Lokführer, Flächentarife und Verteilungskämpfe

Die Welt des Korporatismus ist schon lange nicht mehr heil. Sein Herzstück, der Flächentarif, löst sich auf. Die Branchen marschieren lohn- und tarifpolitisch immer seltener im Gleichschritt. Auch die Unternehmen einer Branche wollen immer öfter eigene Wege gehen. Noch einen Schritt weiter gehen die Lokführer. Wie Piloten, Ärzte und Fluglotsen vor ihnen, wollen sie im Unternehmen nicht mehr mit den anderen Arbeitnehmern über einen Kamm geschoren werden. Dem gemeinsamen Tarifvertrag, den die Bahn mit den beiden konkurrierenden Gewerkschaften geschlossen hat, wollen sie sich nicht anschließen. Sie fordern einen eigenständigen.

Diese Entwicklung ist zwangsläufig und unumkehrbar. Der Grund liegt auf der Hand: Die Zeit der relativ homogenen wirtschaftlichen Entwicklung ist vorbei: Branchen, Unternehmen und Arbeitnehmer werden heterogener. Stark unterschiedliche Entwicklungen von Branchen machen die Pilotfunktion von Flächentarifen obsolet. Divergierende Entwicklungen der Unternehmen einer Branche erfordern viel stärker dezentrale betriebliche Lösungen. Die steigende Heterogenität der Arbeitnehmer stellt schließlich das Prinzip der Tarifeinheitlichkeit in Unternehmen in Frage. Das alte institutionelle Arrangement, das viel zu viel über einen Kamm schert, passt nicht mehr. Institutioneller Mismatch ist unvermeidlich.

Der Klassenkampf fällt aus

Eine veränderte ökonomische Realität erzwingt über kurz oder lang ein neues institutionelles Arrangement. Gegen das ökonomische Gesetz hat (verbands-)politische Macht keine Chance. Das hat Eugen von Böhm-Bawerk schon 1914 erkannt. Die Lokführer tun gerade alles, den institutionellen Wandel zu beschleunigen. Damit ändert sich aber auch der Kampf der wirtschaftlichen Akteure um die Anteile am Sozialprodukt. Der Verteilungskampf der Zukunft findet weniger zwischen Arbeit und Kapital statt. Er spielt sich immer mehr in der Gruppe der Arbeitnehmer ab. Dort werden Arbeitnehmer unterschiedlicher Qualifikationen um möglichst große Stücke am volkswirtschaftlichen Kuchen kämpfen.

Der Kampf zwischen Arbeit und Kapital tritt in den Hintergrund. Mit dem Fall des eisernen Vorhangs und weltweit offeneren Gütermärkten hat sich das Arbeitsangebot auf der Welt mehr als verdoppelt. Der Eintritt von China und Indien in die internationale Arbeitsteilung hat die Entwicklung wesentlich beeinflusst. Arbeit gibt es im Überfluss, Kapital bleibt knapp. Der relative Preis des Kapitals steigt, der der Arbeit sinkt. Die Macht auf den Arbeitsmärkten verschiebt sich zugunsten des Kapitals. Im Kampf um die Stücke am Sozialprodukt gerät Arbeit auf die Verliererstrasse. Ein erster Anhaltspunkt für veränderte Machtverhältnisse ist die seit Anfang der 80er Jahre in allen OECD-Ländern sinkende Lohnquote.

Der Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital fällt aus, zumindest im privaten Sektor. Gewerkschaften verlieren weiter an Boden, amerikanische Verhältnisse halten Einzug. Abgesagt ist der Verteilungskampf damit noch nicht. Schauplatz könnte der öffentliche Sektor werden. Dort tobt weder auf Güter- und Dienstleistungs- noch Arbeitsmärkten der Wettbewerb. Solche Verhältnisse sind aber ein Eldorado für die Jagd von Interessengruppen nach ökonomischen Renten, französische und italienische Verhältnisse drohen. Der Verteilungskampf richtet sich zwar formal gegen die Arbeitgeber. Tatsächlich ist es aber ein Kampf gegen die Steuerzahler. Bei mangelndem Steuerwettbewerb könnte er langwierig und teuer werden.

