Sezession und individuelle Freiheit
Anmerkungen zu einem Beitrag von Roland Vaubel

„Sezession ist eine Form der politischen Dezentralisierung. Sie stärkt den wirtschaftspolitischen Wettbewerb und dadurch die wirtschaftliche Freiheit.“ (Roland Vaubel am 15. Oktober 2014 im Ordnungspolitischen Journal)

Dezentralisierung innerhalb einer föderalen Verfassung ist eine in gleich mehrfacher Hinsicht segensreiche Einrichtung: Sie erhöht die Verantwortlichkeit der Politik, sie erlaubt es, regional differenzierten Präferenzen und Anforderungen an die Politik in entsprechend differenzierter Weise Rechnung zu tragen, und sie diszipliniert Politiker, welche sich von den Bedürfnissen der Bürger abkoppeln, indem sie Paläste statt öffentliche Güter bereitstellen. Kurz: Dezentralisierung innerhalb einer föderalen Verfassung ist ein wirksames Instrument zur Verbesserung von Politik sowie zum Schutz von Freiheit und individueller Selbstbestimmung.

Dies alles gilt allerdings nur, wenn Dezentralisierung innerhalb einer bestehenden Verfassung stattfindet. Etwas ganz anderes ist es, wenn eine Region den Rahmen der bisher für sie gültigen Verfassung verlässt – wenn es also zu einer Sezession kommt. Eine Sezession entfaltet fundamental andere Wirkungen, und daher geht die Übertragung der föderalen Dezentralisierungslogik auf Sezessionen schon im Grundsatz fehl. Umso mehr erstaunt, dass die Effekte intraföderaler Dezentralisierung von einer Reihe von Ökonomen – allen voran von Roland Vaubel – nicht mehr von jenen der Sezession unterschieden werden, seit ihnen der Nobelpreisträger James Buchanan in den 1990er Jahren den Floh von der freiheitsstiftenden Wirkung der Sezession ins Ohr gesetzt hatte. Es bleibt aber ein Irrtum, auf diese Unterscheidung verzichten zu können, und dieser Irrtum kann fatale Folgen gerade für das haben, um was es unter anderem Roland Vaubel in allererster Linie geht: um die individuelle Freiheit nämlich.

Der Grund wird ersichtlich, wenn wir die unterlassene Unterscheidung an den klassischen Ansätzen der vertragstheoretischen Verfassungslehre messen, aus der heraus die meisten Sezessionsbefürworter argumentieren – unter ihnen erneut Roland Vaubel. Folgt man dieser Lehre, so beruht eine föderale Verfassung auf einem mehrstufigen Vertrag aller Bürger eines Landes untereinander. Dieser Vertrag enthält zunächst einmal bestimmte Vereinbarungen darüber, auf welche Handlungsoptionen jeder einzelne Bürger im gegenseitigen Interesse aller Bürger verzichtet. Hierzu gehören an oberster Stelle Optionen wie Mord, Raub, Folter, Diebstahl, Erpressung oder kollektive Gewaltanwendung, und zwar aus persönlichen ebenso wie aus politischen Motiven heraus. Diese Verzichtsregeln sind immer auf der zentralen Ebene geregelt, und sie binden damit private wie politische Akteure von der zentralen Ebene der Föderation bis in die letzte kommunalpolitische Verästelung.

Das ist wichtig, denn erst an diesen überall in der Föderation gleichermaßen geltenden Regeln können – teils zentrale und teils dezentral differenzierte – Regeln des gewaltfreien persönlichen Miteinanders anknüpfen; diese sind dann die Grundlage für persönliche Vereinbarungen, formelle Verträge und Märkte, aber auch zivilgerichtliche Auseinandersetzungen und vieles mehr. In analoger Weise können erst aus den Gewaltverzichtsregeln Vereinbarungen über das politische Miteinander folgen, und zwar im Rahmen horizontal wie vertikal differenzierter politischer Kompetenzen sowie von Wahlregeln und vielen anderen Details des föderalen Regelsystems. Wichtig dabei ist, dass die einzelnen Elemente des Verfassungsvertrages aus unterschiedlichen Elementen auf den jeweiligen Ebenen bestehen, welche in komplexer Weise ineinandergreifen und sich insoweit gegenseitig bedingen. In diesem Sinne sind gerade jene Verfassungselemente, welche das politische Handeln der dezentralen Gebietskörperschaften regeln, nicht für sich allein existenzfähig. Sie im Falle einer Sezession einfach mitzunehmen und zur Verfassung eines neuen Staates machen zu wollen, wäre also weder möglich, noch wäre es ohne weiteres legitim. Wer wissen will, zu welch skurrilen Ergebnissen es führt, wenn man es doch tut, der kann dies am Beispiel der jüngsten „Wahlen“ auf der Krim oder im Donezbecken besichtigen.

