Der Primat der Politik und die Verschuldungskrise

Angesichts der politisch-ökonomischen Verwerfungen der Verschuldungskrise mehren sich in diesen Tagen besorgte Stimmen angesichts der vermeintlichen oder tatsächlichen Gefahr, die Demokratie könne auf dem Altar „ökonomischer Sachzwangsideologie“ geopfert werden. Der Souverän über Haushaltsfragen muss, so stellt es beispielsweise Frank Schirrmacher in der FAZ fest, allein das Volk sein, entweder direkt oder vertreten durch das Parlament (Frank Schirrmacher, „Demokratie ist Ramsch“, FAZ, 1.11.2011). Während es darüber in der Tat heute wie morgen keinen Zweifel geben darf, so fangen die Missverständnisse gleich im nachfolgenden Gedanken an. Denn Schirrmacher hält es ebenso wie viele andere für undemokratisch, wenn die Haushaltsentscheidungen überschuldeter Länder von Gläubigern und EU-Institutionen nach Maßgabe finanzökonomischer Vernunft „diktiert werden“, statt allein dem souveränen Volkswillen Ausdruck zu verleihen. Das klingt zunächst einmal wie eine zwingende Folge der beim Volk zu verortenden Haushaltssouveränität, und so glaubte Schirrmacher damit auch der „finanzökonomischen Ideologie“ zugunsten des Primats des Politischen über das Ökonomische die Stirn geboten zu haben. Altmeister Jürgen Habermas sekundierte sogleich und führte die Gedanken in einem eigenen FAZ-Artikel weiter aus (Jürgen Habermas, „Rettet die Würde der Demokratie“, FAZ, 4.11.2011). Weitere mehr und manchmal weniger prominente Kämpfer wider die Diktatur der Ökonomie sind leicht zu finden.

Alle diese Leute fordern den Primat der Politik über die Ökonomie und deren Gesetzmäßigkeiten, und sie bleiben damit fast immer unwidersprochen, ganz so als ob es dazu keiner weiteren Begründung mehr bedürfe. Denn es scheint selbstevident, dass in einer Demokratie immer und überall die Mehrheit im Parlament über allem zu stehen hat, auch und gerade über den ökonomischen Gesetzen. Es kann also nur ein Feind der Demokratie sein, wer den Primat der Politik über die Gesetze der Ökonomie in Zweifel zieht. Nur: Wie so oft sind die Eulen nicht das, was sie scheinen. Das fängt schon mit der folgenden Frage an: Was sind eigentlich ökonomische Gesetze? Hierzu wären zwei sehr unterschiedliche Konzepte zu bieten:

  • Typ 1: Die Proponenten des Primats der Politik über die Ökonomie verstehen unter ökonomischen Gesetzen austauschbare rechtliche Regeln, mit denen ökonomische Abläufe beliebig gestaltet werden können. Manche sehen darin gar eine krypto-legislative Normsetzung durch verborgen wirkende Zirkel, welche die legitimen rechtssetzenden Organe unterwandern und auf diesem Wege die von ihnen zuvor definierte ökonomischen Verhaltensregeln einschleusen, auf dass diese von dort aus der Wohlstandsmehrung weniger Supervermögender zulasten der überwältigenden Mehrheit des Volkes dienen (wer das übertrieben findet, mag hier nachlesen: Hans-Jürgen Krysmanski, „Eine Revolution ist ohne Alternative“, Mittelstands-Nachrichten, 27.11.2011).
  • Typ 2: In der ökonomischen Theorie sind ökonomische Gesetze die innere Logik der Interaktion von Menschen in ökonomischen und manchmal auch nicht-ökonomischen Zusammenhängen. Hierzu gehören rein arithmetische und damit sachlogisch zwingende Gesetze, die zum Beispiel beschreiben, zu welchem Betrag sich ein staatlicher Kredit unter definierten Umständen im Laufe der Zeit aufsummiert, wenn der Schuldendienst abermals mit Krediten finanziert wird. Andere Gesetze sind erfahrungswissenschaftlicher Natur und damit im Zusammenspiel mit empirisch testbaren Anfangs- und Randbedingungen sachlogisch zwingend.