Neue Verteilungskämpfe

Um möglichst große Stücke am Kuchen wird auch in Zukunft gekämpft werden. Die Schlachtordnung wird allerdings eine andere sein. Das Bild, das eine sinkende Lohnquote zeichnet, ist schief. Richtig ist, der Anteil wenig qualifizierter Arbeit am Volkseinkommen geht zurück, entweder durch geringere Löhne oder höhere Arbeitslosigkeit. Wahr ist aber auch, qualifizierte Arbeit sichert sich ein größeres Stück am gesamtwirtschaftlichen Kuchen. Globalisierung und neue Informations- und Kommunikationstechnologie begünstigen qualifizierte Arbeit. Beide erhöhen die Nachfrage nach gut ausgebildeter Arbeit. Wie Realkapital wird auch qualifizierte Arbeit knapp, ihre Verhandlungsposition bessert sich, ihr relativer Preis steigt, ihr Anteil am Volkseinkommen nimmt zu.

Davon profitieren besonders Arbeitnehmer, die in Unternehmen an Schnittstellen der Infrastruktur sitzen. Das gilt etwa für Ärzte, Piloten, Fluglotsen aber auch Lokführer. Sind mögliche Zuwächse an Einkommen dieser Gruppen hoch genug, wird die Solidarität mit anderen Arbeitnehmern auf eine harte Probe gestellt. Was für Arbeitnehmer in unterschiedlich ertragreichen Branchen und Unternehmen gilt, trifft auch für unterschiedlich qualifizierte Arbeitnehmer in Unternehmen zu. Wirtschaftlich heterogenere Unternehmen und Arbeitnehmern erodieren nicht nur Flächentarife, sie tragen auch mit dazu bei, dass Arbeitnehmer ihre individuell unterschiedlichen Möglichkeiten nutzen, Einkommen zu erzielen.

Damit verlagert sich der Kampf um die Anteile am Volkseinkommen stärker in die Gruppe der Arbeitnehmer. Qualifizierte Arbeit ist immer weniger bereit, einfache Arbeit zu subventionieren. Hohe möglichen Zuwächse an Einkommen steigern den Preis, den qualifizierte Arbeit bei einer Politik der Tarifeinheit bezahlen muss. Kein Wunder, dass bestimmte Berufsgruppen, wie etwa die Lokführer, diesen Preis nicht mehr zahlen wollen. Und sie haben die besseren Trümpfe in der Hand. Das Ergebnis ist eine ungleichere Verteilung der Einkommen. Qualifiziertere Arbeit gewinnt, einfache Arbeit verliert relativ zur qualifizierten. Einfache Arbeit verliert absolut, wenn der Kuchen, der zu verteilen ist, nicht mehr wächst.

Kampfgemeinschaften

Die Ungleichheit wird sich allerdings in Grenzen halten. Dafür sorgt schon der Wettbewerb. Unternehmen, die harter Konkurrenz ausgesetzt sind, können nur überleben, wenn sie als Kampfgemeinschaft auftreten. Wie wettbewerbsfähig Unternehmen sind, hängt auch davon ab, ob die Arbeitnehmer miteinander oder gegeneinander agieren. Kapital ist nicht nur auf Arbeit angewiesen, um Erfolg zu haben, auch Arbeit ist voneinander abhängig. Die Lokführer können ohne das Begleitpersonal in Zügen, die Stellenwärter, die Logistikplaner etc. nicht erfolgreich sein. Zu große interne Einkommensunterschiede schaden der Produktivität. Ein anhaltender Verteilungskampf der Arbeitnehmer schwächt die unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit. Der Versuch besser Qualifizierter, sich ein größeres Stück aus dem Kuchen des Unternehmens herauszuschneiden, gerät zum Drahtseilakt.

Es spricht vieles dafür, dass Arbeit und Kapital in Unternehmen künftig stärker als Kampfgemeinschaft auftreten. Das stärkt die unternehmensinterne Solidarität, mindert die Verteilungskämpfe, begrenzt die unternehmensinterne Ungleichheit der Einkommen und vergrößert den zu verteilenden Kuchen. Die Chancen steigen, dass die Einkommen einfacher Arbeit real steigen. Betriebliche Bündnisse für Arbeit werden wie Pilze aus dem Boden schießen. Das dürfte auch eine der wenigen Chancen der Gewerkschaften sein, als Interessenvertretung der Arbeitnehmer in Zukunft einen Fuß auf den Boden zu bekommen. Leicht wird ihnen das nicht fallen, müssen sie doch nun stärker dezentral agieren. Den Kampf gegen die Aufhebung der betrieblichen Regelungssperre (§ 77,3 BetrVG) werden sie einstellen.

