Wirtschaftspolitik heute
Viel ordnungspolitischer Unfug

„Die Soziale Marktwirtschaft ist die schlechteste Wirtschaftsordnung, ausgenommen aller anderen, die schon ausprobiert wurden.“(nach Winston Churchill)

Die deutsche Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit war ein Erfolgsmodell. Die wettbewerbliche Ordnung und eine regelgebundene Wirtschaftspolitik waren wichtige Elemente. Das hat Deutschland das „Wirtschaftswunder“ und die Wiedervereinigung beschert. Seither geriet allerdings die regelbasierte und stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik mit distributivem Augenmaß auf Abwege. Seit dem Jahr 2007 haben multiple Krisen diese regelvergessene Entwicklung verstärkt. Drei Ereignisse werfen ein Schlaglicht auf die Verwahrlosung der Ordnungspolitik: In Berlin will eine Mehrheit der Wähler privates Immobilieneigentum teilweise verstaatlichen, um die Wohnungsknappheit zu beseitigen. Die Garantie des Privateigentums wird obsolet, ein Grundpfeiler der Marktwirtschaft. Auch die Makro-Politik steht Kopf. Die EZB operierte lange mit Null- und Negativzinsen. Nun hat sie die Kontrolle über die Inflation verloren (Otmar Issing). Die Inflation galoppiert. Nicht mehr die Geld-, die Fiskalpolitik soll es richten, Inflation zu bekämpfen. Das wirtschaftspolitische Assignment wird auf den Kopf gestellt. Auch in der Politik der sozialen Gerechtigkeit sind ordnungspolitische Tabubrüche gang und gäbe. Es geht immer weniger um existentielle staatliche Hilfe zur Selbsthilfe. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wird heute ernsthaft diskutiert.

„Alte“ Grundsätze der Wirtschaftspolitik

Die Erfolge marktwirtschaftlicher Ordnungen sind unbestritten. Sie sind eine Wohlstandsmaschine, weltweit. Ohne evidenzbasierte Regeln (Institutionen), die sich der veränderten Umwelt anpassen, ist der Erfolg aber nicht denkbar. Erst eine wettbewerbliche Ordnung lenkt die Anstrengungen der Marktteilnehmer in die gesamtwirtschaftlich erwünschte Richtung (Hans Gersbach). Der Marktmechanismus sorgt für ökonomische Effizienz, statisch und dynamisch. Knappe Ressourcen werden in die produktivste Verwendungsart gebracht. Das schafft (wachsenden) materiellen Wohlstand. Flexible Märkte sorgen aber auch für eine hohe Anpassungskapazität bei exogenen Schocks. Neudeutsch: Sie machen Volkswirtschaften resilienter. Nicht nur in Zeiten von Krisen ist das von Vorteil. Das Problem ist allerdings, dass eine effiziente marktwirtschaftliche Ordnung von Voraussetzungen lebt, die der Markt selbst nicht schaffen kann. Märkte funktionieren nur, wenn der Staat einen adäquaten ordnungspolitischen Rahmen schafft. Die wichtigsten Regeln sind schnell aufgezählt: Private Eigentumsrechte müssen garantiert werden, private Vertragsfreiheit ist sicherzustellen, ein ungehinderter Zugang zu den Märkten muss möglich sein. Der Preismechanismus sorgt dann dafür, dass die Pläne der Marktteilnehmer (effizient) koordiniert werden.