Für den Moment können wir jedenfalls festhalten, dass es ein zentrales (sorry: ein entscheidendes) Element im Rahmen eines Verfassungsvertrages gibt, welches für alles, was nachfolgt, im engsten Sinne konstituierend ist: dass nämlich auf die Gewaltoption verzichtet wird. Militärische und polizeiliche Gewalt muss über die gesamte Föderation hinaus allein dem Staat vorbehalten bleiben, egal auf welcher Ebene, und dieser muss in ihrer Anwendung an strikteste Regeln mit fein und intelligent austarierten checks and balances gebunden werden, um staatlichen Missbrauch zu vermeiden.

Bereits jetzt sollte klar sein: Es ist ein grundlegender Unterschied, ob es zu einer verstärkten Dezentralisierung im Rahmen einer Verfassung kommt ober ob der Wirkungsbereich einer Verfassung verlassen wird. Wenden wir uns den Folgen des letzteren zu. Zumindest Vertreter des methodologischen Individualismus wissen, dass Regionen wie Katalonien, Schottland, die Krim oder die Ostukraine keine Wesenseigenheit besitzen. Verzichtet man also auf jedwede hypostasierende Überhöhung, so wird deutlich, dass sie alle gleichermaßen nichts anderes als geographische Gebiete sind, innerhalb derer zumindest viele Zehntausende, wenn nicht Millionen von Individuen mit je eigenen Wünschen und Träumen leben. In jeder dieser Regionen werden die Einwohner in einem gewissen Maße über eine gemeinsame Sprache und Kultur miteinander verbunden sein, aber bei aller Verbundenheit gehört es doch zu den elementaren Einsichten liberaler Theorie, dass der freiwillige Charakter dieser Verbundenheit stets zu bewahren ist und niemals zum Zwang übertrieben werden darf. Man beachte: Es gibt nicht den leisesten Grund dafür, dass dieses Prinzip auf einer dezentralen Ebene von geringerer Bedeutung sei als auf einer zentralen. Denn hier wie dort gilt: Wird es verletzt, so ist es vorbei mit der Freiheit der Individuen. Sezessionsbefürworter glauben dennoch, dass das Prinzip auf dezentraler Ebene weniger bedeutsam sei, und sie begründen dies mit der Abwanderungsoption. Aber ohne übergeordnete Regeln ist bereits diese nicht garantiert, mit Folgen, die wir aus der deutschen Nachkriegsgeschichte kennen.

Halten wir auch das fest, so erwächst daraus sogleich die alles entscheidende Frage: Mit welcher Legitimation und in wessen Auftrag kann sich innerhalb eines geographischen Gebietes wie Katalonien, Schottland, der Krim oder welcher Region auch immer jemand im Namen der Freiheit gegen die Zugehörigkeit zu einer existierenden Jurisdiktion zur Wehr setzen? Auch wenn es so klingen mag: Das ist keine rhetorische Frage, denn es gibt keine eindeutige Antwort darauf. Umso mehr gilt aber: Jede auch nur leicht differenzierte Antwort auf diese schwierige Frage, jeder Verweis auf nur die kleinste Minderheit, auf irgendeine Gruppe innerhalb des betreffenden Gebietes, welche mit der Sezession nicht einverstanden ist oder nicht einverstanden sein könnte, setzt bereits die allgemeine Gültigkeit des eingangs zitierten Satzes von Roland Vaubel außer Kraft – und das ist keine akademische Spitzfindigkeit, sondern eine dringend erforderliche Differenzierung, deren Missachtung im Ergebnis Gewalt und Unterdrückung Tür und Tor öffnen wird, auch wenn sie aufrichtig im Namen von Freiheit und Selbstbestimmung geschah.