Der solidarisierende Effekt des Wettbewerbs scheint im öffentlichen Sektor weitgehend zu fehlen. Dort ist der Wettbewerb auf den Absatzmärkten eher bescheiden. Das Angebot schafft sich seine Nachfrage, der bürokratische Dschungel wird aufgeforstet. Der Druck auf Arbeit und Kapital, gemeinsam gegen Konkurrenten aufzutreten, baut sich kaum auf. Kampfgemeinschaften von Arbeit und Kapital bilden sich nicht. Jeder ist sich selbst der nächste. Mächtigere Gruppen nehmen sich ein größeres Stück des Kuchens, auch in der Hoffnung, dass die Politik den Kuchen vergrößert. Tut die das aber bei immer knapperen finanzieller Kassen nicht, fallen die Stücke für die anderen kleiner aus. Die Verteilungskämpfe zwischen Arbeitnehmern werden im öffentlichen Sektor heftiger ausfallen.

Wettbewerb der Interessengruppen

Die Aktionen der Lokführer zeigen noch etwas anderes. Der Wettbewerb der Interessengruppen der Arbeitnehmer in den Unternehmen wird schärfer. Schon heute konkurrieren in großen Unternehmen, die wie etwa Thyssen keinen klaren Bezug mehr zu einer Branche aufweisen, die IG BCE, ver.di und die IGM um die Arbeitnehmer. Der Wettbewerb um diese wird aber nicht nur zwischen Gewerkschaften härter. Auch auf der Ebene der Betriebsräte treten neue, nicht gewerkschaftlich organisierte Konkurrenten immer öfter erfolgreich auf. Sie jagen den im DGB organisierten Betriebsräten stetig Marktanteile ab. Dieser Wettbewerb um die Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer wird sich intensivieren.

Diese Entwicklung ist positiv: Wettbewerb kann es nie genug geben. Das gilt auch auf dem Markt für Interessengruppen. Es entwickelt sich ein Wettbewerb der Ideen. Erst Wettbewerb mischt das Geflecht der Arbeitsbeziehungen auf und führt zu passgenaueren Lösungen. Das gilt für Arbeitszeiten, Einkommen, Qualifizierung aber auch Beteiligungen der Arbeitnehmer. Es gibt keinen Grund, diesen Wettbewerb zu unterbinden. Zwar ist er nicht im Interesse der Insider auf dem Markt für Interessengruppen, aber Arbeitnehmer und Unternehmen profitieren davon. Auch auf diesem Markt ist Wettbewerb ein gutes Instrument der Entmachtung. Er schleift bestehende Monopole und das ist auch gut so.

Beiträge zur Tarifeinheit und Taripluralität:

Norbert Berthold: Das Tarifkartell lebt (noch). Tarifeinheit oder Koalitionsfreiheit?

Norbert Berthold: Weniger Wettbewerb tut der Marktwirtschaft gut!? Die FAZ und die Tarifeinheit

Dietrich Creutzburg: Wettbewerb – ja bitte! Aber ohne Vorrang für das Kollektiv

Norbert Berthold: Lohn- und Tarifpolitik auf dem Boden des Grundgesetzes. Spartengewerkschaften sind legitim

 

5 Antworten auf „Lokführer, Flächentarife und Verteilungskämpfe“

  1. Einige Nachfragen:
    „Die Zeit der relativ homogenen wirtschaftlichen Entwicklung ist vorbei: Branchen, Unternehmen und Arbeitnehmer werden heterogener. Stark unterschiedliche Entwicklungen von Branchen machen die Pilotfunktion von Flächentarifen obsolet.“

    Und das ist wirklich neu? War es nicht schon früher so, dass es in Deutschland stark aufstrebende Branchen gab und auf der anderen Seite z.B. die Schuh- und Textilindustrie? Nur war dies früher kein Problem, weil die Arbeitnehmer der in Deutschland absterbenden Branchen in die Unternehmen der aufsterbenden Branchen wechseln konnten. Das hat sich geändert, aber nicht dass es unterschiedliche Entwicklungen von Branchen gibt.

    „Arbeit gibt es im Überfluss, Kapital bleibt knapp.“

    Die Aussage ist im Zeitalber von HedgeFonds und Überliquidität auf den Finanzmärkten fast schon kurios. Arbeit gibt es im Überfluss, aber Kapital auch.

    Geht man aber korrekterweise davon aus, dass Kapital heute im Überfluss vorhanden ist, muss man sich fragen, warum Arbeit schlecht und Kapital gut bezahlt wird. Einen ökonomischen Grund gibt es hierfür nicht. Es ist eine reine Machtfrage.