Die Aufgaben des Staates in einer marktwirtschaftlichen Ordnung sind klar vorgegeben. Er setzt die Spielregeln, überwacht sie, agiert als Schiedsrichter, sanktioniert Regelverletzungen, spielt aber nicht mit (Ludwig Erhard). Der Staat korrigiert Mängel im Marktmechanismus, idealerweise allerdings nur, wenn sie größer ausfallen als die Mängel seiner eigenen Eingriffe. Externe Effekte sind zu korrigieren, informatorische Defizite zu verringern, Marktmacht zu unterbinden. Es gilt allerdings auch: Der Markt ist zwar (relativ) effizient, gerecht ist er aber nicht. Damit hat der Staat auch die Aufgabe, für eine Balance von marktlicher Effizienz und gesellschaftlich erwünschter Gerechtigkeit zu sorgen. Dabei sollte er allerdings darauf achten, dass „soziale Gerechtigkeit“ möglichst wenig effizienzverschlingend produziert wird. Die gesellschaftlich geforderte staatliche Umverteilung von „reich“ zu „arm“ sollte über das Steuer-Transfer-System, nicht aber durch (diskretionäre) Interventionen in den Preismechanismus erfolgen. Die vielen „Bremsen“ in Corona- und Energiekrise zeigen, dass die Politik diese Regel sträflich verletzt. Eine anreizkompatiblere Form, materielle Ungleichheiten längerfristig zu verringern, ist eine höhere soziale Mobilität. Stabilere Familien, bessere Schulen, funktionierende Arbeitsmärkte sind nützlich. Auch dabei kann der Staat helfen.

Ordnungspolitischer Unfug wird auch spürbar verringert, wenn die Makro-Politiken bestimmten Regeln folgen. Das gilt für die Geld- und Fiskalpolitik. Monetäre und fiskalische Makro-Politiken sollten nicht diskretionär eingesetzt werden, sie sollten regelgebunden agieren. Eherne Regeln sind das Tinbergen-Prinzip und ein klares wirtschaftspolitisches Assignment. Wirtschaftspolitische Mittel sollten sich zum einen auf nur ein Ziel der Wirtschaftspolitik konzentrieren (Jan Tinbergen). Es ist keine gute Idee, mit einem Mittel mehrere Ziele anzusteuern. So ist etwa das Vorhaben der EZB, mit der Geldpolitik nicht nur die Inflation im Zaum zu halten, sondern auch den Klimawandel aufzuhalten, wenig ineffizient. Es spricht vieles dafür, dass sie keines der beiden Ziele erreicht. Das Mittel sollte zum anderen eingesetzt werden, das am besten geeignet ist, ein Ziel mit minimalem Aufwand zu erreichen (Assignment). Eine Regel lautet: Die Geldpolitik (Notenbank) sollte sich um Preisniveaustabilität kümmern, die Fiskalpolitik (Staat) sollte öffentliche Güter effizient anbieten, Lohn- und Tarifpolitik (Tarifpartner) sollte für Vollbeschäftigung sorgen. Diese Regel wird auf den Kopf gestellt, wenn die Notenbank zum Klimaschützer mutiert, die Fiskalpolitik inflationäre Entwicklungen bekämpft und die Tarifpartner öffentliche Güter produzieren.

Die fiskalische Makro-Politik ist auch noch aus einem anderen Grund besonders anfällig für ordnungspolitischen Unfug. Mit dem Instrument der Staatsverschuldung verfügt sie über ein mächtiges Instrument, Lasten auf künftige Generationen zu verlagern. In Demokratien ist der Anreiz der Politik groß, heute den Wählern das Blaue vom Himmel zu versprechen und die finanziellen Lasten über höhere Schulden auf die Zukunft zu verlagern. Das wäre weniger schlimm, wenn die Politik die Mittel aus der Kreditnahme für investive Zwecke verwenden würde. Garantiert ist das aber nicht. Die Realität zeigt tagtäglich das Gegenteil. Der Löwenanteil der kreditär finanzierten staatlichen Ausgaben entfällt auf staatlichen Konsum. Es spricht vieles dafür, staatliche Verschuldung für staatliche Investitionen zu reservieren. Das ist aber leichter gesagt als getan. An den Kriterien, was staatliche Investitionen sind, scheiden sich seit langem die Geister. In der Not bleibt nur die Schuldenbremse, der fiskalische Holzhammer, der die staatliche Budgetrestriktion härten soll. Wenn es dumm läuft, trifft das Schuldige (Konsumfinanzierung) und Unschuldige (Investitionsfinanzierung). Unstrittig ist allerdings (bisher) eine andere fiskalische Regel. Monetäre Staatsfinanzierung ist verboten. Die Erfahrungen zeigen, die Gefahr inflationärer Entwicklungen ist zu groß.

