Die dramatische Flüchtlingskrise offenbart auf eindringliche Weise, wie tiefgreifend die Europäer bei der Bewältigung dieser gewaltigen Herausforderung gespalten sind. Länder, die in der Vergangenheit von Deutschland „Solidarität“ einforderten und damit zumeist nur Transferzahlungen meinten, verweigern schon im Ansatz jedwede Form der Bereitschaft, sich durch eine angemessene Beteiligung bei der Aufnahme von Flüchtlingen solidarisch zu zeigen.
Die Vorstellungen einer Politischen Union in Europa erweisen sich mehr denn je bestenfalls als Vision. Das gilt im Grunde genommen nicht nur für die 28 EU-Mitgliedsstaaten, sondern auch für die Gruppe der 19 Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion (EWU). Teilt man diese Einschätzung, folgen daraus fundamentale Konsequenzen.
Die Motivation zur Einführung einer einheitlichen Währung war ganz wesentlich politischer Natur, die Verbindung von Politischer Union und währungspolitischer Gemeinschaft fester Bestandteil des ganzen Vorhabens.
So erklärte seiner Zeit der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl am 6. November 1991 im Deutschen Bundestag: „Man kann dies nicht oft genug sagen. Die Politische Union ist das unerlässliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die jüngere Geschichte, und zwar nicht nur die Deutschlands, lehrt uns, dass die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne Politische Union auf Dauer erhalten, abwegig ist.“
Das politische Handeln in Europa folgte jedoch nicht dieser weit verbreiteten Überzeugung. Als die EWU am 1. Januar 1999 Wirklichkeit wurde, war von Fortschritten in Richtung Politische Union keine Spur. Genaugenommen hatte es nicht einmal Versuche in diese Richtung gegeben. Damit war die Frage aufgeworfen, ob die EWU damit nicht zwangsläufig scheitern muss, wenn es nicht sozusagen wenigstens im Nachklang entscheidende Schritte zur Ergänzung durch eine Politische Union geben würde.
Die anhaltende Euro-Krise hat dieses lange Zeit eher latente Problem wieder in den Fokus gerückt. Die Krise wird geradezu als Chance, quasi als Katalysator gesehen, um nicht nur die Wirtschaftsunion zu vollenden, sondern die Gemeinschaft auf dem Weg zur Politischen Union voranzubringen. Zahlreiche Autoren, vom französischen Staatspräsidenten François Hollande, hin zu Ministern, Politikern aller Couleur, bis hin zu Akademikern und Journalisten haben solche Fortschritte angemahnt und mehr oder weniger umfassende Vorschläge dazu unterbreitet.
Eine der prominentesten Initiativen darunter stellt der Bericht der fünf Präsidenten dar: „Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“. Vorgelegt von Jean-Claude Juncker in enger Zusammenarbeit mit Donald Tusk, Jeroen Dijsselbloem, Mario Draghi und Martin Schulz (EU-Kommission, Euro-Gipfel, Euro-Gruppe, EZB, Europäisches Parlament). Der Bericht fordert Fortschritte an vier Fronten.
- Eine „echte“ Wirtschaftsunion soll erreicht werden durch neue Impulse für Konvergenz, Wachstum und Beschäftigung, nicht zuletzt über ein euroraumweites System von Einrichtungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und eine stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik.
- Die Finanzunion soll ein einheitliches Finanzsystem verwirklichen über die Vollendung der Bankenunion und eine Kapitalmarktunion.
- Der Weg zur Fiskalunion führt über einen integrierten Rahmen für eine solide, integrierte Finanzpolitik. Ein unabhängiger Finanzausschuss soll auf europäischer Ebene eine öffentliche und unabhängige Bewertung der nationalen Haushalte und ihrer Umsetzung vorlegen. Eine europäische makroökonomische Stabilisierungsfunktion soll über den Einsatz eines Stabilisierungsfonds erreicht werden. Ein Schatzamt für das Eurogebiet soll den Rahmen für gemeinsame fiskalpolitische Entscheidungen gewährleisten.
- Die demokratische Verantwortung, Legitimität und Stärkung der Institutionen soll sowohl für die nationale als auch die europäische Ebene über eine stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente wie des Europäischen Parlaments gesichert werden.
Schließlich soll sich die Wirtschafts- und Währungsunion ein „Triple A“ auch in sozialen Fragen verdienen. Dies soll über bessere Arbeitsmärkte, leistungsfähige Sozialsysteme und den sozialen Zusammenhalt erreicht werden.
Der Bericht sieht vor, dass die Fortschritte in Stufen erfolgen, die bis spätestens 2025 zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion führen.
Das Kernproblem
Soweit kurz zusammengefasst der Inhalt. Der Bericht enthält eine ganze Reihe wichtiger Aspekte und zeigt Schwächen der bisherigen institutionellen Arrangements auf. Dies gilt nicht zuletzt für die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Darüber hinaus werfen fast alle Vorschläge Fragen auf.
Im Kern basiert der Bericht auf der Vorstellung, dass am Ende des vorgeschlagenen Prozesses eine Politische Union steht. Entsprechend sollen die Schritte zur Stärkung der Institutionen und der demokratischen Legitimierung parallel erfolgen. Hält man jedoch diesen Endpunkt für obsolet – jedenfalls für die absehbare Zukunft – erweist sich der Ansatz als problematisch, ja sogar als gefährlich für die europäische Integration. Eine ganze Reihe von Vorschlägen bedingen Übertragungen staatlicher Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene. Für die demokratische Legitimierung bedarf es dabei im Einzelnen Änderungen des europäischen Vertragswerks sowie Änderungen der nationalen Verfassungen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Finanzpolitik und der geforderten expliziten oder impliziten finanziellen Transfers.
Zwischen dem Appell im Bericht, europäische Bedürfnisse an die erste Stelle zu setzen, und dem verfassungsrechtlichen Status quo der Mitgliedstaaten, besteht ein grundlegender Konflikt. Dieser lässt sich jedoch nicht lösen, indem sukzessive de facto Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert werden. Die Kombination einer begrenzten Übertragung fiskalpolitischer Souveränität „nach Europa“ ohne demokratische Legitimierung widerspricht fundamental den Prinzipien des Rechtsstaates und der Demokratie. Wenn man es mit dieser Art der „Vollendung“ der Wirtschafts- und Währungsunion ernst meint, muss man das Vorhaben an die Bedingung einer demokratischen Legitimierung durch Änderungen des europäischen Vertragswerks und der nationalen Verfassungen knüpfen. Aber welcher führende Politiker würde gegenwärtig und wohl auf absehbare Zeit das Wagnis eines entsprechenden Referendums eingehen?
Mit der Antwort auf diese Frage erledigt sich eine ganze Reihe von Vorschlägen im Bericht der Präsidenten wie auch aus anderen Quellen. Die EWU muss folglich bis auf weiteres ohne Politische Union und entsprechende Initiativen auf diesem Weg auskommen. Die Verantwortlichen sollten daher ihr Bemühen darauf ausrichten, die Währungsunion als Gemeinschaft einheitlichen Geldes, aber souveräner Staaten zu stärken. Dazu bedarf es einer Rückbesinnung auf das bestehende Vertragswerk und nicht zuletzt einer Rückkehr zum Prinzip des no-bail-out.
* Siehe: Otmar Issing, Completing the Unfinished House: Towards a Genuine Economic and Monetary Union, forthcoming in International Finance.
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4 Antworten auf „Gastbeitrag
Die unvollendete Wirtschafts- und Währungsunion?*“