Tarifeinheit oder Tarifpluralität? (1)
Weniger Wettbewerb tut der Marktwirtschaft gut!?
Die FAZ und die Tarifeinheit

„Wettbewerb kann es nie genug geben“ (Roland Vaubel)

Die Welt der Ökonomie steht Kopf, nun auch in der FAZ. Alte Glaubensätze scheinen nicht mehr zu gelten. Mehr Wettbewerb sei nicht per se gut. Manchmal müsse er beschränkt werden, um die Marktwirtschaft vor sich selbst zu schützen. Diese steile These vertritt Dietrich Creutzburg, einer der klügsten ökonomischen Köpfe der FAZ, in dem Kommentar „Warum Tarifeinheit marktwirtschaftlich ist“. In der Lohn- und Tarifpolitik sei eben alles anders als auf Güter- und Faktormärkten. Hier tue nicht mehr, sondern weniger Wettbewerb der Marktwirtschaft gut. Tarifeinheit sei der Tarifpluralität vorzuziehen. Er fordert ein Gesetz, das den wettbewerblichen Ausrutscher des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahre 2010 endlich korrigiere. Damit liegt er auf der Linie aller im Bundestag vertretenen Parteien. Auch die kartellierten Tarifpartner – Einheitsgewerkschaften und Arbeitgeberverbände – werden seine Ausführungen mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen haben. Richtig werden sie dadurch allerdings noch lange nicht.

Die Creutzburg-These

Es ist wahr, die GDL läuft gegenwärtig tarifpolitisch Amok. Sie fordert einen tarifvertraglichen Schutz der Lokführer, der stark an „englische“ Verhältnisse erinnert. Der Arbeitsschutz soll faktisch dem von Beamten entsprechen. Betriebsbedingte Kündigungen, betriebliche Umsetzungen und regionale Versetzungen sollen verboten werden. Sind Lokführer gesundheitlich beeinträchtigt, soll es nicht möglich sein, sie auf „niederwertigere“ Arbeitsplätze bei der Bahn zu versetzen. Über eine „Lizenzverlustversicherung“ sollen sie vielmehr bis zur Rente 90 – 95 Prozent ihrer Bezüge erhalten. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass kostspielige Streiks hohe gesamtwirtschaftliche Kosten produzieren. Das alles wirft kein gutes Licht auf Spartengewerkschaften. Allerdings befeuert das geplante Gesetz zur Tarifeinheit die Geisterfahrt der GDL. Mit dem Gesetz ist ihr Untergang besiegelt. Die gegenwärtigen Tarifverhandlungen sind ein typisches „Endspiel“.

Für Dietrich Creutzburg sind individuelle Tarifverträge das Ideal. Alle kollektiven Tarifverträge sind suboptimal. Sie schränken die individuelle Vertragsfreiheit ein. Das gilt nicht nur für Flächentarife, es trifft auch für betriebliche Bündnisse für Arbeit und eben auch für Tarifverträge zu, die von Spartengewerkschaften abgeschlossen werden. Die Flächentarife sind durch tarifliche Öffnungsklauseln und betriebliche Zeitarbeit durchlöchert. Mit Tarifverträgen für einzelne Berufe verlieren die Flächentarife weiter an tarifpolitischer Bindekraft. Dietrich Creutzburg sieht in dieser tarifpolitischen Entwicklung von Flächentarifen über betriebliche Bündnisse hin zu Berufstarifen nicht mehr individuelle Vertragsfreiheit. Er ist im Gegenteil der Meinung, dass die kollektiven Wirkungen solcher Abschlüsse die individuelle Vertragsfreiheit endgültig zur Strecke bringen. Warum bleibt allerdings unklar. Er plädiert deshalb für eine Einschränkung der positiven Koalitionsfreiheit.

Der Kern allen Übels liegt für ihn in der positiven Koalitionsfreiheit. Mit dieser grundgesetzlichen Regelung werden Kollektivverträge erst möglich: „Das Tarifvertragssystem … stellt vielmehr, gestützt auf das Grundrecht der Koalitionsfreiheit, eine Regulierung des Arbeitsmarktes dar.“ Das verfassungsrechtlich garantierte Streikrecht gibt Gewerkschaften erst die Macht, kollektive Arbeitsverträge durchzusetzen und deren Früchte zu ernten. Es läge deshalb in den Händen des Staates, „wie weit diese Regulierung ausgreifen soll.“ Er ist der Meinung, dass „ein Gesetz zur Wiederbefestigung der Tarifeinheit … ein Gesetz zur Rückführung tariflicher Regulierungsspielräume auf den Stand des Jahres 2010“ sei. Ein Gesetz zur Tarifeinheit schränke zwar die positive Koalitionsfreiheit ein. Da aber Berufstarife die individuelle Vertragsfreiheit weiter verringerten, sei ein Gesetz zur Tarifeinheit zum Schutz der Marktwirtschaft sinnvoll.

