Als mit dem Schwarzen Freitag im September 1929 der von billiger Liquidität beflügelte Boom auf den US-Aktienmärken ein jähes Ende fand, reagierte die Federal Reserve Bank mit Zinssenkungen, die im Verlauf der ersten Hälfte der 1930er Jahre noch zögerlich verliefen. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurde aber ein historisches Leitzinstief von 1% erreicht, das bis zum Kriegsende bestehen blieb. Die Leitzinssenkungen der großen Zentralbanken allein konnten aber nicht die Wende zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Erholung bringen. Dies beflügelte die wissenschaftlichen Arbeiten von John Maynard Keynes. Hatte bisher die klassische Maxime der Selbstheilungskräfte des Marktes gegolten, wies Keynes der kreditfinanzierten staatlichen Ausgabenexpansion eine zentrale Rolle für die wirtschaftliche Belebung in der „Liquiditätsfalle“ zu.
In der keynesianischen Liquiditätsfalle ist der Zins soweit gesunken, dass die Wirtschaftssubjekte ihre Ersparnis nicht mehr in Form von Wertpapieren halten, wodurch die Ersparnisse den Unternehmen für Investitionen nicht mehr zur Verfügung stehen. Stattdessen werden sie aus zwei Gründen in der Spekulationskasse gehalten: Erstens sind die Opportunitätskosten der Kassenhaltung gering. Zweitens wird ein Anstieg des Zinsniveaus erwartet, was eine Bindung der Ersparnisse in langfristigere Anlageformen behindert.
In den später formalisierten keynesianischen Modellen verläuft die LM-Kurve (alle Kombinationen von Zins und Output, bei denen der Geldmarkt im Gleichgewicht ist) nahe an und parallel zur x-Achse. Eine geldpolitische Expansion bleibt ohne positive Wirkung auf den Output, da der nominale (und bei als konstant angenommenem Preisniveau auch der reale) Zins unverändert bleibt.[1] In dieser Situation ist eine Ausweitung der Staatsausgaben in Form einer Rechtsverschiebung der IS-Kurve (der Ort aller Kombinationen von Zins und Output, bei denen der Gütermarkt im Gleichgewicht ist) sehr wirksam, weil ein Zinsanstieg und damit Crowding Out-Effekte ausbleiben.
Nachdem im Verlauf der jüngsten Krisen die Leitzinsen in allen wichtigen Industrieländern gegen Null gesunken sind, sprechen viele Beobachter von einer Liquiditätsfalle (z. B. Krugman 2012, Almunia et al. 2010). Die Geldmarktzinsen verharren bei nahe Null (in Japan schon seit 13 Jahren). Ein Anheben der Leitzinsen durch die Zentralbanken wird nicht erwartet. Die optimale wirtschaftspolitische Strategie aus der Krise wäre gemäß der keynesianischen Theorie eine Ausweitung der Staatsausgaben. Stattdessen beobachten wir eine Verlagerung des Krisemanagements hin zu einer noch expansiveren Geldpolitik in Form von unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen.
Der Grund ist, dass zwischen der Situation heute und der keynesianischen Liquiditätsfalle drei wesentliche Unterschiede bestehen. Erstens ist kein deutlicher Anstieg der Kassenhaltung in Form von Bargeldhaltung der Haushalte zu beobachten. Vielmehr landet die von der Zentralbank durch den Ankauf von risikoreichen Wertpapieren emittierte Liquidität wieder als Einlagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank. De facto verlässt das Geld die Zentralbank nicht und steht somit nicht für Investitionen zur Verfügung. Im Modell verschiebt sich die LM-Kurve nach rechts und dann wieder zurück nach links.[2]
Zweitens ist eine Ausweitung der Staatsausgaben nur sehr bedingt möglich, weil im Gegensatz zu den USA in den 1930er Jahren in vielen Ländern die öffentlichen Schuldenstände bereits so hoch liegen, dass schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme die Risikoprämien auf Staatsanleihen nach oben treiben würden. Es käme im Gegensatz zu den Annahmen der keynesianischen Theorie zu einem Zinsanstieg, der nur bedingt aus steigender Nachfrage am Kapitalmarkt, sondern aus höherem Ausfallrisiko resultiert. Drittens, die Persistenz des Nullzinses resultiert nicht aus den Zinsanstiegserwartungen der privaten Wirtschaftssubjekte. Vielmehr aus der Tatsache, dass die Zentralbanken aktiv durch unkonventionelle geldpolitische Maßnahmen den Zins am kurzen und am langen Ende[3] „gewaltsam“ niedrig halten (finanzielle Repression).
