Für eines kann man Paul Krugman wirklich bewundern: sein Talent, ewig gleiche Thesen ohne Selbstzweifel in immer neuen Variationen mit großem Erfolg unter die Leute zu bringen. Richtig neidisch bin ich auf seine Gabe, geniale Titel zu finden. Mein kategorischer Favorit ist „Why Germany Kant Kompete“ von Juli 1999. Der erste Absatz erinnert an Mark Twain und ist herrlich komisch.
Aber zum Inhalt. Krugmans damals wie heute vorgetragenes ceterum censeo gilt der deutschen Obsession mit Ordnungspolitik, Prinzipien, kategorischen Imperativen. Deutsche Ökonomen und Politiker seien zunächst einmal oft “more conservative“ als amerikanische, denn: „they do believe in sound money and sound budgets and abhor the idea that government should lower interest rates or – horrors – devalue the currency to fight unemployment“. So Krugman 1999 in einer Art vorauseilendem Kommentar zur jüngsten Kritik von Wolfgang Schäuble an Ben Bernanke. Der wahre Konflikt sei aber nicht ein politischer, sondern ein philosophischer: “It’s not Karl Marx vs. Adam Smith, it’s Kant’s categorical imperative vs. William James“˜ pragmatism“. Deutsche seien eben Prinzipienreiter; Amerikaner dagegen philosophisch und persönlich eher „sloppy“. Nun seien die Deutschen damit bisher nicht allzu schlecht gefahren: dies zeigten etwa die Exporterfolge deutscher Ingenieurskunst, die Verlässlichkeit der deutschen Bahn oder die geringere Inflation während der 1970er und 1980er Jahre. Heute (1999) sei die Welt aber eine andere, dynamische („with technology and markets in flux“), die zudem von Deflation, nicht Inflation bedroht sei (ergo: „an obsession with sound money can be a recipe for desaster“). Diese neue Welt belohne amerikanische „Flexibilität“ (bei Krugman eher stur: expansive Geld- und Fiskalpolitik) und mache deutsche „Disziplin“ zur Gefahr für das „project of a more unified Europe“.
Im Nachhinein ist es natürlich billig, elf Jahre alte Prophezeiungen eines Autors mit der seitherigen Entwicklung der Realität zu konfrontieren und etwa zu konstatieren, dass ein wenig „kantianische“ Obsession mit restriktiverer Geldversorgung und soliderem Haushalt (privat wie öffentlich) sowohl der EU wie auch den USA als „Bedingung der Möglichkeit“, die letzten Krisen zu vermeiden, womöglich geholfen hätte. Nur: so wie 1999 denkt Krugman noch heute über das „German problem“. Das Problem ist freilich heute nicht mehr so sehr „Why Germany Kant Kompete“, sondern die in den letzten Jahren sichtbar gestiegene relative Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik, die Krugman (ähnlich wie, in einer bemerkenswerten entente, französische Politiker) als irgendwie unzweckmäßig und unsolidarisch erachtet. All dies wurde hier bereits an verschiedenen Stellen treffend kommentiert: Erst Lagarde, nun auch Geithner: Deutschland exportiert zu viel!, Saldenmechanik, Wirtschaftslenkung, Zentralisierung, Braucht Europa eine Wirtschaftsregierung? oder Gefährliche Routen durchs staatliche Schuldengebirge.
Bleibt das Problem Kant. Es wäre vielleicht schön, aber sicher falsch, den deutschen Regierungen eine überbordende Obsession für kategorische Imperative einer prinzipiengeleiteten und regelgebundenen Ordnungspolitik vorhalten zu können. Dennoch kann man heute feststellen, dass zumindest im Vergleich zu den USA, aber auch zu wichtigen europäischen Nachbarn, deutsche Politik zumindest etwas mehr Wert legt auf die rule of law, auf kategorische Prinzipien und politische Selbstbindungen. Deutschland tritt gelegentlich als Spielverderber auf, wenn es um (noch) mehr rule of reason, Flexibilität und diskretionäre Handlungsspielräume bei der Festlegung und Interpretation wirtschaftspolitischer Programme und Regeln geht. Komparativ etwas erheblichere Restbestände von „Kant“ zeigen sich etwa in den in Deutschland häufiger geäußerten kritischen Fragen an die Einzelfallbetrachtung im europäischen Wettbewerbsrecht („more economic approach“, vgl. Schmidt, A. und M. Wohlgemuth, 2010), in der vergleichsweise kategorisch-verbindlichen Verfassungsvorschrift der deutschen „Schuldenbremse“, im (zumindest anfänglichen) Beharren der deutschen Regierung (und der Ökonomengilde) auf einem regelgebundenen „Automatismus“ der Sanktionen für sich überschuldende Mitglieder des Euro-Clubs oder im (zumindest gelegentlichen) Beharren auf universalisierbaren Imperativen der (Nicht-)Subventionsvergabe (Opel) oder (Nicht-)Intervention (Hochtief – ACS).
