Vor einigen Wochen hat Gert G. Wagner an dieser Stelle gegen eine Regelbindung der Wirtschaftspolitik argumentiert. Dabei sah er zwei wesentliche Probleme. Das eine ist, dass Regeln häufig nicht durchgesetzt, sondern schlicht ignoriert werden. Das andere Problem ist Goodhart’s Law: Die vermutete Gesetzmäßkeit, nach der Kennziffern als Indikator unbrauchbar werden, sobald sie zu einer politischen Zielgröße gemacht werden. Hier geht es vor allem um die Aussagekraft solcher Kennzahlen, die, sobald sie Politikziele sind, auch politisch beeinflusst werden und damit weniger über zugrundeliegende ökonomische Zusammenhänge aussagen. Gert G. Wagner führt die Maastricht-Defizitquote als ein Beispiel an.
Wirtschaftspolitische Regeln werden normalerweise solche Kennzahlen benötigen, um Ziele zu quantifizieren. Insoweit ist die Kritik durchaus stichhaltig: Setzt man eine Regel, so gefährdet man den wissenschaftlichen Nutzen einer Kennzahl. Man muss sich sehr genau überlegen, wie man seine Zielgröße möglichst manipulationssicher macht. Man wird dieses Problem wahrscheinlich nie vollständig lösen, aber mit geeigneten institutionellen Rahmenbedingungen ““ insbesondere völlig unabhängigen statistischen Ämtern ““ doch eindämmen können. Einflußnahmen über politische Interventionen, wie etwa eine Einmalsteuer zur Senkung einer Defizitquote zu einem bestimmten Stichtag, sind dagegen prinzipiell beobachtbar und es ist die Aufgabe der demokratischen Öffentlichkeit, diese zu problematisieren.
Neben der seriösen Kritik an Regeln, wie sie von Gert G. Wagner formuliert wurde, gibt es gerade in diesen Tagen oft auch eine andere Form der Auseinandersetzung mit wirtschaftspolitischen Regeln. So werden sie als Relikt eines angeblich verstaubten, gerade noch in der deutschen Nische überlebenden ordungsökonomischen Denkens gesehen. Man sieht in der Regelbindung eine unnötige Restriktion für die Politik, von der man sich stets ein effizientes Eingreifen erhofft. Nun könnten die so Angegriffenen es sich leicht machen und diesen Kritikern entgegnen, dass sie ein naives Bild des wirtschaftspolitischen Prozesses haben, gewissermaßen eine Wirtschaftspolitik der Guten Fee, die stets zum richtigen Zeitpunkt erscheint um Banken-Chefökonomen und FT-Redakteure nach ihren wirtschaftspolitischen Wünschen zu befragen und diese umzusetzen. Aber es lohnt sich doch, etwas genauer hinzuschauen.
Das Argument für eine regelgebundene Politik folgt nicht aus einer Marotte deutscher Ordnungsökonomen. Beginnend mit Kydland und Prescott (1977) interessiert sich die moderne Makroökonomik ebenfalls für die Rationalität von Regeln, nämlich als Instrument, das eine zeitinkonsistente Politik vermeiden hilft. Wenn die Politik glaubhaft bestimmte Erwartungen bei den Individuen verankern will, dann kann sie dies oft nur über eine Regelbindung der Politik tun. Denn in vielen Fällen ist allgemein bekannt, dass politische Entscheidungsträger im Laufe der Zeit immer wieder Anreize zu Entscheidungen haben, die den eigentlich zu verankernden Erwartungen zuwider laufen werden.
Wenn man eine ordnungsökonomische Perspektive einnimmt, so stellt sich zusätzlich immer die Frage: Was könnte aus Sicht der Bürger zustimmungsfähig sein (Vanberg 2014)? Nehmen wir einmal hypothetisch an, eine Regierung würde sich bei ihren Bürgern um das Recht bemühen, sich verschulden zu können. Das klingt vielleicht zunächst einmal absurd, weil wir gewohnt sind, dass Regierungen Steuern erheben und sich verschulden können. Wenn man allerdings die Souveränität der Bürger ernst nimmt, dann muss man sich fragen, ob und unter welchen Umständen dies für die Bürger tatsächlich akzeptabel ist. In unserem hypothetischen Fall müsste die Regierung bei den Bürgern die Erwartung verankern, dass die Möglichkeit der Verschuldung sinnvoll genutzt wird, etwa zur Konjunkturstabilisierung. Es müsste auch die Erwartung verankert werden, dass die öffentliche Verschuldung nicht eskaliert. Wissend, dass ein Abbau von Defiziten auch im Aufschwung mit politischen Kosten verbunden ist, wären die Bürger skeptisch. Sie würden erwarten, dass Politiker wohl auch im Aufschwung Schulden machen würden. Mehr noch: Sie würden antizipieren, dass sie selbst auch nicht frei von Kurzsichtigkeit wären und eine zu hohe Defizite verantwortende Regierung nicht zuverlässig an der Wahlurne bestrafen würden.
