„The curious task of economics is to demonstrate to men how little they really know about what they imagine they can design.“ (F.A. v. Hayek)
Das ökonomische Herz der EU ist der Binnenmarkt. Europaweit offene Güter- und Faktormärkte sollen es kräftigen und in Takt halten. Die ökonomische Integration ist das Vehikel, die politische Integration voranzutreiben. Das ist die Idee der europäischen Integration. Im letzten Jahrzehnt ist dies nicht mehr gelungen. Nicht nur der Euro hat das ökonomische Herz aus dem Rhythmus gebracht. Seit der massenhaften Zuwanderung ist Europa nahe am Infarkt. In der akuten Not anschwellender Flüchtlingsströme therapiert man in der EU auch unkonventionell. Ohne viel Federlesens haben einige Mitglieder ihre gemeinsamen Grenzen geschlossen. Das ist mit der Personenfreizügigkeit nur schwer zu vereinbaren. Eine der vier Grundfreiheiten wurde außer Kraft gesetzt, zumindest temporär. Der Integrationsmotor „Binnenmarkt“ frisst sich fest.
Offene Märkte in Europa
Winston Churchill, der legendäre britische Premier, hatte Recht: „Wenn ich zwei Ökonomen nach ihrer Meinung frage, erhalte ich drei verschiedene Antworten. Zwei davon sind von Herrn Keynes.“ Daran hat sich bis heute nichts geändert. Es gibt aber eine Ausnahme. Wenn es um reale internationale ökonomische Fragen geht, ist sich die Zunft der Ökonomen relativ einig. Von offenen Güter- und Faktormärkten profitieren alle beteiligten Länder. Ungetrübt ist die Freude an freiem Handel, mobiler Arbeit und mobilem Kapital dennoch nicht. Offene Märkte beschleunigen den strukturellen Wandel. Dabei gibt es nicht nur Gewinner. Einige verlieren auch. Trotz des Widerstandes der (potentiellen) Verlierer hat sich Europa völlig zurecht entschlossen, mit dem „Binnenmarktprojekt 92“ die Schranken auf Güter- und Faktormärkten so gut es geht flächendeckend einzureißen.
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Die hoch gesteckten Erwartungen offener Güter- und Faktormärkte haben sich nur teilweise erfüllt. Noch sind die Wohlfahrtsgewinne des „Binnenmarktes 92“ eher bescheiden. Ein Indikator ist die Entwicklung der Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes der Länder der EU relativ zu den USA. Die Installation des Binnenmarktes hat Europa den USA demnach nicht näher gebracht (hier). Weltweit ist der Abbau von Schranken zwar eindeutig positiv. Allerdings resultieren die größten Gewinne nicht aus offeneren Güter- und Kapitalmärkten. Wirklich große Sprünge in der Entwicklung des materiellen Wohlstandes kommen zustande, wenn es gelingt, die Barrieren abzubauen, die verhindern, dass Arbeit über Ländergrenzen hinweg wandern kann. Die auf diesem Weg erzielbaren Gewinne betragen ein Vielfaches der Gewinne offener Güter- und Kapitalmärkte.
Das große Ganze
Die ökonomische Theorie ist eindeutig. Eine Öffnung der Arbeitsmärkte trägt dazu bei, dass sich alle beteiligten Länder besser stellen. Unterschiede in der realen Entlohnung zwischen den Ländern werden eingeebnet. Treiber ist die Wanderung von Arbeitskräften über Ländergrenzen hinweg. Sie folgen den höheren Löhnen. Die Wanderungen finden ein Ende, wenn sich die realen Löhne in den Ländern einander angeglichen haben. Dieses Ergebnis stellt sich allerdings nur ein, wenn die Qualität der Arbeit in den Ländern ähnlich hoch ist. Auch Kosten der internationalen Wanderung dürfen keine große Rolle spielen. Werden „Arbeitsverkehrskontrollen“ (AVK) abgebaut, kann dieser Prozess der Arbitrage zwischen den Ländern in Gang kommen. Mit dem „Binnenmarktprojekt 92“ hat man in Europa auf Freizügigkeit gesetzt und diesen Prozess initiiert.