Der Grund liegt nun auf der Hand: Sezession ist ein Kollektivrecht und kein Individualrecht. Über Sezession wird immer kollektiv entschieden, und wir wissen, dass das mit vielerlei Unzulänglichkeiten verbunden ist. Vor allem aber wissen wir seit Kenneth Arrow, dass es so etwas wie einen kollektiven Willen nicht gibt, und wir wissen schließlich, dass die betreffenden Regionen eben keine Wesenseinheiten sind, sondern ein Gebiet, auf dem eine Vielzahl von Individuen lebt. Man wird mit der kollektiven Entscheidung über eine Sezession also immer die individuellen Rechte aller dieser Individuen berühren, und daher ist gerade mit einer derart weit in die persönlichen Rechte eingreifenden Kollektiventscheidung äußerst umsichtig umzugehen. Denn anders als eine Dezentralisierung innerhalb einer bestehenden Verfassung bewirkt eine Sezession die vollständige Aufkündigung eines bestehenden Verfassungsvertrages. Dazu gehören in allererster Linie alle Vereinbarungen, welche mit dem Verzicht auf die persönlichen und politischen Gewaltoptionen verbunden sind, also auf Raub, Mord, Diebstahl, spontane militärische Gewalt bis hin zu Lynchjustiz, kollektive Vergeltung, Landnahme und so vieles mehr, von dem die Geschichte der Menschheit so voll ist und wovon wir erst in der Neuzeit Zug um Zug einen Teil in einem Teil dieser Welt unter Kontrolle zu bringen vermochten. Mit der Kollektiventscheidung zur Sezession reißt man alle Individuen – ob sie zugestimmt hatten oder nicht – aus dem Schutz der Verfassung heraus. Kein persönliches Recht, kein Schutz vor Gewalt, kein Eigentumsrecht und eben auch keine Ausreisefreiheit, nichts ist dann mehr gesichert, weil diese Rechte schlicht nicht mehr existieren.

Um es in den Worten des vertragstheoretischen Pioniers Thomas Hobbes auszudrücken: Mit einer Sezession ist nicht weniger als der Rückfall in einen Zustand der Anarchie verbunden, und wenn Hobbes mit seinem düsteren Bild von der Überwindung der Anarchie durch einen alles unterwerfenden Leviathan sicher zu pessimistisch war, so gilt das umgekehrte keineswegs: Den Rückfall in die Anarchie kann man kaum zu düster malen. Um das zu erkennen, muss man sich in einem Gedankenexperiment einmal einen durchschnittlichen syrischen Familienvater vorstellen, der sich entscheiden dürfte zwischen dem Leben mit seiner Familie im derzeit dort tobenden Krieg und den sicherlich nicht idealen Verhältnissen davor. Die aktuellen Flüchtlingsströme geben uns hierauf eine ebenso eindrucksvolle wie bedrückende Antwort. Und sieht man sich die von Vaubel in seinem Beitrag aufgelisteten Sezessionen samt den daraus entstandenen Staaten genau an, so wird man in aller Regel erneut Geschichten von Gewalt und Folter, von Mord, Totschlag und Krieg finden.

Aus einer freiheitlichen Perspektive überhaupt nicht mehr nachzuvollziehen ist schließlich das Argument, dass alle diese Staaten ihre Existenz einer Sezession verdankten, und das gilt auch und gerade deshalb, weil das Argument mit einer so selbstverständlichen Leichtigkeit daherkommt. Am Ende, da hat Vaubel wohl Recht, am Ende aller Gewalt und aller Kriege steht heute jene staatliche Struktur, wie wir sie aktuell vorfinden. Aber was sagt uns das? Es sagt nicht mehr als dass die staatliche Gebietsverteilung, so wie sie heute existiert, so ist wie sie ist. Hätte es die zitierten Sezessionen nicht gegeben, dann wäre Wallonien heute möglicherweise nicht Teil Belgiens. Vielleicht gäbe es Belgien auch nicht. Aber was ist daran bedeutsam, wenn allein die Freiheit für Vaubel das leitende Kriterium ist? Nichts ist daran bedeutsam, denn es ist für das Kriterium der Freiheit schlicht unerheblich, ob ein heute existierender Staat in dieser Form auch existieren würde, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre. Die entscheidende Frage ist allein diese: Leben die Menschen in diesen geographischen Regionen heute in Freiheit oder tun sie das nicht? Und die Antwort lautet: In machen Staaten, die aus Sezessionen hervorgegangen sind, leben die Menschen heute in Freiheit und in anderen tun sie es nicht. Und was lernen wir daraus? Wir lernen daraus nichts. Vor allem lernen wir daraus nichts über die Frage, unter welchen Umständen irgendeine Teilmenge der Bevölkerung einer Region das Recht für sich in Anspruch nehmen kann, die gesamte Bevölkerung in einen Zustand der Anarchie zurückzuversetzen.

