zu erzwingen.

Der aktuelle Tarifkonflikt im Schienenverkehr

Die Motivation für den Arbeitskampf auf Seiten der GDL unterscheidet sich im aktuellen Konflikt von üblichen Tarifauseinandersetzungen. Vordergründig streitet die GDL zwar unter anderem für eine Lohnerhöhung für die von ihr vertretenen Beschäftigten im Fahrdienst. Die wichtige zweite Triebfeder des aktuellen Tarifkonflikts ist jedoch das bevorstehende Gesetz zur Tarifeinheit. Sollte das Gesetz in der vorliegenden Fassung des Referenten­entwurfs wie geplant im Sommer in Kraft treten, droht der Spartengewerkschaft GDL ein massiver Verlust ihrer Einflusssphäre. Im Regelfall wäre durch das Gesetz nur noch die mitgliederstärkste Gewerkschaft in einem Be­trieb in den Tarifverhandlungen vertretungsberechtigt bzw. tariffähig. In den meisten Unternehmenssparten der Deutschen Bahn wäre das aktuell die Branchengewerkschaf EVG. Kleingewerkschaften würden damit durch die Hintertür ihr Streikrecht verlieren, da die Arbeitsgerichte Streiks solcher Gewerkschaften unterbinden dürften, wenn ihnen ohnehin die Tariffähigkeit fehlen würde und der Streik damit ohne Aussicht auf den Abschluss eines Tarifvertrags bliebe. Die von vielen Beobachtern als ag­gressiv empfundene GDL-Strategie ist daher darauf ausgerichtet, den eigenen Einfluss im Fahrbetrieb der Deutschen Bahn durch lukrative Abschlüsse auszuweiten. In einem möglichst großen Teilbereich will sie eine realistische Chance erhalten, in späteren Jahren die größere und damit tariffähige Gewerkschaft zu sein.

Von der Tarifeinheit zur Tarifpluralität

Nachdem in Deutschland lange Zeit das Prinzip der Ta­rifeinheit bestand, herrscht seit einem Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 2010 die sogenannte Tarifpluralität. Seither ist es auch kleineren Sparten- und Minderheitengewerkschaften erlaubt, jenseits von Bran­chentarifverträgen innerhalb eines Betriebes eigene Tarif­abschlüsse für den von ihnen vertretenen Teil der Beleg­schaft abzuschließen. Bei Tarifpluralität haben alle in einem Betrieb oder einer Branche engagierten Gewerkschaften die Wahl, ob sie gemeinsam oder getrennt mit dem Arbeitgeber in Lohnverhandlungen treten wollen.

Das Machtpotential von Spartengewerkschaften

Aus strategischer Sicht ist ein gemeinsam koordiniertes Vorgehen mehrerer Gewerkschaften immer dann naheliegend, wenn die jeweils vertretenen Beschäftigungsgrup­pen im Produktionsprozess relativ leicht gegeneinander auszutauschen wären. Durch ein einheitliches Vorgehen können die beteiligten Gewerkschaften in diesem Fall verhindern, vom Arbeitgeber gegeneinander ausgespielt zu werden. Eine andere Situation ergibt sich hingegen, wenn die Mitglieder der eigenen Gewerkschaft spezifische Tätigkeiten ausführen, die im Arbeits- bzw. Produk­tionsprozess komplementär zu den Tätigkeiten der übri­gen Belegschaft sind. Ein Beispiel hierfür wären die Lok­führer. Da die spezifische Tätigkeit der Lokführer nicht durch die übrigen Kollegen im Konzern substituierbar ist, können die nicht im Arbeitskampf befindlichen anderen Bahnmitarbeitet auch nicht als Ersatz-Lokführer einge­setzt werden, um dem Streik der Lokführer das Droh- und Schädigungspotential zu nehmen. In diesem Fall kann es für die Beschäftigten mit einer spezifischen, komplementären Tätigkeit attraktiv sein, sich von einer berufsgrup­penspezifischen Spartengewerkschaft vertreten zu lassen. Die eigene hohe Schlagkraft in Arbeitskämpfen kann so zur Maximierung der eigenen Lohnsumme eingesetzt werden, ohne Rücksicht auf die Belange der übrigen Be­legschaft nehmen zu müssen. Die Vertretung durch eine branchenweite Gewerkschaft erscheint umgekehrt in diesem Fall für die Inhaber der unersetzbaren Schlüsselpositionen weniger lukrativ, weil diese in der Regel auch die Beschäftigungswirkung ihrer Forderungen auf die gesam­te von ihr vertretene Belegschaft berücksichtigen muss.