Eine irrige Analyse

Auch ich bin ein Verfechter möglichst großer individueller Vertragsfreiheit überall, nicht nur auf den Arbeitsmärkten. Ich respektiere allerdings die grundgesetzlich garantierte positive und negative Koalitionsfreiheit. Diese Garantie ist mit dem Streikrecht die Basis kollektiver Arbeitsverträge. Ideal wäre es, beide Aspekte unter einen Hut zu bringen. Das ist in Grenzen möglich, wie die tagtägliche Erfahrung zeigt. Tarifliche Öffnungsklauseln sind eine Antwort der Tarifpartner auf die größere Heterogenität von Branchen und Unternehmen. Das Organisationsinteresse der Kartellbrüder verhindert sie allerdings oft. Gesetzliche Öffnungsklauseln wären deshalb besser. Eine politische Mehrheit dafür ist aber weit und breit nicht in Sicht. Die betriebliche Wirklichkeit erzwingt dennoch faktische Öffnungen der Flächentarife. Betriebliche Bündnisse für Arbeit und Zeitarbeit sind zwei Elemente einer heterogeneren lohn- und tarifpolitischen Entwicklung.

Die eigentlich spannende Frage ist, ob solche betrieblichen Abweichungen von kollektiven Flächentarifen ein Schritt zu mehr individueller Vertragsfreiheit sind. Der Sinn von mehr individueller vertraglicher Freiheit besteht darin, dass die Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern besser getroffen werden. Das ist bei betrieblichen Bündnissen für Arbeit der Fall. Die Welt der Unternehmen ist heterogener geworden. Passgenauere betriebliche Lösungen sind notwendig, um sich der immer intensiveren weltweiten Konkurrenz zu erwehren. Das gilt auch für die Lohn- und Tarifpolitik. Tarifliche und gesetzliche Öffnungsklauseln sind eine mögliche Antwort. Flächendeckende Kollektivverträge werden durch betriebliche Kollektivverträge ersetzt. Dabei wird nicht Teufel mit Beelzebub ausgetrieben. Den Wünschen von Arbeitnehmern in den Betrieben und der Geschäftsleitung wird besser entsprochen. Beide Gruppen stellen sich besser.

Damit aber nicht genug. Eine weltweite Öffnung der Märkte und ein spezifischer technischer Fortschritt („skill biased“) erhöhen die Heterogenität der Arbeitnehmer. Die Nachfrage sowohl nach kognitiver als auch personenbezogener Arbeit nimmt zu, die nach routine-mäßiger Arbeit geht zurück. Arbeitnehmer in Schlüsselpositionen, wie etwa Lokführer oder Ärzte, sind besonders gefragt. Diese Arbeitnehmer sind immer weniger bereit, sich lohn- und tarifpolitisch mit anderen Arbeitnehmern solidarisch zu zeigen. Sie wollen ein größeres Stück des Kuchens und sie bekommen es auch. Spartengewerkschaften stoßen in eine Lücke, die Einheitsgewerkschaften hinterlassen. Sie helfen diesen Gruppen, ihre spezifischen Interessen durchzusetzen. Absolut und relativ höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen sind das Ergebnis. Die Lohn- und Tarifpolitik verbetrieblicht sich nicht nur, sie individualisiert sich auch. Ein Gesetz zur Tarifeinheit bedeutet mehr und nicht weniger Kollektivierung der Tarifverträge.

Wider ungezügeltem Übermut

Diese vor allem technologisch getriebene lohn- und tarifpolitische Entwicklung ist nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen. Stark steigende Arbeitskosten und ständige Streiks sind nur die Spitze des Eisberges. Negative Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft sind möglich. Es ist allerdings zu kurz gesprungen, auf diese heterogene Entwicklung mit der zentralistischen Brechstange der Tarifeinheit im Betrieb zu reagieren. Den Wettbewerb der Interessenvertretungen der Arbeitnehmer einzuschränken, ist keine gute Idee. Die Welt der Arbeitnehmer wird heterogener. Das macht ein institutionelles Design erforderlich, das dieser Entwicklung entspricht. Nicht kollektive Einheit, sondern betriebliche Vielfalt ist die adäquate Antwort. Die Tarifpluralität ist nicht aufzuhalten. Wer es versucht, wird scheitern. Ökonomische Gesetze lassen sich nicht mit politischer Macht aushebeln. Das wusste schon Eugen von Böhm-Bawerk.