Zu den Unterschieden zwischen den beiden Typen von Gesetzen gehört es, dass die Gesetze des ersten Typs das Wirtschaftsleben ganz nach dem Willen des Normgebers zu präformieren in der Lage und bei unerwünschten Ergebnissen beliebig änderbar sind. Im Gegensatz dazu sind die Gesetze des zweiten Typs nicht veränderbar. Will man ökonomische Ergebnisse verändern, so werden die wirtschaftenden Menschen oder die Politik ihr Verhalten im Rahmen der Logik dieser Gesetze verändern müssen, so wie man eine Maschine immer nur im Rahmen physikalischer Gesetzmäßigkeiten so reparieren kann, dass sie funktionstüchtig wird. Vertreter der These von der alleinigen Herrschaft von Typ1-Gesetzen bestreiten gezwungenermaßen, dass es ökonomische Gesetze vom Typ2 überhaupt geben kann und behaupten stattdessen, dass der Hinweis auf Typ 2-Gesetze nur ein rhetorischer Trick sei, mit dem man kritische Stimmen gegenüber den jeweils herrschenden Typ1-Gesetzen gefügig zu machen trachtet. Schirrmacher zum Beispiel spricht in diesem Zusammenhang von der „Ideologie der Finanzmarktlogik“, was beinhaltet, dass die darin enthaltenen Gesetzmäßigkeiten nur behauptete sind. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es wäre naiv zu leugnen, dass es Typ1-Gesetze gibt, wobei der Übergang von rechtsstaatlich gedecktem Lobbyismus zu illegalen und illegitimen Praktiken fließend ist. Ebenso wäre es aber töricht, die Existenz von Typ2-Gesetzen zu leugnen und alle ökonomischen Sachzwänge als wissentlich konstruierte und daher austauschbare Verhaltensregeln zu sehen; und genau von dieser Torheit soll hier die Rede sein.

Es sind vor allem die Typ1-Freunde, welche nach Kräften den verlorengegangenen Primat der Politik im Zusammenhang mit der aktuellen Verschuldungskrise beklagen. So habe sich die Finanzpolitik Griechenlands in Wahrheit keinen ökonomischen Zwängen, sondern allein interessengeleiteten Typ1-Gesetzen zu beugen, und dass, wo doch laut Verfassung nicht ökonomische Gesetze, sondern Parlamente und deren Gesetze den obersten Souverän eines demokratischen Staates repräsentieren. Damit ist der Konflikt zwischen legitimer parlamentarischer Gesetzgebung und illegitimer krypto-Legislatur vom Typ1 offengelegt. Man beachte aber, dass dies nur schlüssig ist, wenn man die Existenz von Typ2-Gesetzen leugnet. Denn es wäre beispielsweise wohl abwegig zu verkünden, man wolle sich den physikalischen Gesetzen der Schwerkraft ab sofort nicht mehr beugen und daher Flugzeuge ohne Tragflächen bauen, weil das Parlament dies mehrheitlich – vielleicht gar mit qualifizierter Mehrheit – so beschlossen habe und man sich daher keinesfalls den (zweifellos) nicht-demokratisch entstandenen physikalischen Gesetzen der Schwerkraft zu beugen bereit sei.

Ist dieser Vergleich absurd oder gar Ausdruck der besonders perfiden Rhetorik eines Typ1-Legislativ-V-Manns? Offenkundig nicht, denn es ist beispielsweise unumgänglich, dass ein Land, welches Schulden mit Schulden bezahlt, spätestens dann eine unkontrollierbare Schuldendynamik auslöst, wenn der Nominalzinssatz über die nominale Wachstumsrate der Kreditbestände steigt (so übrigens geschehen in Griechenland ab dem Jahre 2008). Und es ist unumgänglich, dass ein Land, welches eine solche Dynamik nicht rechtzeitig unterbricht, indem es hinreichend hohe Primärüberschüsse erzielt, früher oder später zahlungsunfähig wird. Schließlich ist es ebenso unumgänglich einzusehen, dass es zur Erzielung solcher Primärüberschüsse nur zwei Wege gibt: dass man nämlich entweder die staatlichen Einnahmen erhöht oder die staatlichen Ausgaben reduziert. Es gibt rein sachlogisch gesehen keine anderen Wege. An diesen Zusammenhängen ist nichts von Menschen konstruiert, und damit sind sie natürlich auch nicht demokratisch; sie deshalb aber per politischem Willen außer Kraft setzen zu wollen wäre ebenso absurd wie der Versuch, den Gesetzen der Physik per Mehrheitsbeschluss ihre Legitimität nehmen zu wollen.

