Schon kurz nach dem Eintreten der Finanzkrise von 2008 wurde von verschiedenen Seiten die Sorge geäußert, dass sich die Geschichte in gewisser Weise wiederholen könnte und die unruhigen Zeiten nach der ersten Finanzkrise zu Ende der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts „unfröhliche Urstände“ feiern könnten. Diejenigen, die mit den direkten wirtschaftlichen und finanziellen Folgen der Finanzkrise umzugehen hatten, ließen sich dies zur Warnung dienen und haben mit insgesamt erstaunlicher Umsicht und Übersicht versucht, unmittelbare dramatische Verwerfungen zu vermeiden. Der gewonnene Aufschub, insbesondere die Abfederung der entstehenden Arbeitslosigkeit durch die öffentlichen Sozialsysteme haben dramatische symbolpolitisch relevante Krisenerscheinungen, wie wir sie alle noch aus den Filmaufnahmen aus den frühen dreißiger Jahren kennen, verhindert.
Gewiss waren nicht alle Maßnahmen der Politik und Zentralbanken optimal, aber insgesamt war das Krisenmanagement von erstaunlicher Qualität. Einen Grund, sich entspannt zurückzulehnen, gab es nie. Doch nun ereilt uns doch ein Aufflackern von populistischem Nationalismus, das in vielem den Erscheinungen der Dreißigerjahre ähnelt. Noch ist die Welt nicht in die gleiche Unordnung geraten wie damals, doch besteht durchaus Anlass zur Sorge, dass das, was als wirtschaftliche Großkrise vermieden wurde, uns nun als noch größere politische Krise ereilen könnte. Vergessen wir bei alledem nicht, dass Trump (Le Pen, Petri, Wilders etc.) nur ein Symptom für eine tiefere Verwerfung in den Legitimitätsüberzeugungen großer Teile der Bevölkerungen westlicher Rechtsstaaten sind.
Rechtsstaatlichkeit demokratisch flankiert und gefährdet
Alle Anhänger des westlichen Rechtsstaates haben Grund, sich erneut auf das Grundsätzliche zu besinnen: die größte aller zivilisatorischen Errungenschaften, die wachsenden Teilen der Weltbevölkerung – jedenfalls vorübergehend – Rechtssicherheit und Wohlstand gebracht hat, ist der europäisch geprägte westliche demokratische Rechtsstaat. Ihn gilt es zu verteidigen und wenn es sein muss, dann auch jeweils im nationalen Rahmen und mit allen rechtsstaatlichen Mitteln. Selbstverständlich haben wir als Anhänger des Rechtsstaates jeweils zunächst die Pflicht, unsere eigenen Rechtsstaaten nach innen in Ordnung zu halten. Solange es die Herausforderung durch den sogenannten Sowjetblock gab, war es relativ einfach, die inneren Kräfte der Rechtsstaaten zur Parteinahme für den eigenen Staat zu bewegen. Die eher nationalistische Gegnerschaft umfasste scheinbar eine echte Parteinahme für die Rechtsstaatlichkeit, die aber in weiten Teilen der Bevölkerung vermutlich niemals in Form einer fundamentalen handlungswirksamen Überzeugung bestand.