Veränderte ökonomische Umwelt

Eine erfolgreiche marktwirtschaftliche Ordnung braucht „gute“ Regeln. Sie strukturieren das Verhalten der Marktteilnehmer, setzen individuelle Anreize für marktkonformes Verhalten, legen fest was des Marktes und was des Staates ist, haben aber keinen Ewigkeitscharakter (Wolf Schäfer). „Gute“ Regeln haben sich in der Vergangenheit bewährt. Sie sind anreizkompatibel, vermeiden also, dass Handlung und Haftung auseinanderfallen. Was „gut“ ist, muss nicht „gut“ bleiben. Ändern sich die wirtschaftlichen Umstände oder unser Wissen über Regeln, können auch „gute“ Regeln obsolet werden. Sie müssen sich an die neuen Gegebenheiten anpassen. Es ist ein Missverständnis zu glauben, nur „gute“ rechtliche Regeln garantierten „gute“ ökonomische Ergebnisse. Wirtschaftliches Zusammenleben funktioniert nur, wenn sich wirtschaftliche Akteure vertrauen. Solches Vertrauen entsteht durch Bindungen der Menschen untereinander. Daraus entwickeln sich Normen, also Regeln und Verhaltensmuster, die helfen die Bindungen zu stabilisieren. Ohne sie lassen sich die formellen, rechtlichen Bindungen nicht oder nur unter hohen (Transaktions-)Kosten aufrechterhalten. Die marktwirtschaftliche Ordnung würde kaum reibungslos funktionieren. Es braucht also beides, „gute“ formale, rechtliche und informelle, nicht rechtliche Regeln.

„Gute“ Regeln haben eine Achillesferse. Sie lassen sich nur schwer installieren. Einmal installiert haben sie eine Tendenz, sich selbst zu zerstören. Die marktwirtschaftliche Ordnung lebt von Voraussetzungen, die Märkte selbst weder schaffen noch garantieren können. Bei den formalen, rechtlichen Regeln ist sie auf die Hilfe der Politik angewiesen. Unvollkommene politische Märkte verhindern allerdings oft, dass ein effizienter ordnungspolitischer Rahmen installiert wird. Die Politik ist nicht primär an ökonomischer Effizienz orientiert, sie interessiert sich zuerst für Wählerstimmen. Dabei folgt sie konsequent der Logik des Politischen, möglichst viele Gruppen spürbar zu begünstigen und die Lasten möglichst unfühlbar auf die breite Masse zu verteilen. „Weiche“ Budgetrestriktionen helfen. Staatliche Verschuldung ist ein beliebtes Mittel. Eine regelgebundene Politik, die etwa die Budgetrestriktion mit Fiskalregeln „härtet“, ist für die Politik ein Hindernis. Politisch ertragreiche und ökonomisch effiziente Lösungen sind deshalb oft zwei Paar Schuhe. Auch beim informellen, nicht-rechtlichen Rahmen ist die Marktwirtschaft auf die Hilfe anderer angewiesen. Allerdings ist auch die Politik nicht in der Lage, den „sozialen Kitt“ gesellschaftspolitisch direkt herzustellen. Er entsteht vor allem durch viele Nicht-Markt-Institutionen, wie Familien, Kommunen, Vereinen, Kirchen und vielen anderen mehr, die auf freiwilligen Entscheidungen der Bürger basieren.