Der Pragmatismus von William James hat indes auch seine Vorteile – vor allem wenn er sich als evolutorisch / kritisch-rationaler Experimentalismus und Dezentralismus der Politik äußert (vgl. hierzu Sabel, C., 2001, Knight, J., 2001). Ordnungspolitik sollte sich nicht anmaßen, die „wahren“ Vernunftprinzipien in allen konkreten Ableitungen ein für alle mal zu kennen und einmal für alle („one size fits all“) verpflichtend zu machen. Auch helfen universalisierbare Prinzipien, selbst wenn sie (etwa: Europäischen) Verfassungsrang erlangt haben mögen, wenig, wenn sie nicht kulturell akzeptiert sind und politisch durchgesetzt werden können – wie jüngst die kalte Abschaffung des Art. 125 EUV gezeigt hat. Als ich einmal wieder mein ordnungspolitisches Credo am Beispiel der Schuldenbremse vortrug, hielt mir der ehemalige britische Schatzminister Alistair Darling unter großen Beifall auch aktueller Regierungsmitglieder entgegen: „Ihr Deutsche wollt immer alles regeln und in Verfassungen meißeln. Dabei kommt es doch letztlich nur auf eines an: den politischen Willen!“.
Das mag wohl sein (hätte ich damals antworten sollen), aber: wie steht es mit der politischen Willensschwäche? Anomalien, irrationale Emotionen, Kurzfristdenken: all das, was an selbstschädigender Willensschwäche heute als Begründung für einen libertarian paternalism im Bereich privater Entscheidungen genannt wird, gilt doch im Bereich kollektiver Entscheidungen umso mehr – und mit deutlich schwerwiegenderen Konsequenzen bzw. Externalitäten (vgl. Wohlgemuth, M., 2010). Man mag im Privaten „sloppy“ sein: die Konsequenzen dafür trägt der Willensschwache zunächst einmal selbst. Politische „Flexibilität“ – Unabhängigkeit von glaubwürdigen kollektiv verbindlichen Selbstbindungen – und damit die Hoffnung auf einen unanfechtbar dem nachhaltig und umfassend Wohltätigen dienenden „politischen Willen“ ist dagegen eine überaus riskante Wette – deren Verluste am Ende andere einlösen müssen.
Das Problem der USA seit 1999 dürfte auch daran liegen, dass Ökonomen, Banker und Politiker zu viel Paul Krugman und zu wenig Immanuel Kant gelesen haben. Die Vorstellung, durch immer mehr immer billigeren Kredit und Staatsverschuldung den immer wieder aufs Neue kreierten Über- und Fehlinvestitions-Krisen kurzfristig „pragmatisch“ beizukommen, sollte auch einmal ebenso pragmatisch hinterfragt werden. Die Antwort könnte, durchaus konsequentialistisch-utilitaristisch, sein: glaubwürdige Selbstbindung an universalisierbare Verbote dauerhaft schädlichen Verhaltens kann mehr Krisen vermeiden als ein pragmatisches „laissez-faire“. Der Pragmatismus schafft eher die Krisen als Situationen selbstverschuldeter Unmündigkeit, in denen Flexibilität „alternativlos“ wird.
Meine These ist somit: Kant Kan Kompete! Ganz nebenbei: auch Kant konnte Komik. Der Titel zu seinem berühmten „philosophischen Entwurf“ zum Völkerrecht: „Zum ewigen Frieden“ zitiert ein Wirtshausschild eines „holländischen Gastwirths, worauf ein Kirchhof gemalt war“. Dieses Spätwerk von Kant (1795) kann auch als ein Frühwerk liberaler Ordnungstheorie oder Konstitutionenökonomik gelesen werden. Es behandelt nicht nur das Völkerrecht, sondern vor allem die Prinzipien einer „republikanischen Verfassung“. Und beides, so Kant, darf nicht in Krugmans Sinne „sloppy“ oder pragmatisch sein: „Man kann hier nicht halbieren und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen“. Nur durch eine Unterwerfung aller Politik unter allgemeine Prinzipien und Rechtssätze kann diese „hoffen, obzwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird“ (Kant, Akademie Ausgabe, Randnummer 380). Kurz: glaubwürdige Selbstbindung (Ordnungspolitik) schafft nachhaltigen Erfolg. Zur Begründung nur kurz drei Argumente:
Der „Witz“ oder die „List“ der republikanischen Verfassung liegt genau darin, dass sie nicht vorauszusetzen braucht, „es müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menschen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären“. Das ordnungspolitische Problem ist vielmehr, so Kant (Rn 366) „selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ,Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen geneigt sind, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, dass, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, dass in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnung hätten“˜.“ Kurz: glaubwürdige Selbstbindung (Ordnungspolitik) setzt keinen idealistischen Altruismus, sondern nur aufgeklärtes Selbstinteresse voraus – auch und gerade in Gefangenendilemma-Situationen.