Die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit nach außen ist eine nicht zu vernachlässigende Aufgabe. Die Frage, nach der internationalen Solidarität der Rechtsstaatsanhänger steht im Raum. Es ist im vernünftigen langfristigen auch partikularen Interesse jedes der intern stabil rechtsstaatlich organisierten Nationalstaaten, bevorzugt mit anderen ebenso organisierten Staaten bzw. Staatengemeinschaften zusammenzuarbeiten. Je mehr solcher Staaten es auf der Welt gibt, desto sicherer werden Wohlstand und individuelle Rechte sein. Alles spricht dafür, dass freiheitliche Rechtsstaaten tendenziell miteinander friedensfähig sind und bestimmte Unsicherheiten, die im Umgang mit nicht-rechtsstaatlichen Systemen bestehen, unter Rechtsstaaten vermieden werden können. Eine entsprechende Begünstigung anderer Rechtsstaaten scheint — wenn man den bisherigen Indizien insoweit trauen muss — vom Trumpeter und seiner Regierung in Zweifel gezogen zu werden. Noch wissen wir nicht, ob dies nur ein taktisches Manöver ist, um durchaus berechtigte Forderungen nach stärkerer Mitwirkung der bislang eher im Windschatten segelnden anderen Rechtsstaaten in der Durchsetzung gemeinsamer Interessen aller rechtsstaatlichen Systeme durchzusetzen oder ob es sich um eine grundlegende Abkehr von der Bevorzugung der Rechtsstaaten handelt. Wenn Trump beginnt, aus nationalem Interesse – oder dem, was er dafür hält oder ausgibt – mit Nicht-Rechtsstaaten gegen Rechtsstaaten zu kooperieren, dann ist das Minimum der alten westlichen Weltordnung dahin.
Wir haben jedenfalls Grund, uns auf das Schlimmste einzurichten. Gerade dann, wenn wir die Rechtsstaatlichkeit und den Frieden unter Rechtsstaaten erhalten wollen, müssen wir uns mit dem grundlegenden alternativen Szenarium auseinandersetzen, in dem Amerika aus der Phalanx der Rechtsstaaten zunächst als Rechtsstaat ausscheidet und, was noch weit schlimmer wäre, sogar die eigene Rechtsstaatlichkeit aufs Spiel setzen könnte.
Amerika, hast Du es nicht mehr besser?
Der vielerorten in Europa zu spürende Anti-Amerikanismus war bislang eher lächerlich. Man projizierte die eigene Abneigung gegen den sogenannten Kapitalismus, dessen Wohltaten man gern entgegennahm, dessen Zumutungen man aber gern vermeiden wollte, einfach auf dessen Zitadelle. Man vergaß gern, dass die sogenannte kapitalistische Wirtschaft eigentlich nur Ausdruck der Tatsache ist, dass es stabilen rechtsstaatlichen Systemen gelingt, den Bürgern eine Sphäre zu sichern, in der sie eigene Entscheidungen ohne politische Einzelkontrolle treffen können. Anders als in despotischen Staatssystemen ist der einzelne nicht wehrlos kollektiven Einflüssen, insbesondere solchen staatlicher Art, ausgesetzt, sondern es gibt eine klare Grenze zwischen dem, was Gegenstand individueller privater Entscheidungen und was Gegenstand kollektiver politischer Entscheidungen ist.
Diese Grenze kann auf ganz unterschiedliche Weise gezogen werden, doch ist es ausschlaggebend, dass sie klar definiert ist und die Bürger nicht nur als Wirtschaftssubjekte, sondern umfassend bestimmte Bereiche ihres Lebens selbst kontrollieren können. Da andere im Rechtsstaat die gleiche Freiheit zu eigener Entscheidung besitzen, sind alle dem ausgesetzt, was sie als anonyme unkontrollierte Prozesse des „Kapitalismus“ wahrnehmen. Dies schreiben sie dem freiheitlichen Rechtsstaat und der freien Wirtschaft als bloß „naturwüchsige Unvernunft“ schlecht. Jedenfalls wenn sie etwa die Bildungsansprüche der Frankfurter Schule und anderer latenter Feinde der Freiheit und des deutschen Feuilletons beherzigen, pflegen sie guten Willens bedenkliche LegitimitätsüberzeuÂgungen in sich und anderen und jubeln philosophischen Populisten wie Michael Sandel zu. Dabei ist die Wahrheit so einfach: Wenn man die kollektive Kontrolle über Entscheidungen aufgibt, dann muss man mit den Ergebnissen dieser Freiheit leben.