„Gute“ Regeln sind nicht nur schwer zu installieren und inhärent instabil. Auch exogene Schocks können ihnen zusetzen. Die Erfahrungen zeigen, Not kennt kein Gebot. Vor allem in Krisen zeigen Haushalte, Unternehmen und Politik oft kein Verständnis für regelhaftes Verhalten. Und die Zahl der „großen“ Krisen hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Allerdings: Es gab Krisen fast aus dem „Nichts“ und Krisen quasi mit „Ansage“. Die Finanz-, Flüchtlings-, Corona- und Ukraine-Krise zählen zur ersten Gruppe. Die Euro-Krise, der demographische Wandel, die Zuwanderung, der Klimawandel, die De-Industrialisierung gehören zur zweiten Kategorie von Krisen. Beide Arten von Krisen erhöhen die Anpassungslasten für eine Volkswirtschaft. Bei den Krisen aus dem „Nichts“ ist weder der Eintritt noch der Zeitpunkt vorhersehbar („unknown unknowns“). Der Anpassungsbedarf steigt sprunghaft an. Das ist bei Krisen mit „Ansage“ anders. Die Krise ist absehbar, oft ist der Zeitpunkt (Korridor) des Eintritts bekannt („known unknowns“). Der Anpassungsbedarf verteilt sich über die Zeit. Die Erfahrungen zeigen, bei beiden Arten von Krisen treffen große Anpassungslasten auf zu geringe Anpassungskapazitäten. Das müsste allerdings nicht sein. Die Marktteilnehmer könnten Vorsorge treffen. Das gilt für Haushalte, Unternehmen und Staaten. Die Anpassungskapazitäten würden erhöht. Tatsächlich tun sie das in der Regel aber nicht ausreichend.

Die Krisen mit „Ansage“ sind eigentlich beherrschbar. Es ist den wirtschaftlichen Akteuren lange genug klar, was auf sie zukommt. Sie müssen sich nicht abrupt anpassen. Es bleibt genügend Zeit sich mit den neuen Gegebenheiten vertraut zu machen. Trotzdem sorgen sie zumeist nicht vor. Tätig werden sie oft erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Das gilt für den demographischen Wandel, den Strukturwandel und den Klimawandel. Es trifft auch auf die EWU zu. Sie ist eine Fehlkonstruktion mit hohem „moral hazard“-Potential und geringen Überlebenschancen. Schwieriger ist es bei den Krisen aus dem „Nichts“. Das gilt für die Finanz-, die Corona- und die Ukraine-Krise. Der Anpassungsbedarf schnellt von heute auf morgen hoch. Die eigentliche Gefahr liegt in möglichen Kaskadeneffekten solcher Verwerfungen. In der Finanzkrise drohte die finanzielle Kernschmelze. Die Corona-Krise drohte, die wirtschaftlichen Aktivitäten lahm zu legen. In der Ukraine-Krise besteht wegen des Mangels an Energie die Gefahr einer industriellen Kernschmelze. Ein regelorientiertes Verhalten reicht nicht. Eine Art „Kriegswirtschaft“ ist notwendig, um das Schlimmste abzuwenden, wirtschaftlich, gesellschaftlich und sozial. Der Staat muss mit Notmaßnahmen versuchen, Zeit für die Anpassung über die Märkte zu kaufen. Einen wirklichen Plan gibt es dafür allerdings nicht.

