Die gesetzlichen Grundlagen des deutschen Finanzausgleichs, das Maßstäbegesetz und das Finanzausgleichsgesetz, treten zum 31. Dezember 2019 automatisch außer Kraft. Bund und Länder sind also gezwungen, sich rechtzeitig darüber zu verständigen, wie ihre Finanzbeziehungen jenseits der im Grundgesetz festgelegten Grundlinien ab dem Jahr 2020 im Detail geregelt werden sollen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes verpflichtet den Gesetzgeber außerdem, zumindest die im Maßstäbegesetz festgehaltenen Grundsätze frühzeitig festzulegen. Die Länder sollen diese Grundsätze möglichst hinter einem Schleier der Unsicherheit festlegen, also nach allgemeinen Fairneßerwägungen und ohne genau absehen zu können, welches Land in welchem Umfang profitieren oder zur Kasse gebeten wird.
Die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern werden also bald wieder auf der aktuellen Agenda stehen. Sollten sich Hessen und Bayern mit ihrer Klage gegen das aktuelle System durchsetzen, dann könnte es sogar noch schneller gehen. Daher ist es nicht erstaunlich, daß die politischen Lager langsam beginnen, sich mit Vorschlägen für eine Neugestaltung des Finanzausgleichs zu positionieren. Den Anfang machten kürzlich die Sozialdemokraten mit einem von Hans Eichel und Ko-Autoren bei der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) publizierten Strategiepapier.
Eckpunkte des FES-Vorschlags
Zunächst beklagt das FES-Papier, daß der aktuelle Finanzausgleich keine Angleichung in der Wirtschaftskraft der einzelnen Bundesländer herbeigeführt hat, sondern daß im Gegenteil die Disparitäten zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Regionen noch zugenommen haben. Dieser Feststellung kann man im Großen und Ganzen zustimmen. Dagegen sind die Schlußfolgerungen, die Eichel und Ko-Autoren aus diesem Umstand ziehen höchst fragwürdig. Sie sehen nämlich gerade nicht die Anreizprobleme, die durch das Transfersystem selbst geschaffen werden. Insbesondere sehen sie nicht, wie eine hohe Abschöpfungsquote zusätzlicher Steuereinnahmen und der hohe Nivellierungsgrad der Finanzausstattung der Länder dramatisch die Anreize reduzieren, politisch kurzfristig oft unpopuläre Maßnahmen zur Beförderung der regionalen Wirtschaftsentwicklung durchzuführen. Der eigene finanzpolitische Spielraum hängt schließlich am Ende nur in relativ geringem Umfang davon ab, ob man seine eigenen Steuerbemessungsgrundlagen entwickelt oder nicht.
Aufgrund dieser blinden Flecken fordern die Autoren des FES-Papiers nun keine stärkere Autonomie der dezentralen Finanzpolitik, sondern das Gegenteil: eine starke Vertikalisierung und Hierarchisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Auf der Bundesebene sollen Bundestag und Bundesrat definieren, welche finanzielle Grundausstattung eine Gebietskörperschaft benötigt, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. Diese Mindestausstattung wird dann garantiert, und durch vertikale Transfers an das jeweilige Bundesland sicher gestellt. Darüber hinaus sieht das FES-Papier vom Bund geförderte regionale Investitionsprogramme vor, die dann auch zu evaluieren sind. Insbesondere soll der Bund nach dem Vorbild der Exzellenzinitiative für Hochschulen Wettbewerbe auch in anderen Politikbereichen ausschreiben, in denen sich dann die Länder um zentrale Fördermittel bewerben können.
Mit dieser Vertikalisierung widerspricht sich das Papier in Teilen selbst. Auf der anderen Seite wird nämlich gefordert, die Kommunen von den Lasten der beim Bund beschlossenen sozialpolitischen Maßnahmen zu befreien. Das wäre in der Tat ein begrüßenswerter Schritt, da es grundsätzlich sinnvoll ist, wenn politische Entscheidungsmacht und finanzielle Verantwortung in eins fallen, wenn also der Bund nicht auf Kosten der Kommunen sozialpolitische Wohltaten verteilen kann. Anstatt dieses Prinzip der eindeutigen Zuteilung politischer Verantwortung und der Entflechtung verwobener Verantwortlichkeiten beizubehalten, erreichen die Autoren mit ihrer Idee der Vertikalisierung aber wieder das genaue Gegenteil: Alle bundesstaatlichen Ebenen sind ein wenig verantwortlich, und wo alle verantwortlich sind, ist es am Ende keiner.
Föderalismus ohne dezentrale Autonomie?
Das FES-Papier gewährt Einblicke in das recht eigenwillige Verständnis, das seine Autoren von fiskalischem Föderalismus haben. Dies fängt an mit der Vorstellung eines nach bundeseinheitlichen Kriterien zu ermittelnden Finanzbedarfs der Länder und Kommunen. An dieser Vorstellung krankt zwar bereits das aktuelle System, aber das macht es nicht besser. Es ist geradezu die Existenzberechtigung föderaler Systeme, daß sie die regionale Differenzierung der Politik ermöglichen. Dies betrifft selbstverständlich nicht nur die Art, sondern auch den Umfang von Ausgaben und damit natürlich auch den regionalen Finanzbedarf. Man darf erwarten, daß ein unterschiedlicher Finanzbedarf dabei nicht nur von objektiven, etwa demographischen Kriterien bestimmt wird, sondern auch von unterschiedlichen regionalen Präferenzen. Letztere kommen in der Vorstellungswelt des FES-Papiers aber überhaupt nicht vor; hier braucht jeder Deutsche die gleiche öffentliche Versorgung, egal ob er auf Rügen oder am Königssee wohnt, und egal ob er will oder nicht.