Wir befinden uns deshalb nicht in einer keynesianischen Liquiditätsfalle im strengen Sinne, sondern in einer Nullzinsfalle (Schnabl 2012; Giavazzi und Giovannini, 2010): Die Zentralbanken können die Zinsen nicht erhöhen, weil dies die Finanzsektoren und die öffentlichen Haushalte destabilisieren würde. Die Nullzinsfalle kann als Ergebnis einer auf Dauer asymmetrischen keynesianischen Fiskalpolitik gesehen werden wie sie von Keynes nicht intendiert war. Bleibt nach keynesianischen Ausgabenprogrammen in der Rezession die Konsolidierung der Staatshaushalts im Aufschwung nach der Krise aus, dann kommt es zum graduellen Anstieg der Staatsverschuldung. Je höher das Niveau der Staatsverschuldung liegt, desto höher ist der öffentliche Druck auf die Zentralbanken den Leitzins niedrig zu halten, um den Zinsdienst sowie die Rekapitalisierungskosten bei wachsender Finanzmarktinstabilität für die öffentlichen Haushalte erträglich zu halten.
– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –
Der Ausdruck „Falle“ ist sehr treffend, da einerseits strukturell asymmetrische Leitzinssenkungen (wie sie seit Beginn der 80er zu beobachten sind) einen Anreiz zu steigender Staatsverschuldung gegeben haben (weil sie ceteris paribus die Zinslasten der Verschuldung reduzierten). Andererseits führt steigende Staatsverschuldung zu Druck auf die Zentralbanken, den Zins tief zu lassen. Es kommt zu einer „Hysterese“: Ein einmal erreichtes niedriges Niveau bei Leitzinsen bleibt bestehen.
Die Abbildung zeigt den Weg der großen Industrieländer in die Nullzinsfalle. Weil im Verlauf der letzten Jahrzehnte die Leitzinsen in den großen Industrieländern graduell gegen Null abgesunken sind, konnte die Staatsverschuldung stetig angestiegen, ohne dass sich die Zinslasten (gemessen als Anteil an den öffentlichen Ausgaben) erhöht haben. Je höher das Niveau der Staatsverschuldung, desto größer ist der politische Druck auf die Zentralbanken den Leitzins nahe Null zu belassen und durch unkonventionelle Maßnahmen den Zins am langen Ende weiter zu drücken.
Inzwischen dürfte in vielen Ländern ein Anheben der Leitzinsen als Weg aus der Nullzinsfalle nicht mehr möglich sein, da dies zu unkontrollierbaren Ansteckungseffekten unter fragilen Finanzinstituten und überschuldeten Staaten führen würde. Doch damit ist auch die Allokationsfunktion des Zinses ausgesetzt, die leistungsfähige von spekulativen Investitionen trennt. Es kommt nicht mehr zur Bereinigung von strukturellen Verzerrungen, die sich während Niedrigphasen gebildet haben. Dies lähmt die Wachstumsdynamik. Keynes’ Grundannahme, dass fiskalische Expansion eine nachhaltigen Weg aus der Liquiditätsfalle sichern kann, ist deshalb nicht erfüllt. Dies erklärt, warum sich das Krisenmanagement zurück auf die Zentralbanken verlagert hat.
Anmerkungen
Ich danke Raphael Fischer, Kristina Spantig, Björn Urbansky und Uwe Vollmer für sehr hilfreiche Anmerkungen und wissenschaftliche Unterstützung.
Literatur:
Almunia, Miguel / Bénétrix, Agustin / Eichengreen, Barry / O’Rourke, Kevin / Rua, Gisela (2010): From Great Depression to Great Credit Crisis: Similarities, Differences and Lessons. Economic Policy 25, 219–265
Giavazzi, Francesco / Giovannini, Alberto (2010): Central banks and the Financial System. NBER Working Paper 16228.
Keynes, John Maynard (1936): The General Theory of Employment, Interest, and Money. MacMilliam Cambridge University Press.
Krugman, Paul (2012): End This Depression Now. New York and London, W. W. Norton & Company
Schnabl, Gunther (2012): Monetary Policy Reform in a World of Central Banks. Working Papers on Global Financial Markets 26.
Fußnoten
[1]Keynes selbst sagte vergleichsweise wenig zur Rolle der Geldpolitik in der Krise. Er ging aber davon aus, dass sie in Reaktion auf die Krise die Zinsen schnell zu senken und die Geldpolitik daraufhin expansiv bleiben sollte (Keynes 1936: 173).
[2]Alternativ können die Einlagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank als Spekulationskasse der Geschäftsbanken betrachtet werden.
[3]Durch das Absenken der langfristigen Zinsen werden die zukünftigen Zinserwartungen gesenkt, die für langfristige Investitionsentscheidungen von Bedeutung sind.
Eine Antwort auf „Liquiditäts- oder Nullzinsfalle?“