Das fällt vielen Menschen – ganz unabhängig vom Bildungsstand – schwer. Insoweit ist es auch nicht überraschend, dass der Trumpeter, der für so etwas ein gutes Gespür zu haben scheint, als Kernphrase das Versprechen benutzte, dass er den Amerikanern die Kontrolle zurückgeben werde. Dabei schien es seine Hörer nicht zu stören, dass dies im Wesentlichen bedeuten muss, dass er an ihrer Stelle die Kontrolle ausüben wird. Auch diese Projektion auf eine Führerfigur, die die Illusion der eigenen Kontrolle nährt, ist ein bekannter politisch wirksamer Mechanismus. Auf so etwas hereinzufallen, liegt in der menschlichen Natur. Es muss politisch in Rechnung gestellt werden, indem man geeignete institutionelle Vorkehrungen schafft, um den entsprechenden populistischen Tendenzen entgegen zu wirken. Allgemeines Lamento hilft nichts.
Die rechtsstaatlichen Institutionen scheinen in Deutschland einigermaßen bis sehr gut zu funktionieren. Trotzdem bleibt es seine Aufgabe, die Akzeptanz der scheinbaren Unfähigkeit des Rechtsstaates zu koordiniertem und entschlossenem Handeln zu erhalten. Das Bewusstsein dafür, dass es sich bei der Langsamkeit und Kompliziertheit rechtsstaatlichen Handelns um ein erhaltenswertes Gut handelt, zu verbreiten, ist ein wesentliches Unterfangen. Wieder ist die Wahrheit einfach: Â Im Rechtsstaat sind alle unzufrieden, weil sich alle wünschen, dass mehr politische Kontrolle im Sinne ihrer eigenen politischen Wünsche ausgeübt wird. Darüber vergessen die meisten, dass jedes Anwachsen der Kontrolle die Gefahr beinhaltet, dass entschlossen gegen die eigenen Wünsche gehandelt wird.
Wer nach Durchsetzung von mehr Moral und Ethik ruft, riskiert mehr von der Moral und Ethik zu bekommen, die er nicht will. Umfassende Ermächtigung ist immer schlecht, auch die zu moralischem Handeln.
Europäische Verteidigung ohne, aber nicht gegen die USA?!
Wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns gegebenenfalls darauf einstellen können, dass das gegenwärtige amerikanische Spektakel nicht nur eine vorübergehende Erscheinung ist. Klarerweise ist es an der Zeit, dass sich Europa auf seine eigene militärische Verteidigungsfähigkeit besinnt (falls es dazu nicht bereits zu spät ist). Wir haben jeden Grund, insoweit den Brexshit für die Briten so zu mildern, dass sie sich womöglich als Mitglieder einer Untergruppierung der NATO begreifen, um eine auf die Bewahrung der westlich rechtsstaatlichen Werte Europas gerichtete Verteidigungspolitik nachhaltig mit ihnen betreiben zu können. Diese fundamentale Aufgabe ist leider bislang von der Politik nicht identifiziert worden und in der öffentlichen Meinungsbildung nicht angekommen. Leider hängen die britischen Tridents zudem an der amerikanischen „Nadel“.
Die demokratische Unordnung
Was in Amerika geschieht, können wir kaum direkt beeinflussen. Trotzdem ist es lehrreich. Doch können wir daraus nur dann etwas lernen, wenn wir uns nicht mit dem Reflex jener solidarisieren, die ihre eigene Ablehnung freiheitlich rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Verhältnisse unter der Piratenflagge des Anti-Amerikanismus segeln lassen. Amerika hatte bislang ein erstaunlich gut austariertes politisches System, in dem für mehr als 200 Jahre das Auftreten despotischer politischer Herrschaftsformen verhindert werden konnte. Das verdient Bewunderung und die zugrundeliegende Theorie der Federalist-Artikel mehr Aufmerksamkeit als alles, was wir gegenwärtig „schwätzen“. Es wäre allerdings ein Fehler, den amerikanischen Erfolg allein oder auch nur in erster Linie der Existenz demokratischer Abstimmungsverfahren gutzuschreiben.