    Zur „Spaltung“ der Gewerkschaften: Für Deutschland eine neue Erfahrung. In Frankreich z.B. ist dies aber ganz normal. Insofern ist dies keine neue Entwicklung im weltweiten Kapitalismus sondern nur innerhalb von Deutschland. Manchmal hilft es, wenn man ein wenig über den eigenen Tellerrand hinausschaut.

  2. Natürlich gab es schon immer wirtschaftlichen Wandel. Natürlich haben neue Erfindungen Branchen wegbrachen lassen, dafür sind neue entstanden. Die Geschwindgkeit der Entwicklung ist jedoch der entscheidende Punkt. Konnte man mit Handys vor fünf Jahren höchstens noch Nägel in die Wand schlagen, kann man mit der neuesten Generation seine Urlaubsbilder machen und seine Emails checken. Vielleicht sind die Anzahl der großen „Brüche“ nicht so stark gestiegen, aber selbst dann muss man bedenken, dass die ständige Weiterentwicklung an bestehenden Produkten ein enormes Tempo aufgenommen hat.

    Kapital ist sicherlich nicht im Überfluss vorhanden. Damit bricht Ihre gesamte weitere Argumentation weg. Sehr schön gefällt mir auch das Wort „Überliquidität“. Also Überflüssig. Ich verstehe ja nicht so ganz was das heißt, aber vielleicht können Sie mir das ja mal erklären.

  3. @ Karl,

    naja, die Hypothekenkrise in den USA – aber auch England und Spanien -. die angehäuften Währungsreserven Chinas und deren Auswirkungen auf die Finanzmärkte, aber mittlerweile auch auf die reale Wirtschaft, sollte eigentlich allgemein bekannt sein.

    Dennoch eine Zahl:
    ausstehende Derivat-Verträge im Jahr 2000: 95 Billionen Dollar
    ausstehende Derivat-Verträge im Jahr 2006: 415 Billionen Dollar
    Zum Vergleich BIP der USA: 13 Billionen Dollar im Jahr 2006

    Mit anderen Worten: die ausstehenden Derivat-Verträge überstiegen das BIP der USA um das 30-fache.

    Dieses Kapital muss irgendwo angelegt werden. Hier wird also die weltweite Überliquidität deutlich.

    Mich wundert schon, dass man so etwas hier noch diskutieren muss. Sollte wirklich bekannt sein.

  4. Gegen das ökonomische Gesetz hat (verbands-)politische Macht keine Chance (Eugen v. Böhm-Bawerk). Das scheint nun auch das Bundesarbeitsgericht so zu sehen. Der Grundsatz der Tarifeinheit in den Unternehmen soll fallen. Damit ist der Weg für mehr institutionellen Wettbewerb der tarifpolitischen Interessengruppen frei.

  5. Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Das Bundesarbeitsgericht nimmt endlich die betriebliche Realität zur Kenntnis. Mit dem Urteil in dieser Woche zur Tarifeinheit in Unternehmen akzeptiert es die wachsende Heterogenität der Arbeitnehmer in Unternehmen. Die Koalitionsfreiheit auch kleinerer Gruppen von Arbeitnehmern wird akzeptiert. Das wird den institutionellen Wettbewerb der Interessen in den Unternehmen intensivieren.

    Den Tarifpartnern gefällt dies nicht. Wettbewerb ist ihnen ein Gräuel, wenn er eigene verbandspolitische Pfründe schleift. Kein Wunder, dass das Tarifkartell zurückschlägt. Aus eigener Kraft gelingt es den Kartellbrüdern allerdings nicht, das Rad zurückzudrehen. Sie brauchen schon die Hilfe der Politik. Per Verfassungsänderung soll die Tarifeinheit in Unternehmen wieder hergestellt werden. Da ist es wieder, das hässliche Gesicht des Korporatismus.

    Die Politik scheint entschlossen, den institutionellen Wettbewerb in die Schranken zu weisen. Das zeigt nur, Kartelle halten sich länger, wenn sie vom Staat gestützt werden. Trotzdem werden die Kartellbrüder den Kampf gegen den Wettbewerb verlieren. (Verbands-)Politische Macht hat gegen das ökonomische Gesetz letztlich keine Chance. Die Heterogenität der Arbeitnehmer wird weiter zunehmen, die Solidarität unter den Arbeitnehmern erodieren, die Tarifeinheit hat die Zukunft hinter sich.

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