Welt der Ökonomen steht Kopf

Der ordnungspolitische Unfug nimmt zu. Die vielen Krisen haben dazu beigetragen, dass ordnungspolitische Regeln (noch) stärker missachtet werden. Eingriffe in private Eigentumsrechte nehmen zu, staatliche Umverteilung erfolgt immer stärker über Preise, das wirtschaftspolitische Assigment wird auf den Kopf gestellt, staatliche Budgetrestriktionen werden aufgeweicht. Die Garantie des Privateigentums ist ein tragender Pfeiler marktwirtschaftlicher Ordnungen. Die Tendenzen sind eindeutig. Private Eigentumsrechte stehen auf dem Prüfstand. Offenkundig wird das in der staatlichen Wohnungspolitik. Am weitesten vorgewagt, haben sich die Wähler in Berlin. Sie sind mehrheitlich dafür, Wohnungseigentum zu verstaatlichen. Marktwidrige Mietpreisbremsen reichen ihnen nicht, bezahlbare Wohnungen werden noch knapper. Diese marktwidrigen Eingriffe verringern die Wohnungsnot nicht, ganz im Gegenteil. Der Angriff auf das Privateigentum geht allerdings weiter. In der Corona-Krise wurde – auch von bekannten seriösen Ökonomen – der Vorschlag gemacht, Patente für Impfstoffe zu vergesellschaften, Zwangslizenzen an den Staat zu vergeben und eine Art staatlicher „Kriegswirtschaft“ zu betreiben. Damit aber nicht genug. In der gegenwärtigen Energiepreis-Krise will die Bundesregierung eine Übergewinnsteuer (hier) einführen. Weitergehende Vorschläge, eine Vermögensabgabe zu erheben, liegen auf dem Tisch.

Der Preismechanismus ist das Herzstück der Marktwirtschaft. Eine relativ effiziente Allokation ist ein großer Vorteil, eine eher ungerechte Verteilung ein möglicher Nachteil. Die Lehren daraus sind nicht nur, allokative Verzerrungen ursachenadäquat anzugehen, sondern auch Allokation und Verteilung so gut es geht voneinander zu trennen. Umverteilung sollte nicht mit der Gießkanne über die Preise, sie sollte über gezielte Transfers an Bedürftige erfolgen. Diese Regel wird immer weniger beachtet. Ein Beispiel ist die Mietpreis-Bremse. Sie verknappt das Angebot an Wohnungen und begünstigt die Bestandsmieter zu Lasten der Neumieter. Wird (zumeist) keine Fehlbelegungsabgabe erhoben, profitieren einkommensstärkere Haushalte. Ein Paradebeispiel für eine Umverteilung mit der Schrottflinte ist auch die geplante Gaspreis-Bremse. Wird mit der Gießkanne verteilt, profitieren alle, arm und reich. Die unerwünschten Verteilungswirkungen sollen nach einem Vorschlag des Sachverständigenrates mit temporär höheren Steuern für Besserverdienende abgemildert werden. Ein besseres Beispiel für eine Interventionsspirale ist schwer zu finden. Denselben Fehler beging die Politik schon beim Energiegeld in der Corona-Krise. Es widersprach allen Regeln einer effizienten und gerechten Umverteilung. Eigentlich sollten nur Bedürftige in den Genuss staatlicher Hilfe kommen.

Es ist gesellschaftlicher Konsens, der Staat muss allen Bürgern ein (sozio-kulturelles) Existenzminimum garantieren. Das gilt unabhängig davon, ob Menschen unverschuldet oder selbst verschuldet in Not geraten sind. Die Hilfe der Gesellschaft ist aber nicht bedingungslos. Sie ist eine staatliche Hilfe zur individuellen Selbsthilfe. Auch darüber besteht (noch) gesellschaftliches Einvernehmen. Das Prinzip von „fördern und fordern“ drückt diesen Konsens aus. Es besteht allerdings die Gefahr, dass auch in der Grundsicherung eine Zeitenwende ansteht. Die kontroverse Diskussion um das Bürgergeld hat gezeigt, die Regel, wonach der Sozialstaat für seine Leistungen eine Gegenleistung verlangen kann, gerät unter Druck. Die seit den Hartz-Reformen gefundene neue Balance zwischen Großzügigkeit staatlicher Leistungen und Forderungen an die Transferempfänger kommt ins Wanken. Das „Fördern“ soll ausgebaut, das „Fordern“ verringert werden. Mit dem neuen Bürgergeld entsteht zwar kein „fast bedingungsloses“ Grundeinkommen (Bert Rürup). Von einem „bedingungsarmen“ Grundeinkommen (Holger Schäfer) kann man allerdings getrost sprechen. Damit nistet sich die Philosophie, dass der Sozialstaat bedingungslos sei, immer mehr in unserer Gesellschaft ein. Das hat einen (hohen) Preis. Umverteilung wird effizienzverschlingender.