Der Ruf nach einer gesetzlichen Regelung

Die Befürworter einer gesetzlich verordneten Tarifeinheit wollen beobachtet haben, dass die Spartengewerkschaften dieses Machtpotential missbräuchlich ausnutzen. Die von Spartengewerkschaften vorangetriebenen Forderungen für Teilgruppen würden immer seltener die Wertschöpfung ihrer Mitglieder widerspiegeln, sondern seien Ausdruck eben jener Schlüsselpositionen im Betriebs- oder Produktionsablauf. Von einer Wiedereinbindung der Spezialisten in einen Branchentarifvertrag durch eine verordnete Tarifeinheit wird sich eine Deeskalation von Arbeitskämp­fen erhofft, da in diesem Fall Forderungen und Streikent­scheidungen von der gesamten Belegschaft mitgetragen werden müssten. Aus ökonomischer Perspektive lässt sich jedoch nicht unmittelbar bestimmen, ob die Lohnforde­rung einer Gruppe von Fachkräften maßlos oder doch maßvoll bzw. richtig ist. Ein derartiges Maß wäre aber notwendig, wenn man bestimmen wollte, ob ein gegebe­nes Machtpotential missbraucht und Arbeitskämpfe ungerechtfertigter Weise zur Eskalation getrieben werden. Umgekehrt könnten die Ziele der Gewerkschaft im be­rechtigten Arbeitnehmerinteresse liegen, die durch Arbeitskämpfe in festgefahrenen Verhandlungen letztlich ihre ureigene Aufgabe der Arbeitnehmervertretung erfüllt.

Empirische Befunde

Die empirischen Befunde sprechen mit Ausnahme der Tarifkonflikte im Schienenverkehr insgesamt nicht eindeutig für eine Zunahme der Konfliktintensität der Tarif­verhandlungen seit dem Urteil des BAGs im Jahr 2010. Im Umkehrschluss deutet die Empirie damit aber auf eine besondere Situation im Schienenverkehr hin. Im zuvor als Staatsmonopol geführten Bahnbetrieb der DB trifft die GDL auf ein noch immer wenig wettbewerbsintensives Marktumfeld. Im Personenfernverkehr besteht auch 20 Jahre nach der Privatisierung der Bundesbahn weiter kein Wettbewerb, der sich diszip­linierend auf Forderungen und Streikbereitschaften aus­wirken könnte. Hohe Ab­schlüsse gefährden hier offenbar nicht oder nicht für alle Beteiligten erkennbar die Markt­anteile und damit den Fortbestand der eigenen Beschäftigung. Im Regionalverkehr verliert die DB auch aufgrund deutlich höherer Lohnkosten zwar zunehmend Ausschreibungen, aufgrund der noch immer dominierenden Stellung der DB mit einem Anteil von über 90 Prozent scheint aber auch hier für viele Bahnmitarbeiter noch keine kurz- und mittelfristige Gefahr von Arbeitsplatzver­lusten befürchtet zu werden. Einiges spricht im Fall des Tarifkonflikts bei der DB da­her dafür, dass gegenwärtig noch immer die Renten aus der ehemaligen Monopolstel­lung aufgeteilt werden. Ein natürlich erst mittel- und langfristiges Mittel zur Berücksichtigung der mit Tarifforderungen und Arbeitskämpfen verbundenen Kosten wäre es, die Wettbewerbsbedingungen für Konkurrenzun­ternehmen vor allem im Fernver­kehr endlich weiter zu verbessern.