Zwar gibt es offenkundig keine langfristig bestehenden freiheitlichen Rechtsstaaten, die nicht auf demokratische Konkurrenz um die Kontrolle der zentralen Durchsetzungsgewalt des Rechts nach innen und außen setzen (vgl. zu dieser alten These mit neuer Evidenz, Acemoglu und Robinson). Insoweit kann man davon ausgehen, dass langfristig stabile Rechtsstaaten Elemente die Konkurrenz um Bürgerstimmen enthalten müssen. Klar ist allerdings auch, dass eine zu weitgehende oder fehlprogrammierte Demokratisierung zu Fehlentwicklungen führen wird. Das sehen wir ja gerade lebhaft. Im Beispiel etwa des amerikanischen Systems scheinen vor allem zwei Elemente größerer Demokratisierung eine insgesamt fragwürdige Konsequenz gehabt zu haben. Zum einen handelt es sich dabei um die direkte Wahl der Senatoren, die seit ca. hundert Jahren (XVII amendment of 1913) die parteipolitische Ausrichtung des Senats zunehmend verstärkt hat und zum anderen, für die gegenwärtigen Probleme vermutlich wichtiger, die Einführung der sogenannten „primaries“ (die zunächst nicht verbindliche Stimmungsbilder, nun aber weitgehend verbindliche Vorwahlen darstellen), in denen nicht mehr die Parteien, sondern in gewisser Weise die Bürger selbst bestimmen, wer als Kandidat der Parteien nominiert wird.
Trump hätte sich nicht durchsetzen können ohne die primaries. Manchmal ist es vermutlich doch besser, bestimmte Entscheidungen eher im sogenannten Hinterzimmer treffen zu lassen. Die Vorstellung jedenfalls, dass mehr demokratische Kontrolle immer besser ist, scheint aus Sicht vernünftiger Anhänger der Rechtsstaatlichkeit einigermaßen abwegig. Es kommt jedenfalls sehr auf die Arten der Kontrolle an. Ohnehin muss man bezweifeln, ob die demokratische Kontrolle für die Eindämmung des Einflusses von Trumpetern überhaupt geeignet ist. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Demokratie ist Teil des Populismusproblems. Demokratie ist gebändigter oder zivilisierter  Populismus. Wir müssen mit ihr leben, weil wir ohne sie den Rechtsstaat nicht haben können. Aber wir müssen etwas dafür tun, sie verfassungsmäßig zu kontrollieren.
Literatur
Acemoglu, Daron, and James A. Robinson. Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut. Translated by Bernd Rullkötter
Die Federalist-Artikel: Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter. Mit dem englischen und deutschen Text der Verfassung der USA. 1st ed. Paderborn: UTB, Stuttgart, 2004. (übers. Adams, Angela, and Willi Paul Adams)
Sandel, Michael J. Was man für Geld nicht kaufen kann: Die moralischen Grenzen des Marktes. Translated by Helmut Reuter. Ullstein 2012.
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Lieber Herr Kliemt, eine gewisse Skepsis gegenüber der Demokratie ist durchaus angebracht. Man findet sie zu Recht, mit unterschiedlichen Argumenten, bei Hayek, Eucken, Popper, aber auch bei Vanberg, ohne dass jemand dabei die Demokratie grundsätzlich verwerfen würde. Der wichtigste Kritikpunkt ist für mich aber das Fehlurteil, dass Urteile einer Mehrheit richtiger oder gar moralischer sein sollten und nicht die Tatsache, dass Populisten an die Macht kommen können. Wer das ausschließen will, ist in einer Demokratie wirklich schlecht aufgehoben. Es kommt auf die (verfassungsmäßige) Kontrolle an. Und darauf, ob Regierende diese durch politische Maßnahmen einschränken. Bei Donald Trump sehe ich, bei aller Kritik an manchen politischen Maßnahmen, in dieser Hinsicht (noch) keine Gefahr. Manche seiner Positionen erscheinen mir im Gegenteil eher als Abwendung von Machtanhäufung beim Staat, etwa auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik oder im Waffenrecht. Wenn das der Fall ist könnte der Kollateralschaden der Trump-Administration kleiner ausfallen als von vielen heute befürchtet.