Eine adäquate Antwort auf mehr Wettbewerb unter den Gewerkschaften ist mehr Wettbewerb auf den Absatzmärkten der Unternehmen. Die Erfahrung zeigt, Spartengewerkschaften gedeihen dort am besten, wo der Wettbewerb auf den Produktmärkten wenig intensiv ist. Das ist im Verkehrssektor, in der Gesundheitsbranche und in der Daseinsvorsorge der Fall. Diese Branchen haben sich auf Dienstleistungen spezialisiert. Oft dominieren noch immer staatliche Unternehmen. Eine harte Budgetrestriktion für die Unternehmen existiert nicht. Im  ungünstigsten Fall greifen sie in die tiefen Taschen der Steuerzahler. Ganz anders ist die Situation dort, wo der Wettbewerb auf den Absatzmärkten sehr intensiv ist, wie etwa im industriellen Sektor. Dort spielen Spartengewerkschaften keine Rolle. Der intensive Wettbewerb härtet die Budgetrestriktion der Unternehmen. Lohn- und tarifpolitisch wird selten über die Stränge geschlagen.

Die lohn- und tarifpolitischen Risiken und Nebenwirkungen von Spartengewerkschaften lassen sich begrenzen, wenn die Politik für mehr Wettbewerb auf den Absatzmärkten sorgt. Eine forcierte Deregulierung, Privatisierung und Entbürokratisierung der Märkte für Dienstleistungen wäre ein Schritt, mit dem es gelingen kann, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Ein mehr an Wettbewerb auf den Absatzmärkten härtet die Budgetrestriktion der Unternehmen. Die Lohn- und Tarifpolitik der Spartengewerkschaften wird diszipliniert. Das anämische wirtschaftliche Wachstum kommt auf Trab. Als Nebenprodukt werden die Kritiker deutscher Überschüsse in der Leistungsbilanz besänftigt. Ein schärferer Wettbewerb auf dem Markt für international weniger gut handelbare Dienstleistungen erhöht die Binnennachfrage. Der Wettbewerb kann seine Stärke als wirksames Entmachtungsinstrument entfalten. Er legt sowohl private Unternehmen als auch gewerkschaftliche Interessengruppen an die Leine.

Fazit

Weltweit offenere Märkte und technischer Fortschritt machen die Welt wirtschaftlich heterogener. Wer in diesem Umfeld mithalten will, braucht ein institutionelles Arrangement, das zu den neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten passt. Das gilt auch für die Lohn- und Tarifpolitik. Die adäquate Antwort auf heterogenere Unternehmen sind betriebliche Bündnisse für Arbeit. Tarifpluralität ist die passende Antwort auf heterogenere Arbeitnehmer. Mehr Wettbewerb der gewerkschaftlichen Interessenvertretungen der Arbeitnehmer ist allerdings nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen. Das gilt vor allem dann, wenn der Staat als Unternehmer mitmischt und die Budgetrestriktionen der Unternehmen aufweicht. Es wäre allerdings grundverkehrt, diesen Wettbewerb in das Prokrustesbett der Tarifeinheit zu zwängen. Der Weg zu weniger kollektiv geprägten Tarifverträgen würde versperrt. Wer Angst vor Spartengewerkschaften hat, sollte dafür Sorge tragen, dass der Wettbewerb auf den Absatzmärkten entfesselt wird.

Beiträge zur Kontroverse um Tarifeinheit und Tarifpluralität:

Norbert Berthold: Weniger Wettbewerb tut der Marktwirtschaft gut!? Die FAZ und die Tarifeinheit

Dietrich Creutzburg: Wettbewerb – ja bitte! Aber ohne Vorrang für das Kollektiv

Norbert Berthold: Lohn- und Tarifpolitik auf dem Boden des Grundgesetzes. Spartengewerkschaften sind legitim

Norbert Berthold: Das Tarifkartell lebt (noch). Tarifeinheit oder Koalitionsfreiheit?

Norbert Berthold: Lokführer, Flächentarife und Verteilungskämpfe

9 Antworten auf „Tarifeinheit oder Tarifpluralität? (1)
Weniger Wettbewerb tut der Marktwirtschaft gut!?
Die FAZ und die Tarifeinheit

  1. „Mini-Gewerkschaften entstehen oft dort, wo der Wettbewerb gering und der Staatseinfluss gross ist, etwa im Verkehrs- oder Gesundheitswesen. Damit liegt die wichtigste Waffe gegen den Missbrauch des Streikrechts auf der Hand: die Liberalisierung dieser Märkte. Dies würde der Streiklust einen Riegel schieben. Die Rückkehr zum alten Tarifkartell wäre für Deutschland dagegen ein Rückschritt.“
    Christoph Eisenring: Aufmüpfige Mini-Gewerkschaften. Das aufgeweichte Tarifkartell, in: NZZ vom 30. August 2014

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