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Die Zusammenhänge lassen sich für zwei Länder darstellen. In der Ausgangssituation sollen „Arbeitsverkehrskontrollen“ (AVK) existieren. In Land A wird zum Reallohn [latex] (l/p)^A_0[/latex] die Menge [latex]A^A_0 [/latex], in Land B die Menge [latex]A^B_0[/latex] zum Lohn [latex] (l/p)^B_0[/latex] beschäftigt. Fallen die Zugangsbarrieren weg, wandert Arbeit aus dem Niedriglohnland B in das Hochlohnland A. Dieser Prozess hält an, bis keine Lohnunterschiede mehr existieren (Pkt. B). Diese Entwicklung ist für Land A von Vorteil. Das Sozialprodukt (Fläche ABDE) erhöht sich, allerdings fließen Rücküberweisungen in das Land B (Fläche CBDE). Der Nettoeffekt (Fläche ABC) ist jedoch positiv. Auch Land B stellt sich besser. Das Sozialprodukt sinkt zwar (Fläche A’BDE). Allerdings gleichen die empfangenen Rücküberweisungen (Fläche BDEC) diesen Verlust mehr als aus. Der Nettoeffekt (Fläche A’CB) ist ebenfalls positiv.
Distributiver „Kleinkram“
Diese vereinfachenden Überlegungen zeigen: Offene Arbeitsmärkte stellen alle beteiligten Länder besser. Die EU hat somit alles richtig gemacht, als sie im Zuge des „Binnenmarktprojektes 92“ die Arbeitsmärkte öffnete. Innerhalb der Länder ist die Lage allerdings wesentlich komplexer. Es gibt nicht nur Gewinner. Einige verlieren auch. Ob Arbeit und Kapital gewinnen oder verlieren, hängt davon ab, wie sich die relative „Reichlichkeit“ der beiden Faktoren verändert. Da Arbeit aus dem Land B in das Land A wandert, ändern sich die Knappheitsverhältnisse in Land A. Kapital wird relativ knapper, Arbeit relativ reichlicher. Kein Wunder, dass Kapital gewinnt (Fläche [latex] (l/p)^A_0 AB (l/p)^A_1[/latex]) und (inländische) Arbeit verliert (Fläche [latex] (l/p)^A_0 AC (l/p)^A_1[/latex]). Eine Integration der ausländischen Arbeit in den inländischen Arbeitsmarkt gelingt nur, wenn die Löhne sinken.
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Die Lage im Land B ist umgekehrt. Dort gewinnt der Faktor Arbeit aus zwei Gründen: Einerseits wird Arbeit knapper. Die weiter in Land B beschäftigten Arbeitnehmer ([latex] A^B_1[/latex]) werden besser entlohnt. Sie gewinnen (Fläche [latex] B(l/p)^B_1 (l/p)^B_0 F[/latex]). Andererseits werden die nun in Land A beschäftigten Arbeiter höher entlohnt. Sie gewinnen ebenfalls (Fläche CBFA“˜). Kapital in Land B verliert (Fläche [latex] A’B(l/p)^B_1 (l/p)^B_0[/latex]). Es fehlt dem Kapital an (komplementärer) Arbeit. Wandern insbesondere die besser qualifizierten Arbeitnehmer aus Land B ab, kann es auch zu einem „brain drain“ kommen. Die Kapitalproduktivität sinkt. Damit ist die polit-ökonomische Lage klar: In Land A sind die Kapitaleigentümer für die Öffnung der Arbeitsmärkte, die inländischen Arbeitnehmer sind dagegen. Das ist in Land B genau umgekehrt. Dort sträubt sich der Faktor Kapital gegen eine Öffnung der Arbeitsmärkte, während Arbeit dafür plädiert.