In den vielen Krisen der letzten Jahre gerieten auch die Regeln einer effizienten wirtschaftspolitischen Aufgabenteilung unter die Räder. Die wirtschaftlichen Akteure eilten von Notfall zu Notfall. Das gilt vor allem für die EZB. Sie verletzt die Tinbergen-Regel. Mit der Geldpolitik verfolgt sie nicht nur das Ziel der Preisniveaustabilität, eher erfolglos, wie die hohe Inflationsrate zeigt. Sie strebt seit einiger Zeit auch klimapolitische Ziele an. Gewichtiger ist allerdings, dass sie seit der Finanzkrise mehr fiskal- als geldpolitisch unterwegs ist (Assignment-Problem). Die Aufgabenteilung zwischen Staat und EZB hat sich geändert. Die EZB ist stark in fiskalpolitisches Fahrwasser geraten. Sie betreibt (verbotene) monetäre Staatsfinanzierung. Damit stützt sie nicht nur die ausufernde Verschuldungspolitik der Mitgliedsländer, sie stabilisiert auch die EWU. Die Nebenwirkungen dieses neuen Politik-Mix sind erheblich. Mit der Staatsfinanzierung über die Notenpresse „weicht“ die EZB die staatliche Budgetrestriktion weiter auf. Die Politik selbst tut fiskalisch alles, damit die Budgetrestriktion „weich“ bleibt. Von den Fiskalregeln ist wenig geblieben. Die Schuldenregel ist ausgesetzt. Immer neue Nebenhaushalte („Sondervermögen“) verschleiern die fiskalische Regelverletzung. Das erschwert die eigentliche Arbeit der EZB, die galoppierende Inflation im Zaum zu halten.

„Neue“ Ordnungspolitik

Vor allem die „Krisen mit Ansage“ haben die strukturellen Defizite hierzulande aufgezeigt. Die großen Anpassungslasten trafen auf eine geringe Anpassungskapazität. Was ist zu tun? Es ist wenig erfolgversprechend die Anpassungslasten der Krise zu verringern. Sie sind da und müssen getragen werden. Mehr Erfolg versprechen Maßnahmen, die helfen die Anpassungskapazität zu erhöhen. Das ist die Stunde der Angebotspolitik (hier). Davon ist allerdings wenig zu sehen. Die Anpassung erfolgt weniger über die Märkte. Eher gilt: „Kick the can down the road.“ Es ist die Zeit der Staatswirtschaft, der sozialen Transfers, der Subventionen, der staatlichen Unternehmer. Aber auch der Bazookas, der Wummse und Doppelwummse. Die Probleme werden mit Geld zugekleistert. Alle wollen entlastet werden. Tatsächlich sind wir alle zusammen ärmer geworden. Es ist deshalb logisch nicht möglich, alle zu entlasten. Der Staat kann die Lasten nur verteilen. Wenn aber die Bürger, die Lasten partout nicht tragen wollen, bleibt nur der Ausweg, sie über staatliche Verschuldung zu finanzieren. Die eingetretenen Lasten werden auf künftige Generationen verlagert.

