„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ (Friedrich Hölderlin)
Über eines werden sich die Koalitionsparteien aller möglichen Couleur sicher schnell einig: Ein Gesetz zur Tarifeinheit in den Betrieben muss endlich her. Damit soll das Schreckgespenst der wuchernden Tarifpluralität verscheucht werden. Das alte Tarifkartell aus Industriegewerkschaften und Arbeitgeberverbänden macht schon seit langem Druck. Spätestens seit der Jahrtausendwende stören mehrere Spartengewerkschaften die Kreise der traditionellen Tarifpartner empfindlich. Ärzte, Fluglotsen, Piloten und Lokführer verhandeln auf eigene Rechnung. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts im Jahre 2010 war Wasser auf die Mühlen der berufsständischen Störenfriede. Die positive Koalitionsfreiheit gilt nicht nur für Industriegewerkschaften, auch Spartengewerkschaften dürfen sie in Anspruch nehmen. Seither schüren die tarifpolitischen Platzhirsche die Angst vor „englischen“ Verhältnissen in Deutschland.
Immer mehr Spartengewerkschaften?
Um die Jahrtausendwende gerieten die Einheitsgewerkschaften in die Defensive. Sie mussten hilflos mit ansehen, wie ihnen Ärzte, Fluglotsen, Piloten und Lokführer das lohn- und tarifpolitische Mandat entzogen. Der Marburger Bund, die Gewerkschaft der Flugsicherung, die Vereinigung Cockpit und die Gewerkschaft der Lokführer kümmerten sich nun selbst um ihre lohn- und tarifpolitischen Belange. Ver.di, die dominierende Gewerkschaft im Bereich von Verkehr und Gesundheit, wurde entmachtet. Sie spielt seither im Verkehrssektor keine lohn- und tarifpolitische Rolle mehr. Die lohn- und tarifpolitischen Umbrüche waren chaotisch und außerordentlich heftig. Tarifauseinandersetzungen waren in dieser Phase des Umbruchs nicht nur Tarif-, sie waren auch Statuskonflikte. Mit exorbitant hohen Lohnforderungen und wochenlangen Streiks erkämpften sich die Spartengewerkschaften die ersehnte Unabhängigkeit von den Einheitsgewerkschaften.
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Angst machte sich nicht nur unter den Einheitsgewerkschaften breit. Auch die Arbeitgeberverbände gerieten in Panik. Sie fürchteten, dass eine Handvoll Arbeitnehmer in Schlüsselpositionen ganze Betriebe lahmlegen könnten. Ständig neue Streiks würden ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel setzen. Das Bundesarbeitsgericht verstärkte diese Angst. Es billigte Spartengewerkschaften das grundgesetzliche Recht auf die positive Koalitionsfreiheit zu. In einem gemeinsamen Aufruf forderten DGB und BDA die Politik auf, eine gesetzliche Regelung zu finden, um die betriebliche Tarifeinheit wieder herzustellen. Tatsächlich ebbte aber die Gründungswelle tariffähiger Spartengewerkschaften ab Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends wieder ab. Daran hat auch das Urteil des BAG nichts geändert. Die Tarifkonflikte mit Spartengewerkschaften haben sich beruhigt: Lohnforderungen fallen moderater aus, Streiks sind seltener und nicht mehr so intensiv.
Veränderte Struktur der Arbeitsnachfrage
Das Phänomen einflussreicher berufsständischer Gewerkschaften ist für die Bundesrepublik relativ neu. Solange ein relativ homogener Industriesektor dominierte, hatten Einheitsgewerkschaften lohn- und tarifpolitisch das Sagen. Der Flächentarifvertrag war das herrschende lohn- und tarifpolitische Arrangement. Er war vor allem in Großunternehmen der prägenden westdeutschen Metall- und Elektroindustrie zuhause. Mit der Globalisierung nahm die inter- und intra-sektorale wirtschaftliche Heterogenität sprunghaft zu. Dazu kam ein technischer Fortschritt („skill biased“), der vor allem besser qualifizierte Arbeitnehmer begünstigte. Er veränderte die Struktur der Arbeitsnachfrage weiter. Die Homogenität ging, Heterogenität zog ein. Das erste Opfer dieser Entwicklungen waren die Flächentarifverträge. Betriebliche Bündnisse für Arbeit schossen wie Pilze aus dem Boden, legal und oft auch illegal.