Vordenker der Freiheit haben der Anarchie oft eine gewisse Sympathie entgegengebracht, und das liegt wohl daran, dass die Anarchie die umfassendste Form der Freiheit in Aussicht stellt, weil sie dem Staat die Legitimität jedweden Eingriffs in die Handlungsoptionen der Individuen abspricht. Das mag erst einmal gut klingen, aber spätestens die immerhin über 400 Jahre alten Hobbes“˜schen Einsichten haben liberale Theorie dazu gezwungen, tiefer zu bohren, und daher war und ist es stets ihre Aufgabe gewesen, das Hobbes’sche Anarchieproblem konstruktiv zu verarbeiten und aufzuzeigen, wie und unter welchen Bedingungen sich trotz dieses Problems eine Gesellschaft konstituieren lässt, in der die Menschen in Freiheit und Selbstbestimmung leben können. Und das geht erstens nicht, wenn jedes Individuum das Recht hat, die Bindungen der bestehenden Verfassung jederzeit einfach aufzukündigen und fortan ohne jede Grenze von allen nur möglichen Handlungsoptionen Gebrauch zu machen – zu denen dann nach Belieben auch Mord und Totschlag gehören können; und es geht aus exakt den gleichen Gründen nicht, wenn ein Teil – auch nicht ein großer (An)Teil – der in einer bestimmten Region lebenden Individuen einen dort gültigen Verfassungsvertrag im (vorgeblichen) Namen aller in dieser Region lebenden Individuen einfach aufkündigt und sie alle mit oder auch gegen deren Willen mit einem Schlag in einen Zustand der Hobbes’schen Anarchie zurückbefördert.

Hinzu kommt: Den idealisierten Anarchiezustand kann es in einer Realität überhaupt nicht geben, und es hat ihn auch nirgends gegeben. Die Gründe dafür haben in jüngerer Zeit viele Autoren eindrucksvoll auseinandergelegt – am besten vielleicht nach wie vor Mancur Olson mit seiner Theorie der marodierenden Banden. Sie sind es nämlich, die sofort in jedes sich auftuende Machtvakuum hineinstoßen und jeden Anflug von Freiheit bereits im Ansatz vernichten, wenn die Freiheit von keiner Verfassung geschützt ist. Der IS-Terror ist derzeit vielleicht das entsetzlichste Beispiel dafür, aber das Schlimme ist, dass dieser Terror aus einem etwas stärker ausgreifenden Blick auf die Geschichte heraus nicht einmal ungewöhnlich grausam ist. Daraus lernen wir, was uns blüht, wenn wir mit der Anarchie spielen.

Dessen ungeachtet nimmt Vaubel die Anarchie zum Referenzpunkt. Zu ihr kann man in seiner Logik nach Belieben per Kündigung eines Gesellschaftsvertrages zurückkehren; tut man es, so ist fortan keine staatliche Instanz mehr befugt, in die Freiheit des Individuums einzugreifen. So mag man sich das vorstellen, und auf diese Weise könne sich das vergleichsweise wohlhabende Katalonische Volk mit seiner Sezessionsabsicht aus der Umklammerung des spanischen Zentralstaates lösen, um sich dem von dort ausgehenden zwangsweisen Zugriff auf die in Katalonien erarbeiteten Vermögen und Einkommen zu entziehen und sich dadurch einen größeren Freiheitsspielraum zu ertrotzen. Das mag man sich so konstruieren, aber man kann ebenso ein anderes Beispiel konstruieren, wenn auch fiktiv, weil den hier schließlich Kataloniern nichts unterstellt werden soll: Ein wie immer politisch – vielleicht durch Mehrheit, vielleicht aus anderen Gründen – dominierender Anteil der in einer Region lebenden Individuen setzt eine Herauslösung aus der Bindung an eine bestehende Verfassung durch. Irgendwer in dieser Region – und sei es auch eine große Mehrheit – ernennt sich anschließend zur Regierung und versagt einer Minderheit fortan jedwedes Recht auf Freiheit – auch die Freiheit auszureisen – sowie Eigentum oder gar Leben. Wer sollte diese selbsternannte Regierung daran hindern, genau dies zu tun? Und wiederum: Mit welchem Recht könnte die Minderheit sich dagegen wehren? Es gibt ja kein Recht mehr.