Migrationspolitische Modifikationen
In der jüngsten Zeit haben weniger ökonomische, sondern vielmehr humanitäre Gründe die massenhafte Wanderung nach Europa getrieben. Die Bürgerkriege in Syrien, dem Irak und in Afghanistan trugen dazu bei, dass Menschen aus Angst um ihr Leben ihren Heimatländern den Rücken kehrten. Mit der Zuwanderung steigt das Angebot an Arbeit im Inland. Da kaum qualifizierte, sondern primär wenig qualifizierte Flüchtlinge ins Land kommen, nimmt vor allem der Druck auf die Löhne einfacher Arbeit weiter zu. Das erhöht den Widerstand inländischer Geringqualifizierter gegen Flüchtlinge. Ein gesetzlicher Mindestlohn kann zwar den Druck auf die Löhne verringern. Der Angebotsüberhang auf den Arbeitsmärkten für einfache Arbeit bleibt aber bestehen. Er schlägt sich in stark steigender Arbeitslosigkeit wenig qualifizierter Arbeitnehmer nieder.
Die Realität ist allerdings nicht ganz so einfach. Mehr unqualifizierte Flüchtlinge machen gering qualifizierte „Eingeborene“ eher nicht arbeitslos. Das ist zumindest die Erfahrung in skandinavischen Ländern nach dem Flüchtlingsstrom der Balkankrise. Dafür gibt es drei Erklärungen: 1) Flüchtlinge übernehmen Arbeiten, die Einheimische nicht machen wollen. 2) Einheimische Geringqualifizierte investieren verstärkt in Humankapital. In beiden Fällen sind Flüchtlinge eher komplementär zu Einheimischen. 3) Die neue Generation von Flüchtlingen verdrängt die alte Generation von Flüchtlingen. In diesem Fall sind Flüchtlinge zwar Substitute zu Einheimischen. Leidtragende sind allerdings nicht die „Eingeborenen“. Kein Wunder, dass die erste Generation von Einwanderern daran interessiert ist, die Zuwanderung zu beschränken („Migrations-Paradoxon“).
Die These, dass sich alle beteiligten Länder besser stellen, gilt weiter. Sie trifft allerdings nur zu, wenn Flüchtlinge in Arbeit wandern. Dennoch gibt es auch Verlierer in den Ländern: Einheimische Geringqualifizierte. Deren Löhne sinken. Das ist eine notwendige Voraussetzung, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden (hier). Die Verlierer sind aber meist nicht die „eingeborenen“ Arbeitnehmer mit geringen Qualifikationen. Vor allem früher Zugewanderte zahlen den Preis. Die Situation ändert sich allerdings, wenn die Flüchtlinge in den Sozialstaat wandern. Das ist immer dann der Fall, wenn die reale Entlohnung der Zuwanderer über deren Arbeitsproduktivität liegt. Gesetzliche und soziale Mindestlöhne und unzureichendes Humankapital sind die Treiber (hier). Arbeitslosigkeit ist die Folge. Der Wohlstand im Zuwanderungsland sinkt. Migranten werden zur Belastung.
Fazit
Wirtschaftlicher Wohlstand lebt von offenen Märkten für Güter und Faktoren. Heimische Insider wehren sich allerdings, sie zu öffnen. Besonders ausgeprägt ist der Widerstand gegen offene Arbeitsmärkte. Arbeitsplatzbesitzer tun alles, Zuwanderung so zu gestalten, dass ihre Renten nicht erodieren. Das gilt für Qualifizierte und Unqualifizierte. Die besseren Karten haben Qualifizierte. Unqualifizierte befürchten, nicht ganz zu Unrecht, dass sie bei den Flüchtlingsströmen unter die Räder kommen. Eine Integration der Flüchtlinge in die Arbeitsmärkte gelingt nur, wenn die Löhne sinken. Das ist die bittere Wahrheit für einheimische Geringqualifizierte. Verstärkte Investitionen in Humankapital helfen, sich davon abzukoppeln. Aber auch der Sozialstaat muss helfen. Aufstockende anreizverträgliche finanzielle Transfers (EITC) sind ein Instrument erster Wahl.
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