Das zweite Opfer wurde die Tarifeinheit in einigen Betrieben. Die heterogenere Arbeitsnachfrage begünstigte qualifizierte Arbeitnehmer, die damals wie heute oft in „Schlüsselpositionen“ sitzen. Diese Arbeitnehmer wollen ein größeres Stück des Kuchens. Sie kündigen die lohnpolitische Solidarität in den Betrieben. Auf mögliche höhere Löhne wollen sie immer weniger zugunsten von geringer Qualifizierten verzichten. Sie drängten auf ein Ende der lohnpolitischen Quersubventionierung. Ihre Anreize sind groß, berufsständische Gewerkschaften zu gründen. Allerdings ist der interne Verteilungskampf nur bei komplementären Berufsgruppen besonders heftig. Ärzte, Fluglotsen, Piloten und Lokführer zählen dazu. Demgegenüber ist der interne Kampf zwischen Arbeitnehmern um die Anteile am Kuchen bei substitutiven Berufsgruppen wesentlich weniger ausgeprägt. Die wichtige Metall- und Elektroindustrie leidet nicht unter Tarifpluralität.
Gewerkschaften im Wandel
Die Einheitsgewerkschaften stehen vor großen Problemen. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad erodiert. Diese Entwicklung trifft alle reichen Länder. Nicht nur der Trend zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft setzt den Gewerkschaften organisatorisch zu. Auch die Globalisierung ist ihnen nicht wohlgesonnen. Weltweit offenere Märkte verstärken den institutionellen Wettbewerb. Damit kommen tarifpolitische Arrangements, wie etwa die Flächentarife, auf den Prüfstand. Diese Entwicklung trifft auch ihren tarifpolitischen Zwilling, die Arbeitgeberverbände. Auch sie leiden seit längerem unter einem rückläufigen Organisationsgrad. Beide Tarifpartner suchen Hilfe bei der Politik. Gesetzliche Mindestlöhne, Entsendegesetze und Allgemeinverbindlicherklärungen sollen organisationspolitische Schwächen der Tarifpartner kaschieren und lohn- und tarifpolitisch weiße Flecken tilgen.
Der rasch verfallende Organisationsgrad zwingt die Gewerkschaften, sich nachhaltig zu konsolidieren, wenn sie überleben wollen. Viele kleinere Gewerkschaften waren Anfang des Jahrtausends gezwungen, sich zu Großgewerkschaften zusammen zu schließen. Diese Entwicklung war vor allem im Dienstleistungssektor zu beobachten. DAG, DPG, HBV, IG-Medien und die ÖTV gingen in Ver.di auf. Gleichzeitig brachte sie aber die größere Heterogenität der Präferenzen gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer in ein schwer lösbares Dilemma. Großgewerkschaften können die Interessen einzelner Berufe mit einer „solidarischen“ Lohnpolitik nicht mehr adäquat vertreten. Die produktiveren Arbeitnehmer, die sich nicht mehr vertreten fühlen, haben starke Anreize und die Macht sich eigenständig zu organisieren. Vor allem Arbeitnehmer in Schlüsselpositionen spalten sich tarifpolitisch ab und organisieren sich berufsständisch.