Die ordnungspolitische Verwahrlosung ist offensichtlich. Eine „neue“ Ordnungspolitik muss viererlei anpacken: Sie muss „alte Grundsätze“ wieder aktivieren, für neue Entwicklungen neue Regelwerke finden, Regeln für ein Krisenmanagement entwickeln und Unvollkommenheiten auf politischen Märkten verringern. Die „alten Grundsätze“ regelorientierter Wirtschaftspolitik sind nicht obsolet. Sie sind notwendiger denn je. Private Eigentumsrechte zu garantieren, private Vertragsfreiheit sicherzustellen und den Marktzugang offen zu halten sind noch immer Herzstücke. Staatliche Umverteilung nicht über die Preise zu betreiben, ein effizientes wirtschaftspolitisches Assignment wieder herzustellen, den Tinbergen-Vorschlag umzusetzen und für „harte“ staatliche Budgetrestriktionen zu sorgen, gehören ebenfalls zum Kernbestand der guten „alten“ Ordnungspolitik. Aber es gibt auch Entwicklungen auf neuen Märkten, für die neue, passgenauere Regelwerke notwendig sind (Hans Gersbach). Es ist etwa unklar, wie „gute“ Regelwerke für das Bankensystem, für die Betreiber sozialer Netzwerke und Suchmaschinen oder für die „Sharing Economy“ aussehen. Notwendig ist ein Entdeckungsverfahren für geeignete Regelwerke. Helfen könnten Experimentierräume (regulatorische Reallabore), um zu neuen Erkenntnissen zu kommen.

Die Finanzkrise hat es zuerst offengelegt, die Euro-Krise hat es verstärkt, die Corona-Krise und die Ukraine-Krisen haben es bestätigt: Die (Wirtschafts-)Politik hatte in den Krisen keinen Plan, wie sie vorgehen sollte. Auch die Ökonomie war eher blank. Für regelgebundenes Verhalten war es zu spät. Es galt den Systemzusammenbruch zu verhindern. Es war zunächst unklar, was zu tun sei. Handlungsvorgaben existierten nicht. Man handelte ad hoc. Das glich einem Schießen im Nebel auf ein laufendes Ziel (Joseph A. Schumpeter). Erst die täglichen Erfahrungen mit Versuch und Irrtum brachten mehr Wissen. Vieles lief schief. Ordnungspolitischer Schweinkram (Olaf Sievert) war unvermeidlich. Die geld- und fiskalpolitische Artillerie verhinderte zunächst das Schlimmste. Der Preis wurde erst später sichtbar: Die Zahl der Zombie-Unternehmen nahm zu, negative Anreizeffekte traten auf, die Staatsverschuldung explodierte, Steuerzahler wurden stark belastet. Da keine der Krisen wie die andere war, sind klare evidenzbasierte Regeln für ein Krisenmanagement schwierig. Einige Anhaltspunkte über die Prinzipien staatlicher Hilfen existieren aber schon: Geholfen werden soll Menschen, nicht Unternehmen. Die kritische Infrastruktur muss geschützt werden. Eine klare Arbeitsteilung zwischen Staat und Wirtschaft ist notwendig (Christoph Eisenring).

Es ist schon schwer genug, „gute“ Regeln zu finden. Noch schwerer ist es allerdings, sie auch in die Tat umzusetzen. Darüber wird auf politischen Märkten entschieden. Diese funktionieren aber anders als ökonomische (hier). Ökonomische Effizienz ist eher nebensächlich, Wiederwahlchancen dominieren. Gedacht wird in Legislaturperioden, nicht in Generationen. Politische Märkte haben Mängel. Rationales Unwissen der Wähler ist an der Tagesordnung. Abgestimmt wird über politische Paketlösungen. „Rent seeking“ von Interessengruppen dominiert. Die Budgetrestriktionen der Politiker sind „weich“. Staatliche Verschuldung (explizit und implizit) fördert ineffiziente Entscheidungen. Die Chancen, dass sich Politiker für einen effizienten Ordnungsrahmen entscheiden, sind eher gering. Viel wäre gewonnen, wenn es gelänge, die Kluft zwischen Handlung und Haftung der Politik zu verringern. Der Einbau von Elementen der direkten Demokratie wäre ein Anfang. Die Macht der Interessengruppen zu beschränken, wäre sinnvoll, mehr Transparenz auf politischen Märkten ein geeignetes Mittel. Alle diese marginalen Reformelemente könnten helfen, unvollkommene politische Märkte funktionsfähiger zu machen. Tatsächlich dürfte der Weg einer wirksamen Reform der politischen Märkte aber steinig sein. Schließlich müssen die Profiteure der gegenwärtigen Verhältnisse möglichen Veränderungen zustimmen. Das ist nicht zu erwarten.