Man mag solche Beispiele arg konstruiert finden, aber das sind sie nicht. Denn es gibt diese Beispiele, und Sie sind eher die Regel als die Ausnahme in der Geschichte der Menschheit. Mehr noch: Es gibt diese Beispiele auch heute noch, und mitten in Europa. Womit grenzt Vaubel also seine freiheitsfördernde Form der Sezession von denen ab, die das ganze Gegenteil bewirken? Was ist so selbstverständlich an seiner Form der Sezession, dass er den Gültigkeitsraum seiner Behauptung nicht einmal eingrenzen muss? Offenbar setzt er die Einhaltung bestimmter – normalerweise auf der Verfassungsebene geregelter – Grundregeln des Gewaltverzichts einfach voraus; jedenfalls für uns hier in Europa, so darf man vielleicht vermuten. Und in der Tat: Sowohl Katalonien als auch Schottland hätten eine gute Chance dazu, das plötzlich fehlende zentralstaatliche Gewaltmonopol mitsamt der checks and balances, welche ebenjenes Gewaltmonopol einhegen, in ihre neuen nationalstaatlichen Verfassungen hinüber zu retten. Aber eine Garantie gibt es auch dafür nicht. Und im Übrigen mag an all die Dinge erinnert sein, welche sich in den vergangenen 25 Jahren mitten in Europa abgespielt haben und welche wir allesamt nicht für möglich gehalten hätten.

Wie also kann ein Verfassungsökonom die Einhaltung von Grundregeln nach einer Sezession einfach voraussetzen, obwohl sie seiner eigenen Theorie nach erst durch die Verfassung geschaffen werden? Wenn man sich die Theorie ansieht, dann geht das nicht, und wenn man sich die Fakten ansieht, dann geht es schon gleich nicht. Wer daran zweifelt, der mag nur an die Krimtataren denken oder an jene Minderheiten, die im Donezbecken leben und im Augenblick des Schreibens dieser Zeilen elementarer Grundrechte beraubt werden. Und wem das noch nicht reicht, der möge sich an den Terror der IRA in Irland und der ETA in Spanien erinnern, der ebenfalls mitten in Europa stattfand und dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart hineinreichen.

Blicken wir über Europa hinaus, dann sehen wir den furchterregende Verfall jedweder staatlichen Autorität, welcher sich gerade vor unseren Augen im Nahen und Mittleren Osten abspielt und dort einen failed state nach dem anderen produziert. Mehr und mehr Regionen versinken in Spiralen von Hass und Gewalt, und alle Theorie und Empirie, die uns darüber heute zur Verfügung steht, zeigt eindringlich, dass es genau das ist, was wir erwarten müssen, wenn wir uns anschicken, den Verfassungsstaat mit seinen Gewaltverzichtsregeln zurück auf null zu setzen, um aus dem Zustand der Anarchie heraus einen neuen zu vereinbaren, so als würden wir einen Kaninchenzüchterverein gründen. Steven Pinker hat in seinem ebenso monumentalen wie bedeutenden Werk „The Better Angels of our Nature“ theoretisch wie empirisch gezeigt, dass die Anwendung von Gewalt auf allen staatlichen wie persönlichen Ebenen seit etwa 150 Jahren umfassend abgenommen hat und dass dafür in allererster Linie eine säkulare Stabilisierung der Gewaltmonopole in den Verfassungsstaaten verantwortlich ist. Und wenn wir genau hinsehen auf Theorie und Empirie, dann kann uns nicht entgehen, welche zarten Pflänzchen das immer noch sind, aus denen heraus unsere heutige Freiheit ebenso wächst wie der Schutz vor roher Gewalt.