Wettbewerb auf Absatzmärkten
Allerdings gedeihen Spartengewerkschaften nicht überall. Einige Branchen scheinen besonders geeignet, andere viel weniger. Sie entstehen vor allem da, wo der Wettbewerb auf den Absatzmärkten wenig intensiv ist. Das ist im Verkehrssektor, in der Gesundheitsbranche und auf dem Feld der Daseinsvorsorge der Fall. Diese Branchen haben sich auf Dienstleistungen spezialisiert und waren lange von staatlichen Unternehmen dominiert. Überall dort, wo der Wettbewerb sehr intensiv ist, wie etwa im industriellen Sektor, spielen Spartengewerkschaften keine Rolle. Ein intensiver Wettbewerb auf den Absatzmärkten zwingt alle Arbeitnehmer, auch die in Schlüsselpositionen, eines Unternehmens in eine Kampfgemeinschaft gegen die mächtige Konkurrenz auf den Absatzmärkten. Verteilungskämpfe zwischen den unterschiedlichen Gruppen von Arbeitnehmern treten in den Hintergrund, betriebliche Bündnisse für Arbeit dominieren.
In Zeiten der Globalisierung sind „englische“ Verhältnisse nicht sehr wahrscheinlich. Weltweit offenere Märkte stärken den Wettbewerb auf den Absatzmärkten. Das gilt aber vor allem für international handelbare Güter, weniger für national und regional gehandelte Produkte. Es ist kein Zufall, dass die Tarifeinheit vor allem im Dienstleistungssektor attackiert wird. Dort ist der Anteil der international handelbaren Produkte geringer als im industriellen Sektor. Die künftig größere Handelbarkeit von Dienstleistungen auf den Weltmärkten wird allerdings die Anreize qualifizierter Arbeitnehmer im Dienstleistungssektor verringern, sich in Spartengewerkschaften zu organisieren. Wo dies weniger der Fall ist, wie etwa in der Gesundheitsbranche, sind Reformen notwendig, die helfen, die Nachfrage nach diesen Produkten preiselastischer zu machen. Mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen wirft eine doppelte Dividende ab. Die Ressourcen werden effizienter eingesetzt, die Gefahr „englischer“ Verhältnisse sinkt.
Mehr (institutioneller) Wettbewerb
Ein Gesetz zur Tarifeinheit ist indiskutabel. Es verstößt gegen die Verfassung, weil es die positive Koalitionsfreiheit aushebelt. Der sinnvollere Weg ist, die Realität zu akzeptieren und Tarifpluralität zuzulassen. Die Gefahr „englischer“ Verhältnisse lässt sich vermindern. Das beste Mittel dagegen ist mehr Wettbewerb. Eine Öffnung der Märkte für Dienstleistungen ist ein wichtiger Schritt. Die Nachfrage auf den Absatzmärkten wird preiselastischer, der interne Verteilungskampf zwischen Arbeitnehmern in „Schlüsselpositionen“ und den Anderen wird schwächer, die Gefahr gewerkschaftlicher Abspaltungen wird kleiner. Diese Entwicklung kann durch eine Reform des Gesundheitswesens verstärkt werden. Mehr Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern im Gesundheitswesen und risikoäquivalente Beiträge in der Krankenversicherung sind erfolgversprechende Elemente, die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen preiselastischer zu machen.
Ein weiteres Mittel gegen mögliche Folgen berufsständischer Abspaltungen ist eine Lohn- und Tarifpolitik, die weniger zwischen den Gruppen von Arbeitnehmern umverteilt. Arbeitnehmer in Schlüsselpositionen würden ein größeres Stück am Kuchen, andere Arbeitnehmer ein kleineres erhalten. Die Industriegewerkschaften können Abspaltungen verringern, wenn sie sich zu „Multiberufsgewerkschaften“ entwickeln und eine stärker produktivitätsorientierte Lohn- und Tarifpolitik betreiben. Das wäre allerdings das Ende der „solidarischen“ Lohnpolitik in den Betrieben. Die Angst der Unternehmer vor hohen Kosten ständiger Arbeitskämpfe lässt sich durch eine Reform des Arbeitskampfrechts verringern. Das Ultima-Ratio-Prinzip sollte wieder gelten. Höhere Hürden für Streiks, eine Kodifizierung des Arbeitskampfrechts und zwingende Schlichtungs- und Schiedsverfahren könnten zügellosen Streiks die Spitze nehmen.