Im hypothetischen Fall würde einiges dafür sprechen, dass rationale Bürger die Zustimmung zum Instrument der Staatsverschuldung an Regeln binden würden, die einen verantwortlichen Umgang damit sicherstellen. Wenn man diesen hypothetischen Fall historisch entfaltet, dann sind wir in der Realität: Bei der Beobachtung, dass nicht regelgebundene Finanzpolitik über Jahrzehnte zu eskalierenden Schuldenstandsquoten führt und eine grundgesetzliche Schuldenbremse eingeführt wurde in der Hoffnung, dass die nunmehr zuverlässigere Regelbindung Abhilfe schaffen wird.
Ähnlich war es bei der Einführung des Euro: Die Anreize für einzelne Staaten, eine Währungsunion als fiskalische Allmende zu sehen, sich zu stark zu verschulden und auf Bail-Outs zu hoffen, waren schon immer klar. Entsprechend war in den 1990ern eine politische Akzeptanz für das Projekt der Währungsunion unter den Bürgern nur zu erreichen, indem man ein Regelsystem versprach, das diesen Anreizen entgegen wirken sollte. Wir wissen nun zwar, dass dieses Anreizsystem nicht funktioniert hat. Das ist aber kein Argument dafür, die Regelbindung abzuschaffen. Dies wäre aus einer ordnungsökonomischen Sicht auch deshalb problematisch, weil es die Souveränität der Bürger nicht respektieren würde. Denn diese haben schließlich der Währungsunion überhaupt nur unter der Prämisse zugestimmt, dass es eine regelgebundene Finanzpolitik gibt. Es sollte also nicht um die Abschaffung, sondern um die Suche nach funktionierenden Regeln gehen. Und genau diese Suche findet in der EU ja auch seit der Finanzkrise statt ““ mit welchem Erfolg, wird sich zeigen.
Die aktuelle empirische Forschung, die Debrun et al. (2018) zusammenfassen, zeigt, dass fiskalpolitische Regeln funktionieren können. Demnach hat selbst eine in der breiteren Öffentlichkeit als gescheitert angesehende Regel wie das Maastricht-Defizitkriterium einen Effekt gehabt und dazu geführt, dass die Mitgliedstaaten der Währungsunion niedrigere Defizite hatten, als ohne Regel zu erwarten gewesen wäre ““ selbst dann, wenn die Drei-Prozent-Grenze gerissen wurde. Allgemein sind funktionierende Fiskalregeln einfach, transparent, verlassen sich in der Durchsetzung weniger auf Sanktionen als auf Reputationsverluste und sie sollten aus kurz- und langfristigen Komponenten bestehen.
Idealerweise wird die Einhaltung der Regeln durch unabhängige Fiskalräte überwacht. Ein Beispiel ist hier der Beirat des Stabilitätsrates. Die Erfahrungen mit solchen Räten sprechen bisher dafür, dass diese die Regeleinhaltung über zwei Kanäle verbessern (Beetsma et al. 2018). Sie sorgen einerseits dafür, dass Regelbrüche schnell transparent und Gegenstand politischer Diskussion werden. Regierungen müssen einen Reputationsverlust fürchten, wenn sie von unabhängigen Experten gerügt werden. Dazu kommt aber ein vielleicht noch wichtigerer Effekt, der darin besteht, dass die Planungsgrundlagen für die Finanzpolitik realistischer werden. Eine nicht überwachte Regierung kann beispielsweise im Maastricht-Rahmen mit überoptimistischen Prognosen über das BIP-Wachstum arbeiten und damit zunächst mal ein höheres absolutes Defizit innerhalb der Drei-Prozent-Grenze anpeilen. Ein ex post festgestellter Verstoß wäre dann nur ein Versehen. Indem sie unverzerrte Prognosen bereitstellen, können Fiskalräte solche strategischen Fehlprognosen verhindern.
Die Diskussion um eine regelgebundene Finanz- und Wirtschaftspolitik dreht sich heute eigentlich in der Fachliteratur weniger um die Frage, ob es Regeln geben soll oder nicht, sondern um die Frage, welche Regeln funktionieren. Das wiederum beinhaltet zwei Aspekte, die nicht völlig unabhängig voneinander sind: Welche Regeln sind auch tatsächlich durchsetzbar? Und welche Regeln lassen genügend Spielraum, um beispielsweise in der Rezession noch mit einer expansiven Politik reagieren zu können, oder um auf unerwartete Entwicklungen noch angemessen reagieren zu können?
Dennoch werden alle wirksamen Regeln notwendig auch immer wieder auf Kritik stoßen. Diejenigen, die kurzsichtig oder opportunistisch denken, oder die an die Gute Politik-Fee glauben, werden sich von ihnen ungebührlich eingeengt sehen. So ist wohl auch die wenig informierte Kritik an einem angeblich rein deutschen Interesse an Ordnungspolitik und Regelbindung zu verstehen. Doch ist letztlich die Ordnungsökonomik nichts anderes als die Frage, welche Regeln sinnvoll, durchsetzbar und aus Sicht er Bürger akzeptabel sein können.
Regelbindung (Contra):
Gert G. Wagner: Sind gesetzlich festgelegte sozial- und wirtschaftspolitische Zielwerte (un)vernünftig?
Blog-Beiträge zum Thema:
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