Gewiss: Es hat Beispiele für friedliche und mit Blick auf Freiheit und Selbstbestimmung erfolgreiche Sezessionen gegeben, wie in jüngerer Zeit vor allem jene der drei baltischen Staaten, aber auch in Slowenien und, wenngleich mit Abstrichen auch in Kroatien; auch die Sezession der Slowakei ist friedlich verlaufen, wenngleich die Menschen dort auch innerhalb einer noch bestehenden Tschechoslowakei wahrscheinlich kaum oder gar nicht weniger frei wären als sie es heute sind. Diese Beispiele zeigen zweierlei: Erstens kann Sezession gut ausgehen, und zweitens kann und ist es häufig so, dass zentralstaatliche Verfassungen alles andere als freiheitlich sind, so dass es eine schöne Perspektive wäre, wenn sich zumindest Teile davon abspalten und analog zu den baltischen Staaten fortan ein freiheitliches Gemeinwesen pflegen könnten.

Das will zweifellos ernstgenommen sein. Aber wenn wir genau hinsehen, dann stellen wir fest, welch ein Glück die Menschen in diesen Staaten gehabt haben. Der Zerfall der riesigen Sowjetunion hat nämlich gerade einmal drei freie Staaten hervorgebracht. Und so großartig das für sich genommen zweifellos ist: Neben diesen drei Staaten haben sich unter anderem auch Weißrussland und die fünf zentralasiatischen Staaten von der damaligen UdSSR abgespalten. Nirgendwo gibt es dort Freiheit und Demokratie, eines dieser Länder ist heute die schlimmste Diktatur in Europa, und in Zentralasien sieht es nicht wesentlich anders aus. Dies zeigt einmal mehr, dass Sezession ebenso wie viele andere historische Ereignisse in verbesserten Situationen münden können, es aber nicht müssen. Die Entstehung eines freiheitlichen Verfassungsstaates ist so etwas wie ein Lottogewinn, meist ist sie dem historischen Zufall geschuldet, so ist das leider. Dieser fast schon fatalistische Befund muss nicht in jedem Falle gegen eine Sezession sprechen, aber Grund für Illusionen gibt es nicht: Es kann so enden wie in den Vereinigten Staaten oder der Schweiz oder in jüngster Zeit im Baltikum; aber es kann auch so enden wie im Jemen, im Irak oder in Syrien. Das hier entwickelte Argument gibt zugegebenermaßen keinen Hinweis darauf, wie freiheitliche Gemeinwesen geschaffen werden können. Das sollte es auch nicht. Es zeigt aber, wie gefährlich es ist, die Aufkündigung bestehender freiheitlicher Verfassungen zu einer politischen Routine werden zu lassen. Das könnte man nur, wenn garantiert wäre, dass auch nach der Sezession bestimmte Regeln des Zusammenlebens wie vor allem der Gewaltverzicht und darüber hinaus im allermindesten die Reisefreiheit unangetastet blieben. Aber wer soll das garantieren, wenn wir nicht von Dezentralisierung, sondern von Sezession reden, in deren Anschluss es keine solchen Regeln mehr gibt?

Das Argument, dass bestimmte Grundregeln im modernen Europa schon eingehalten werden, ist nicht nur längst von der Realität widerlegt, sondern es liegt ihm – neben seiner völlig unangemessenen Kulturüberheblichkeit – ein fataler Gedankenfehler zugrunde: Nicht weil wir in Europa zivilisiert miteinander umgehen, können wir hier in freiheitlichen und weitgehend gewaltfrei agierenden Verfassungsstaaten leben; vielmehr gehen wir in Europa zivilisiert miteinander um, weil wir unter dem Schutz freiheitlicher und auf weitgehender Gewaltfreiheit aufbauender Verfassungsstaaten leben. Wer sie infrage stellt, der riskiert im Zweifel auch desintegrative Strudel wie jenen im Osten der Ukraine, wie im Balkan in den 1990er Jahren oder gar Schlimmeres. Dass dies in Europa Ausnahmen sind, liegt daran, dass die meisten freiheitlichen Verfassungen Europas inzwischen eine hinreichende Stabilität entwickelt haben, und diese Stabilität verdanken sie dem immer noch zarten Pflänzchen an Verbindlichkeit, aus dem sie erwächst. Wehe uns, wenn wir dieses Pflänzchen zertreten. Wir werden uns gegenseitig nicht wiedererkennen.

 

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