Fazit
Die Globalisierung macht die Welt wirtschaftlich heterogener. Dezentrale institutionelle Arrangements sind die adäquate Antwort. Das gilt auch für das tarifpolitische. Betriebliche Bündnisse erodieren Flächentarife, Tarifpluralität setzt der Tarifeinheit zu. Das Tarifsystem ist nicht gefährdet, weil Spartengewerkschaften auf das Grundrecht auf positive Koalitionsfreiheit pochen. Das schmeckt den „alten“ Tarifpartnern zwar nicht. Kein Wunder, dass sie das Schreckgespenst „englischer“ Verhältnisse in grellen Farben an die Wand malen. Tatsächlich fürchten sie um ihre organisationspolitische Macht. Gemeinsam versuchen sie, diese Entwicklung aufzuhalten. Hilfe suchen die Funktionäre bei der Politik. Ein Gesetz zur Tarifeinheit mutet allerdings eher an wie ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Es ist ein untauglicher Versuch, das überkommene Tarifkartell zu stabilisieren. (Verbands-)politische Macht hat gegen das ökonomische Gesetz keine Chance. Das wusste auch schon Eugen von Böhm-Bawerk.
Literatur:
Berthold, Norbert (2007): Lokführer, Flächentarife und Verteilungskämpfe, in: Wirtschaftliche Freiheit vom 11. Oktober 2007 (hier)
RWI (2011): Empirische Analyse der Auswirkungen der Tarifpluralität auf das deutsche Tarifvertragssystem und auf die Häufigkeit von Arbeitskämpfen. (hier)
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Hinweis: Der Beitrag ist die schriftliche Fassung eines Vortrages auf dem „1. Würzburger Ordnungstag“ am 10. Oktober 2013 in Frankfurt. Das Symposium stand unter dem Motto „Wettbewerb“ (Arbeitsmärkte, Standorte, Steuern, Währungen). In loser Folge werden weitere Vorträge dieses wirtschaftspolitischen Symposiums hier erscheinen.
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Olaf Henkel, der führere BDI-Präsident reißt alte Gräben auf. In der Stuttgarter Zeitung vom 30. Oktober 2013 rechnet er mit dem Kartellbruder Dieter Hundt ab, der die BDA noch bis 18. November 2013 führen wird. Er wirft ihm Geschichtsklitterung vor. Viel zu lange habe die BDA an starren Flächentarifen festgehalten. Die BDA habe die Einführung von flächendeckenden gesetzlichen Mindestlöhnen durch die sukzessive Einführung von Mindestlöhnen auf Branchenebene erst vorbreitet. Damit entstehe schwerer Schaden für die Tarifautonomie.
„Bei allem Respekt für die lange Ausübung seiner Ehrenämter sollte man es nicht zulassen, dass Hundt seine eigene Laudatio verfasst und mit unhaltbaren Kritiken an Dritten die von ihm hinterlassenen, unerwünschten Spuren verwischt.“
„Dabei fällt unter den Tisch, dass sich die wirtschaftliche Lage und die Ertragskraft der Unternehmen je nach Branche unterscheidet, was sich – sinnvollerweise – auch in Tarifergebnissen spiegelt. Und vor allem wird fälschlicherweise wie selbstverständlich unterstellt, dass die Tarifwelt in den Kernbereichen der Industrie in Ordnung sei.
Das aber ist nicht mehr ohne weiteres der Fall, wie die jüngsten Lohnrunden für die Metall- und Elektroindustrie und die Chemieindustrie gerade gezeigt haben. Auch hier deuten sich neuerdings erstaunliche Verwerfungen an. Kurzgefasst: Die Arbeitgeberverbände haben wachsende Schwierigkeiten, ihren Mitgliedsunternehmen die Ergebnisse ihrer Tarifpolitik zu vermitteln.“
Dietrich Creutzburg, Geschwächte Tarifautonomie, in: FAZ v. 15. April 2015