Die Zweifel an der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) wachsen. Nachdem im März 2022 die offiziell gemessene Inflationsrate auf 7,5% weit über das Inflationsziel von 2% hinausgeschossen ist, kündigte die EZB (2022) keine entschlossene geldpolitische Straffung an. EZB-Präsidentin Christine Lagarde verlor sich vielmehr in Aussagen zu Krieg und Pandemie, und ließ sich alle Optionen für die Zukunft offen. Die nebulösen Aussagen folgen auf Beteuerungen, dass die Inflation nur vorübergehend sei. Immer noch gehen die Inflationsprognosen der EZB davon aus, dass die Inflation im Jahr 2023 zurück zum 2%-Ziel kommen wird.
Die Wirtschaftswoche spricht von „Kleinreden“. In der Tat klafft eine große Lücke zwischen der Kommunikation der Inflationsgefahren durch die EZB und der Inflationswahrnehmung der Öffentlichkeit im Euroraum. Schon zu seiner Geburt sahen viele Deutsche den Euro als Teuro. Es bestand die Angst, dass sich die Geldpolitik der EZB der Geldpolitik der Banca D’Italia annähern würde, die aus der italienischen Lira eine Weichwährung gemacht hatte. Dieser Besorgnis wurde eine niedrige offiziell gemessene Inflation im Euroraum entgegengesetzt, die auf der Grundlage des Harmonisierten Konsumentenpreisindex (HVPI) von Eurostat der EZB lange Zeit ein hohes Maß an Zielerreichung bescheinigte.
Doch die Bürgerinnen und Bürger im Euroraum scheinen den offiziellen Messungen zu misstrauen. Die Europäische Kommission, die seit dem Jahr 2004 die gefühlte Inflation im Euroraum misst, stellt immer wieder fest, dass diese deutlich über der offiziell gemessen Inflation liegt; seit 2004 im Durchschnitt um immerhin 6,2 Prozentpunkte. Im vierten Quartal 2021 lag die gefühlte Inflation mit 8,0% 3,3 Prozentpunkte über der offiziell gemessenen.
Die deutsche Vertreterin in EZB-Direktorium Isabel Schnabel hat dies mit einer verfälschten subjektiven Wahrnehmung erklärt. Da die Preise von oft gekauften Gütern – z.B. Lebensmitteln und Benzin – stärker stiegen als die Preise von Gütern, die weniger oft gekauft werden – wie beispielsweise Elektrogeräte –, würden Preissteigerungen subjektiv stärker wahrgenommen als sie wirklich sind. Doch reicht das als Erklärung aus, oder bildet die Inflationsmessung den Kaufkraftverlust der Bürgerinnen und Bürger einfach nicht ausreichend ab?
So rechnen die statistischen Behörden beispielsweise bei neuen Mobiltelefonen und Elektrogeräten bei Qualitätsverbesserungen die in den Läden gemessenen Preise in der Preisstatistik nach unten. Da ist unabhängig davon, ob die Konsumenten die neuen Funktionen brauchen oder nicht (Schnabl und Sepp 2021). Gleichzeitig findet bei anderen Produktkategorien, wo Qualitätsverluste vermutet werden können, keine Qualitätsanpassung in Form hochgerechneter Preise statt. So zum Beispiel bei Dienstleistungen, wo die Selbstbedienung zugenommen hat. Zudem werden die seit langem stark steigenden Preise für selbstgenutzte Immobilien im HVPI – nicht zuletzt auf Anraten der EZB – einfach ausgeklammert (Herborn und Schnabl 2022).
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Und könnte die Irritation bei der Inflationswahrnehmung auch daran liegen, dass die EZB die Zielsetzung ihrer Geldpolitik schleichend verändert hat? Als die EZB 1999 ihre Arbeit aufnahm, galt eine Inflationsobergrenze von 2%, die mit Blick auf das in den europäischen Verträgen verankerte Mandat der Preisstabilität abgeleitet wurde. Im Jahr 2003 wurde aus dem Maximalziel ein Punktziel von „unter, aber nahe 2%“. Die EZB hatte es sich fortan also zum Ziel gesetzt, die Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger jedes Jahr um 2% abzusenken. Jüngst wurde das Ziel auf „2% in der mittleren Frist“ gesetzt, was für längere Zeit Inflationsraten von sehr deutlich über 2% und damit schmerzhafte Kaufkraftverluste möglich zu machen scheint.