Fazit

Auch in der Wirtschaftspolitik gab es eine Zeitenwende. Sie kündigte sich nicht mit einem lauten Knall an, sie kam auf leisen Sohlen. Die Krisen der letzten 15 Jahre beschleunigte sie. „Alte“ Grundsätze der Wirtschaftspolitik kamen immer mehr aus der Mode. Die „moderne“ Wirtschaftspolitik hat mit Ordnungspolitik nur noch wenig am Hut. Das entspricht dem herrschenden Zeitgeist. Die Skepsis der Bürger gegen marktwirtschaftliche Ordnungen wächst. Unter den Parteien besteht weitgehend Konsens, die Bürger müssen vor den Unbilden der Welt gerettet werden. Und die Bürger wollen gerettet werden. Sicherheit ist ihnen wichtiger als Freiheit. Der Ruf nach dem Staat wird lauter. Die Bürger können von staatlichen Leistungen nicht genug kriegen. Dafür bezahlen wollen sie allerdings nicht. Die Bereitschaft ist groß, marktliche Prinzipien ohne viel Federlesens aufzugeben. Die Lasten aus den Krisen machen uns alle ärmer. Aber alle wollen entlastet werden. Und die Politik nährt diese Illusion. Tatsächlich kann sie die Lasten nur umverteilen. Und sie tut es zu Lasten künftiger Generationen. Die Politik setzt die Schuldenbremse faktisch außer Kraft, richtet immer neue „Sondervermögen“ ein und camoufliert die finanziellen Löcher in den Systemen der Sozialen Sicherung mit (auch kreditfinanzierten) Bundeszuschüssen. Wir hinterlassen nachfolgenden Generationen nicht nur ein kaputtes Klima, sondern auch einen Berg von Schulden. Ich sehe nicht, wie es gelingen könnte, den ordnungspolitischen Unfug zu beenden.

Hinweis: Eine Version des Beitrags erschien in: Norbert Berthold und Jörn Quitzau (Hrsg.), Die Wirtschafts-Welt steht Kopf: Abschied von den Illusionen – Konzepte für eine neue Wirtschaftspolitik. Vahlen Verlag, 2023

2 Antworten auf „Wirtschaftspolitik heute
Viel ordnungspolitischer Unfug

  1. Ich sehe das auch so, einschließlich des letzten Satzes. Wahrscheinlich lese ich deshalb auch diese Webseite. Das hier ist eine ordoliberale Blase.

    Zur Zeit der Eurokrise googelte ich oft im englischsprachigen Internet nach ordoliberalism. Das war dort so gut wie unbekannt und wurde nun von einigen Deutschen über das Gedankengut informiert. Ich vermute, dass auch in der deutschen Politik Ordoliberalismus eher nicht bekannt ist. Wie soll sich dann auch jemand danach richten?

  2. @ Robert Müller:
    Ganz so einfach darf man die Politikerkaste nicht davonkommen lassen. Tinbergen war beispielsweise kein klassischer Ordoliberaler und sein(e) Prinzip/Regel ist eigentlich nur das Herunterbrechen der Lösungsvoraussetzung eines linearen Geichungssystems auf die Anwendung in der Wirtschaftspolitik: Hat man mehr (voneinander unabhängige) Gleichungen als Variable, kann man die mathematischen Kampfhandlungen getrost einstellen, denn dann existiert keine Lösung im angestrebten Sinne. Anders formuliert: Es geht hier um Grundsätzliches, das jeder Verantwortliche schon immer kennen sollte. Ob die Zahl derer, die es tatsächlich kennen, abgenommen hat oder/und andere Gründe für die zunehmende Nichtbeachtung solcher Zusammenhänge vorliegen, mag dahinstehen. Traurig und gefährlich ist es allemal.

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