Jede Finanzpolitik, welche die Grundlagen der Souveränität eines Landes sichern will, muss sich demnach innerhalb dieser Typ2-Gesetze bewegen, so wie jedes Flugzeug, das fliegen soll, mit Tragflächen ausgerüstet sein muss (jedenfalls innerhalb der Erdatmosphäre). Ignoriert man solche Gesetzmäßigkeit, kann das in politischen Zusammenhängen ähnlich fatale Folgen haben wie der Versuch, mit einem Flugzeug ohne Tragflächen zu starten. Im Falle der Überschuldung eines Landes bedeutet es, dass man früher oder später aus eigener Kraft den Schuldendienst nicht mehr zu leisten in der Lage sein wird. Ist man dann Mitglied einer Gemeinschaft wie die EU, so haben die übrigen Mitgliedstaaten wiederum zwei Möglichkeiten: Sie helfen dem zahlungsunfähigen Land oder sie helfen nicht. Schließlich können sie sich im Falle des Helfens entscheiden, ob sie dies mit oder ohne Auflagen tun. Tun sie es mit Auflagen, dann berührt dies die Entscheidungsfreiheit des Landes, dem man hilft – nicht aber dessen Souveränität. Denn das Land behält immer die Möglichkeit, die Hilfe und damit auch den Einfluss der Helfenden abzulehnen. So etwas nennt man gegenseitige Vertragsverpflichtungen, und noch kein Jurist ist auf die Idee gekommen, gegenseitige Vertragsverpflichtungen als Freiheitsentzug zu werten und von daher ausschließlich einseitige und bedingungslose Verpflichtungen – in diesem Falle zu finanziellen Hilfen – als vereinbar mit den Prinzipien von Souveränität und Demokratie zu sehen. Wir werden gleich näher darauf eingehen. Akzeptiert man dies jedenfalls, so besteht der ganze Rest aus ebenso einfacher wie zwingender Sachlogik vom Typ2. Die Typ1-Logiker schaffen es gleichwohl, bereits diese einfachen Gesetzmäßigkeiten so aufzumischen, dass der größte Teil ihrer Leser und offenbar auch sie selbst den Überblick verlieren.

Hierzu beklagen sie den angeblichen Souveränitätsverlust der Schuldnerländer, der darin bestünde, dass deren Souverän – das Parlament oder gar direkt das Volk – von den Finanzmarktgesetzen verdrängt werde, so dass als neuer Souverän die Finanzmarktlogik etabliert und damit das Ende der Demokratie eingeläutet sei. Mit diesem scheinbaren demokratietheoretischen Tiefgang sind die Typ1-Logiker zunächst einmal auf der moralisch sicheren Seite, weil sie in den ökonomischen Gesetzen die Aushöhlung demokratischer Grundprinzipien ausgemacht zu haben glauben. Das kommt immer gut an. Aber halb erzählte Geschichten bergen immer die Gefahr einer vordergründigen Überzeugungskraft, welche bei näherem Hinsehen implodiert, und so würden sich zumindest die neuzeitlichen Vordenker von Demokratie und Freiheit – etwa vom Schlage eines Montesquieu – gewiss im Grabe herumdrehen, würde man sie mit Typ1-Demokratietheorien konfrontieren. Die Tatsache, dass die Typ1-Logik und mehr noch die Leugnung jedweder Typ2-Logik auch und gerade unter denen nicht kleinzukriegen ist, die es besser wissen müssten, ist eines der Indizien für die zeitgenössische sozialwissenschaftlicher Armseligkeit in Kontinentaleuropa.

Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verstand man Souveränität völkerrechtlich als ein Recht des jeweiligen Herrschers und nicht als ein Recht seines Volkes. Dies wandelte sich rasch, und unter anderem darin manifestierte sich die Entwicklung der späteren westlichen Demokratien hin zu individueller Freiheit und Souveränität des Volkes. Dabei war den Vordenkern dieser Ideen klar, dass sowohl die individuelle Freiheit als auch die Souveränität des Volkes unauflöslich an die Übernahme der Verantwortung für privatautonome oder souveräne Entscheidungen geknüpft sind, und das aus guten Grunde: Wer nämlich für seine freie Entscheidung die Verantwortung nicht übernimmt, der greift notwendig in die Freiheit seines nächsten ein und zerstört diese im Zweifel. Das gilt mit gleicher Elle auch für souveräne Entscheidungen eines Volkes, ob im Wege direkter Demokratie oder über ein Parlament.