Es wird damit immer klarer, dass sich die EZB dem Zentralbankmodell der ehemaligen Banca d’Italia angenähert hat, die bei der Finanzierung der Staatsausgaben dem Finanzministerium unter die Arme griff. Mit dem Punktziel von 2% konnte der EZB lange Zeit dank niedrig gemessener Inflation umfangreiche Ankäufe von Staatsanleihen rechtfertigen. Hätte das ursprüngliche Maximalziel fortbestanden, wäre diese Rechtfertigung hinfällig gewesen. Seit der Corona-Krise wird der Ankauf von Staatsanleihen mit der besonderen Krisensituation legitimiert. Doch der Grund könnte auch ein anderer sein: Die stark gestiegene Staatsverschuldung – vor allem in den südlichen Euroländern und Frankreich – wäre wohl nicht mehr tragbar, wenn die EZB die Zinsen erhöhen würde.
Die aktuellen EZB-Inflationsprognosen der EZB liegen bei 2,1% für das Jahr 2023 und 1,9% für 2024, also weit von den Inflationswahrnehmung in der breiten Öffentlichkeit entfernt. Der frühere EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing kritisiert, dass die Inflationsprognosen der EZB zwar auf komplexen Modellen basierten, aber am Ende des Prognosezeitraum immer zurück zum Inflationsziel von 2% tendierten. Aus dieser Sicht machen die Inflationsprognosen der EZB jede Ausgestaltung der Geldpolitik möglich, einschließlich einer zügellosen monetären Staatsfinanzierung für hoch verschuldete Euroländer, die zunehmend als alternativlos erscheint.
Christine Lagarde macht bei der Kommunikation der EZB einen Spagat. Mit den niedrigen Inflationsprognosen entspricht sie die Erwartungen der Bürger im nördlichen Euroraum, dass die Inflation wieder sinken wird. Mit dem immer weiter verzögerten Ausstieg aus der Niedrigzinspolitik greift sie den klammen südlichen Euro-Staaten unter die Arme. Die Hinwendung von Largarde hin zu einer grünen Geldpolitik kann auch dahingehend interpretiert werden, dass die EZB die Bürgerinnen und Bürger mit einer besseren Umwelt über die Kaufkraftverluste hinwegtrösten will.
Doch mit dem nun doch sehr drastischen Anstieg der Inflation erscheint die zunehmend widersprüchliche Kommunikation der EZB als Trümmerhaufen. Das ursprüngliche Versprechen, dass die Inflation – entsprechend dem Mandat – niedrig bleiben wird, ist gebrochen. Selbst Marcel Fratzscher, langjähriger und entschlossener Verteidiger der EZB, spricht inzwischen von dauerhaft hoher Inflation – auch wenn er einen Bezug zur EZB vermeidet. Die schnell wachsenden Inflationsraten gefährden inzwischen sogar die grüne Geldpolitik, weil aufgrund der großen Kaufkraftverluste die Rettung des Klimas bald als unnötiger Luxus empfunden werden könnte.
Es bleibt also spannend, wie sich die Kommunikationsstrategie und die Geldpolitik der EZB unter Christine Lagarde entwickeln werden. Mit der Glaubwürdigkeit der EZB steht das Vertrauen in den Euro und damit auch in das Vertragswerk der Europäischen Union auf dem Spiel. Aus dieser Sicht wäre eine geldpolitische Wende ratsam. Vielleicht ist diese aber auch erst dann möglich, wenn Largarde die EZB in Richtung Paris verlassen hat. Wann das sein wird, bliebt abzuwarten.
Literatur:
European Central Bank 2022: Monetary Policy Decisions, 14.4.2022.
Herborn, Alexander / Schnabl, Gunther 2022: Wohnimmobilienpreise, Inflationsmessung und Geldpolitik im Euroraum. Universität Leipzig Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Working Paper 175.
Schnabl, Gunther / Sepp, Tim 2021: Inflationsziel und Inflationsmessung in der Eurozone im Wandel. Wirtschaftsdienst 101, 8, 615-620.