Hier nun, auf der Ebene kollektiver Selbstbindung, gewinnt (in meiner laienhaften und verkürzten Interpretation) der „kategorische Imperativ“ ordnungspolitische Bedeutung. Kant (Rn 377) unterscheidet zwei Arten von Politik(ern): Da sind einmal die „politischen Moralisten“ oder Pragmatiker, die einem „materialen Prinzip“ der Politik folgen, die Recht und Politik „als bloße Kunstaufgabe (problema technicum)“ oder als „Staats-Klugheitsproblem“ begreifen und je nach gegenwärtigem „Zweck (als Gegenstand der Willkür)“ flexibel ändern oder auslegen. Paul Krugman dürfte stellvertretend für diese unter Ökonomen und Politikern vorherrschende Gattung stehen. „Himmelweit“ davon entfernt ist Kants ordnungspolitisch „moralischer Politiker“, der dem „formalen … bloß auf Freiheit im äußeren Verhältnis gestellten“ Prinzip als „eine sittliche Aufgabe (problema morale)“ folgt, „darnach es heißt: handle so, dass du wollen kannst, deine Maxime soll ein allgemeines Gesetz werden (der Zweck mag sein, welcher er wolle)“.
Spätestens an dieser Stelle wird Kant sozusagen „hayekianisch“, indem er schon 1795 bemerkte: „Zur Auflösung des ersten, nämlich des Staats-Klugheitsproblems, wird viel Kenntnis der Natur erfordert, um ihren Mechanism zu dem gedachten Zweck zu benutzen, und doch ist alle diese ungewiß in Ansehung ihres Resultats …“. Und doch, so war schon Kant (wie eben später Hayek) überzeugt, erweist sich gerade die Zweck-Unabhängigkeit der Selbstbindung der Politik an universalisierbare Regeln gerechten Verhaltens als dauerhaft zweckmäßig: Denn das hat die Ordnungspolitik im Sinne von Kant „Eigenthümliches an sich und zwar in Ansehung ihrer Grundsätze des öffentlichen Rechts (mithin in Beziehung auf eine a priori erkennbare Politik), daß, je weniger sie das Verhalten von dem vorgesetzten Zweck, dem beabsichtigten, es sei physischem oder sittlichem, Vortheil, abhängig macht, desto mehr sie dennoch zu diesem im Allgemeinen zusammenstimmt“ (Rn 378).
Hiergegen mögen Paul Krugman und andere „politische Moralisten noch so sehr … vernünftlen“ (ebd.): eine „erkennbare Politik“, die sich glaubwürdig an kategorische Prinzipien zu binden in der Lage ist und universalisierbare Regeln auch dann durchsetzt, wenn sie der momentan politisch opportunen „Kunstaufgabe“ als „Gegenstand der Willkür“ in stets „ungewißer Ansehung ihres Resultats“ widersprechen mag, dürfte nachhaltig nicht nur moralischer, sondern auch zweckmäßiger, wettbewerbsfähiger, erfolgreicher sein als ein „sloppy“ Pragmatismus.
Das ist es wohl: What Krugman Kant Komprehend.
Literatur
Knight, Jack, 2001, A Pragmatist Approach to the Proper Scope of Government, Journal of Institutional and Theoretical Economics, Bd. 157.
Sabel, Charles F., 2001, Design, Deliberation, and Democracy: On the New Pragmatism of Firms and Public Institutions, in: OECD (Hrsg.), Governance in the 21st Century.
Schmidt, André und Michael Wohlgemuth, 2010, Das Wettbewerbskonzept der EU aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften: wie ökonomisch ist der „more economic approach?“, in Hermann-Josef Blanke, u.a. (Hrsg.), Dimensionen des Wettbewerbs – Europäische Integration zwischen Eigendynamik und politischer Gestaltung, Tübingen 2010, S. 51-80.
Wohlgemuth, Michael, 2010, Hayek und das magische Dreieck der Moderne, oder: gibt es ein Paradox des klassisch-liberalen Paternalismus?, in: Wolfgang Kersting (Hrsg.), Freiheit und Gerechtigkeit. Die moralischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft, Frankfurt, S. 77-108.
- Gastbeitrag
Macrons Europavision - 8. November 2017 - Gastbeitrag
Zur Zukunft der EU - 9. Mai 2017 - Warum der Europäische Fiskalpakt wichtig wäre … und warum er wohl grandios scheitert. - 30. April 2012
Danke, Herr Wohlgemuth, für diesen Ordnungsruf. Auch wenn er Paul Krugman erreichen sollte, wird er ihn wohl leider nicht hindern, sein ceterum censeo einer expansiven Geld- und Fiskalpolitik weiter zu verbreiten. Die Folgen werden alles andere als erfreulich sein.