Das lässt sich unmittelbar an einem Beispiel ersehen: Angenommen, ein freier Bürger geriete in Not und sei im Rahmen privatautonomer Entscheidung und Verantwortung nicht mehr in der Lage, seine materiellen Grundlagen zu sichern. Dann wird unmittelbar die Frage aktuell, unter welchen Bedingungen ihm Hilfe zuteilwerden kann. Sollte per Mehrheitsbeschluss oder auf dessen Basis für eine Hilfe seitens der Gemeinschaft optiert werden, so greift diese notwendig in die autonomen Freiheitsrechte dritter ein, derjenigen nämlich, die hierzu die nötigen Steuer- oder Beitragsmittel aufzubringen haben. Es ist unter solchen Bedingungen üblich, die Hilfe an Bedingungen zu knüpfen. So werden einem gesunden Arbeitslosen mittleren Alters regelmäßig Bemühungen um einen Arbeitsplatz abverlangt, und es werden bei fehlenden Bemühungen die zugesagten Hilfen ganz oder teilweise infrage gestellt. Solche Bedingungen werden üblicherweise als ein Gebot der Verantwortung denjenigen gegenüber gesehen, die im Wege von Zwangsabgaben und im Einzelfall womöglich gar gegen deren ausdrücklichen Willen zur Hilfeleistung für den Bedürftigen herangezogen werden.

Hierin sollte die Zweischneidigkeit des Problems unmittelbar deutlich werden: Gibt es bedingungslose Hilfe, so gesteht man dem Hilfebedürftigen die Freiheit zu, über das Nettoeinkommen derjenigen zur verfügen, welche die Hilfe leisten müssen. Damit erhält er aber nicht nur mehr Freiheiten als andere, sondern es werden die Freiheitsrechte der anderen damit auch unmittelbar beschnitten. Um dies zu verhindern, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man gewährt Hilfen und knüpft diese an Bedingungen oder man überlässt den Hilfebedürftigen strikt seiner persönlichen Selbstverantwortung, gewährt also keine Hilfe. Es ist heute eine ethische Grundlage unserer modernen Sozialstaaten (und auch des Verfassers dieses Kommentars), dass man bedürftigen Personen Hilfe anbietet, aber dieses Hilfsangebot wird fast immer an bestimmte Bedingungen geknüpft. Man beachte, dass die Betroffenen selbst immer und jederzeit das Recht haben, ein Hilfspaket anzunehmen oder abzulehnen. So betrachtet, werden ihnen keine Freiheitsrechte genommen, sondern man bietet ihnen einen Hilfsvertrag, dem gegenseitige Verpflichtungen zugrunde liegen.

Was für die individuelle Freiheit gilt, ist (in diesem Falle) nahtlos auf die Freiheit eines Volkes als Souverän übertragbar. Frank Schirrmacher ist selbstverständlich zuzustimmen, wenn er diese Souveränität eines Volkes über den Haushalt eines Staates als unantastbar im Rahmen einer Demokratie wertet. Auch ist seine Klage verständlich, dass der griechische Staat in die schwer erträgliche Lage geraten ist, sich von seinen Gläubigern und von den EU-Institutionen Vorschriften über Haushaltsfragen machen lassen zu müssen, über die normalerweise allein der griechische Souverän zu bestimmen hat. Die Frage ist aber, ob durch bedingte Hilfspakete die Souveränität beschnitten wird. Und hier liegt er grundfalsch, wenn er behauptet, dass den an Griechenland gestellten Bedingungen eine neue (totalitäre) Diktatur des Ökonomischen zugrunde liege, und mehr noch, dass die Diktatur auf einer Ideologie beruhe, der Finanzmarktideologie nämlich.