Zu diesem Verständnis von Föderalismus paßt es, wenn föderaler Wettbewerb nicht als natürliches Ergebnis einer starken dezentralen Autonomie gesehen wird, sondern als Turnier um Fördergelder, das vom Bund organisiert werden muß. Die Autoren des FES-Papiers trauen den Ländern nicht über den Weg. Das ist einerseits verständlich, wenn man bedenkt, daß viele Nehmerländer in den vergangenen Jahrzehnten die empfangenen Ausgleichsmittel nicht unbedingt klug zur Förderung des langfristigen Wachstums in ihren Regionen eingesetzt haben. Andererseits aber ist es erstaunlich, daß eine Lösung des zugrunde liegenden Anreizproblems durch stärkere dezentrale Autonomie und Eigenverantwortung nicht einmal in Erwägung gezogen wird. Statt dessen wird auf noch mehr Vereinheitlichung, Standardisierung und hierarchische Kontrolle durch den Bund gesetzt.
Der Wettbewerb, den das FES-Papier postuliert, ist kein offener Wettbewerb, in dem dezentrale Gebietskörperschaften frei mit neuen politischen Lösungen experimentieren und auch eigene politische Ziele verfolgen könnten. Im Denken von Eichel und Ko-Autoren weiß der Bund eigentlich schon alles. Man muß ihm nur die Möglichkeit geben, über vertikale Transfers die Landesregierungen dazu zu bringen, das Richtige zu tun. Landespolitiker finden sich in der Rolle von Ausführungsorganen wieder, die man mit der Aussicht auf eine fiskalische Belohnung zum gewünschten Verhalten lenken kann. Es stellt sich die Frage, ob man in einem derartigen System eigentlich noch eine Gewaltenteilung auf der Landesebene benötigen würde. Landesparlamente erscheinen in einem Modell, in dem Ländern ihre freien Entscheidungsspielräume noch stärker streitig gemacht wird als ohnehin schon, jedenfalls weitgehend überflüssig. Es wäre eine Überraschung, wenn sich ein Landespolitiker mit Selbstachtung fände, der sich mit dieser Stoßrichtung des FES-Papiers anfreunden kann.
Überspitzt gesagt: Das heimliche Leitbild des FES-Papiers ist eher Frankreich als die Schweiz, und das ist angesichts der Erfahrungen beider Länder doch erstaunlich. Es bleibt rätselhaft, wie die Autoren des FES-Papiers zu der Schlußfolgerung kommen, ihr Modell stärke „die demokratische Teilhabe vor Ort“. Denn genau das Gegenteil ist der Fall. Politische Zielvorgaben werden bundeseinheitlich in Berlin definiert. Der Wettbewerb, wenn man ihn denn noch so nennen will, beschränkt sich auf die Wahl der Mittel. Damit wird, neben dem politischen Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, aber auch ein zweites wichtiges Merkmal föderaler Ordnungen getilgt. Der vertikalisierte Föderalismus Eichelscher Prägung kann nicht mehr als Mechanismus zur Kontrolle politischer Macht dienen. Die Abwanderungsoption des einzelnen Bürgers wird wertlos, wenn ohnehin überall die gleichen politischen Ziele verfolgt werden.
Fazit
Das FES-Papier stellt einen kuriosen Versuch dar, ein föderales System mit einer möglichst perfektionierten zentralen Steuerung zu verbinden. Aber beides ist nicht miteinander vereinbar. Die Verwirklichung der Vorschläge des ehemaligen Finanzministers und seiner Mitstreiter würde de facto einen bedeutenden Schritt in Richtung eines zentralisierten Einheitsstaates bedeuten, selbst wenn man formal eine – dann völlig entkernte – föderale Hülle beibehielte.
Der Vorschlag ist zugleich ein Beispiel für eine den Wettbewerb sukzessive immer weiter aushebelnde Interventionsspirale. Bereits im aktuellen System tritt an die Stelle echter fiskalische Autonomie ein relativ willkürlich gewähltes Verteilungsziel. Die Beobachtung, daß die Ausgleichszahlungen im bisherigen Finanzausgleich einen Mezzogiorno-Effekt in manchen Regionen nicht verhindern führt dann zum nächsten Schritt: Die zentrale Ebene soll stärkere Instrumente erhalten, die es ihr erlauben, in den Ländern Ausgaben durchzusetzen, die die zentrale Ebene für sinnvoll hält.
Ausgehend von den Problemen des aktuellen Finanzausgleichs bestünde die sinnvollere Alternative natürlich darin, die dezentrale Autonomie nicht weiter zu schwächen, sondern wesentlich zu stärken. Es wäre wichtig, den Bund-Länder-Finanzausgleich so zu gestalten, daß er mit echter Steuerautonomie der Länder vereinbar wird. Dann entstehen die Anreize gegen eine leichtfertige Verschwendung von Mitteln durch Landesregierungen ganz von selbst. Wie das zu erreichen wäre? Dazu in Kürze mehr an dieser Stelle.
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