Deeskalation geht mit geringerer Eingriffsintensität

Der von der Regierung im Fall von Minderheitengewerk­schaften geplante Entzug des Rechts zum Abschluss von Tarifverträgen trägt gegenwärtig massiv zu Verschärfung des Konflikts bei und schränkt zugleich die Betätigungs­möglichkeiten kleiner oder neuer Gewerkschaften empfindlich ein. Es ist nicht ohne weiteres klar, ob der Streik in dieser Woche auf Herrn Weselsky oder Frau Nahles zurückzuführen ist. Der vorgesehene Verlust der Tariffähigkeit würde den Fortbestand kleinerer Gewerkschaften gefährden. Das Gesetzesvorhaben erscheint daher unan­gemessen. Wenn Arbeitnehmer das Recht haben, sich von Gewerkschaften in Tarifkonflikten vertreten zu lassen, dann soll­ten sie auch das Recht haben, frei zu wählen, welche Gewerkschaft ihre Belange am besten vertreten kann. Sinnvoller erscheint eine Modizfierung des Streik­rechts. Ein Mittel gegen eine schnelle Eskalation von Tarifverhand­lungen wäre z.B. ein verpflichtendes Schlichtungsverfahren durch einen unabhängigen, von beiden Parteien mitgetragenen Schlichter vor einem Arbeitskampf. Der Streik wäre innerhalb dieser Regeln nur noch die „Ultima Ratio“. Sollten auch mehrere Streik- und Schlichtungsrun­den zu keinem Ergebnis führen, könnte ein Schlichterspruch für beide Parteien verbindlich werden. Weitere Streiks wären ausgeschlossen, beide Parteien stünde jedoch das Recht zu, das Ergebnis nachträglich gerichtlich überprüfen zulassen.

Fazit

Das geplante Gesetz zur Tarifeinheit greift zu weit. Die Senkung der Konfliktintensität würde mit deutlichen Ne­benwirkungen wie dem Verlust des Verbändewettbewerbs unter den Gewerkschaften erkauft. Im Wettbewerb der Gewerkschaften sich möglicherweise ergebende In­novationen beim Schnüren von Verhandlungspaketen, bei der verbandsinternen Organisation, bei der Erarbeitung von Verhandlungsstrategien oder auch beim Angebot gewerk­schaftlicher Zusatzleistungen blieben bei einer staatlich herbeigeführten Einheitsgewerkschaft wohlmöglich aus. Der Wettbewerb im Schienenverkehr sollte gestärkt wer­den, statt den Wettbewerb der Gewerkschaften einzuschränken. Um eine übertriebene Streiklust einzudäm­men, müsste der Gesetzgeber endlich über eine Reform des Streikrechts und der Verfahrensregel im Arbeitskampf nachdenken, statt die Organisationsfähigkeit klei­ner Gewerkschaften zu untergraben.

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Dieser Text ist zugleich als Ausgabe Nr. 05/2015 der Reihe Ordnungspolitischer Kommentar des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln und des Otto-Wolff-Instituts für Wirtschaftsordnung erschienen.

Blog-Beiträge zur Kontroverse um Tarifeinheit und Tarifpluralität:

Norbert Berthold: Mehr institutionellen Wettbewerb wagen. Tarifpluralität statt Tarifeinheit

Norbert Berthold: Lohn- und Tarifpolitik auf dem Boden des Grundgesetzes. Spartengewerkschaften sind legitim

Dietrich Creutzburg: Wettbewerb – ja bitte! Aber ohne Vorrang für das Kollektiv

Norbert Berthold: Weniger Wettbewerb tut der Marktwirtschaft gut!? Die FAZ und die Tarifeinheit

Norbert Berthold: Das Tarifkartell lebt (noch). Tarifeinheit oder Koalitionsfreiheit?

Norbert Berthold: Lokführer, Flächentarife und Verteilungskämpfe

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