Denn die Dinge liegen auf der Hand: Niemand zwingt Griechenland dazu, seinen Haushalt so zu gestalten, wie es Gläubiger und EU-Institutionen verlangen. Kein Panzer rückt in Griechenland ein und kein EU-Kommissar reist nach Athen, um die staatliche Gewalt an sich zu reißen. Die von Schirrmacher und so vielen anderen wieder und wieder bemühten Vergleiche dieser Art sind insofern intellektuell ebenso unredlich wie es unredlich ist, die mit der Leistung an einen Arbeitslosen verbundene Bedingung einer baldmöglichen Arbeitsaufnahme als Einweisung in die Zwangsarbeit zu bezeichnen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass damit eine Entscheidung in einer Zwangslage verlangt wird, die Entscheidung nämlich, Hilfe und Bedingungen zu akzeptieren oder beides abzulehnen; und dies gilt ganz besonders für den Fall Griechenlands. Denn erstens sind die nunmehr zur Hilfe herangezogenen Steuerzahler die letzten, die das Problem verursacht hätten, und zweitens gibt es keinen Anlass für sie, die Zwangslage Griechenlands in irgendeiner Weise ausbeuten zu wollen. Die Bedingtheit der Hilfe folgt vielmehr der Einsicht in ökonomische Gesetze vom Typ2 und der darin enthaltenen Gefahr, dass Europa ohne die Bedingtheit der Hilfe in eine dramatische ökonomische Krise geraten könnte.

Fakt ist nämlich: Eine Reihe griechischer Politiker hat das Land in der Vergangenheit mutwillig in eine Verschuldungssituation manövriert, und diese Politiker haben die Regeln der Euro-Gemeinschaft im Namen und – wenn man so will – auf Rechnung Griechenlands nachhaltig und sogar mit Mitteln des vorsätzlichen Betrugs gebrochen. Nun, da dies alles geschehen ist, bedarf Griechenland der Hilfe. Der Maastrichter Vertrag hatte solche Hilfen mit der No-bail-out-Klausel des Artikel 125 AEUV eigentlich ausdrücklich verboten. Damit hatten die Maastrichter Vertragsparteien damals – gerade auch aus demokratietheoretischer Sicht – in weitsichtiger Weise die Voraussetzung für eine unbeschränkte nationalstaatliche Handlungsfreiheit geschaffen, und die lautet: Eigenverantwortung der souveränen Mitgliedstaaten. Nicht gar so weitsichtig waren sie allerdings in ihrem Glauben, dass sich irgendjemand an diese Klausel halten würde. Das war ein Kardinalfehler, der absehbar war, weil es von Beginn an keine Antwort auf die Frage gab, was geschehen würde, sollte ein Land in die Zahlungsunfähigkeit geraten.

Auf diesen Kardinalfehler hinzuweisen, wäre gerade aus demokratietheoretischer Sicht geboten gewesen, denn es hätte klar sein müssen, dass die institutionellen Strukturen der EU für diesen Fall unter Wahrung des Demokratiegebots nicht gerüstet waren. Daher fiel die No-bail-out-Klausel am Ende, was ein weiterer, in diesem Falle kollektiver Vertragsbruch war, und nun hat keiner eine überzeugende Antwort auf die Frage, wie man finanzpolitische Kontrolle mit staatlicher Souveränität institutionell miteinander verknüpfen soll, ohne die EU zu einem Bundesstaat zu machen, weil letzteres auf absehbare Zeit nicht denkbar ist. Vor dem Hintergrund der zentralen Bedeutung dieses Problems ist es überaus erstaunlich, dass niemand derjenigen, die heute laut die Unterwerfung Griechenlands unter eine diffuse Finanzmarktideologie beklagen, je die Einhaltung der No-bail-out-Klausel und damit die im AEUV festgelegte Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten eingefordert hat. Weiterhin ist es erstaunlich, dass offenbar ebenfalls niemand von ihnen die demokratietheoretische Brisanz dieser ganzen Problematik erkannt hat – thematisiert hat sie jedenfalls keiner von ihnen.

Nun, da man Hilfe an Griechenland als alternativlos sieht, kann es – und zwar gerade aus demokratietheoretischer Sicht – gar nicht anders sein, als dass diese Hilfe an Bedingungen geknüpft wird. Denn die Hilfe selbst greift schon in bedenklicher Weise in die Souveränität der helfenden Staaten und deren Bürger ein. Wem das zu akademisch klingt, der möge sich allein die hohen zweistelligen Milliardenbeträge vorstellen, für die die Einwohner eines Staates wie Deutschland allein für Griechenland bürgen müssen, ohne dass man sie dazu je befragt hätte (Wieso hält Schirrmacher eigentlich eine Volksabstimmung in einem Hilfe nehmenden Land für ein Gebot der Demokratie, nicht aber eine Volksabstimmung in den Hilfe leistenden Ländern?). Um wie viel bedenklicher wäre es da, wenn solche Hilfe im Namen der Souveränität des Empfängerlandes bedingungslos erfolgte und dem Empfängerland damit ein nicht zu verantwortender und überaus weitreichender Zugriff auf die souveränen Haushaltsrechte der Hilfe gebenden Staaten und zugleich in die privatautonomen Verfügungsrechte seiner Bürger über ihre Einkommen und Vermögen zugestanden würde?

Deshalb wäre es in der Tat die sauberste Lösung gewesen, wenn alle Länder sich an die Vereinbarungen des Maastrichter Vertrags und den darauf aufbauenden Stabilitätspakt gehalten hätten und wenn sie die Typ2-Logik der Staatsverschuldung ebenso berücksichtigt hätten wie Flugzeugbauingenieure die Gesetze der Physik selbstverständlich beachten. Dann hätte es nämlich erst gar keine überbordende Staatsverschuldung gegeben. Die Klagen über die „verrücktspielenden“ Finanzmärkte sind im Falle der aktuellen Verschuldungskrise irgendwo zwischen sachunkundig und verlogen einzustufen, auch wenn solche Klagen in anderen Zusammenhängen durchaus manchmal berechtigt sind (so zum Teil bei der Subprime-Krise). Man muss sich hierzu nur einmal vorstellen, dass alle europäischen Länder unter oder in der Nähe der vereinbarten Staatsschuldengrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geblieben wären (dazu hatten sie seit Abschluss des Maastrichter Vertrages annähernd zwei Jahrzehnte lang Zeit!). Kein Finanzmarkt könnte je so „verrücktspielen“, dass ein spekulativer Angriff auf eines der derart finanzierten Staatsbudgets hätte erfolgen können. Man sieht es demnach offenbar als „verrücktspielen“ an, wenn die Finanzmärkte auf eine hemmungslose Verschuldung mit Krankheitssymptomen reagieren und damit der Verantwortungslosigkeit Grenzen ziehen, so wie es die Gesetze der Physik einem Flugzeug verbieten, ohne Tragflächen zu starten. Damit steht dann die analoge Frage im Raum, ob die physikalischen Gesetze auch „verrücktspielen“, wo man doch demokratisch beschlossen hat, das Flugzeug ohne Tragflächen fliegen zu lassen?

In Wahrheit hat das alles mit der „Ideologie der Finanzmarktlogik“ rein gar nichts zu tun. Denn selbst wenn ökonomische Gesetze ausschließlich als Typ1-Gesetze verstanden würden und wenn man die Bedingtheit zwischenstaatlicher finanzieller Hilfe als solche Typ1-Gesetze sähe, so diente diese Bedingtheit insoweit nicht der Aushöhlung von Freiheit, Demokratie und Volkssouveränität, sondern gerade im Gegenteil ihrer Sicherung, weil sie die Souveränität der Hilfeleistenden vor dem bedingungslosen Zugriff der Hilfeempfänger schützte. Akzeptiert man weiterhin, dass ökonomische Gesetze vom Typ2 ebenfalls existieren, so ist es geradezu absurd, wenn man sich weigert, eine Politik zu verfolgen, welche sich im Rahmen dieser Gesetze bewegt und nicht versucht, sich ihrer zu entziehen. Der Versuch, sich außerhalb der Gravitationsgesetze zu bewegen, hat schon manches Menschenleben gekostet, wie wir wissen. Kaum zu vermitteln ist aber, dass der Versuch, ökonomische Gesetze zu ignorieren, wahrscheinlich viel mehr Menschenleben gekostet hat als der Versuch, physikalische Gesetze zu ignorieren. Dafür zur Rechenschaft gezogen worden ist noch kaum einer der Anti-Ökonomie-Logiker. Das liegt offenbar daran, dass sie selbst sich konsequent als die besseren Menschen verstehen und dass sie dies mit vordergründiger Scheinlogik auch immer wieder populär zu machen schaffen. Das macht die Sache aber nicht besser.

 

Thomas Apolte
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