Remain, Britannia!

Ist der Dampfer bereits abgefahren? Das Publikum jedenfalls wendet sich – teils in Grausen, teils in desinteressierter Gelassenheit – ab. Großbritannien wird die Europäische Union verlassen. Das scheint sicher. Und längst ist es den meisten Menschen egal, ob dies mit einem Knall, dem harten Brexit, oder in einem langwierigen Gewürge – euphemistisch weicher Brexit genannt – passieren wird. Die EU-Oberen haben das Kapitel Brexit ebenfalls und in seltener Einmütigkeit abgeschlossen. Geh mit Gott, aber geh! Die Briten selbst haben sich politisch derart blockiert, dass jegliche Form des Brexits für sie zum Desaster werden wird: ökonomisch, politisch, sozial – vermutlich alles gleichzeitig.

Aber: Europa sollte sich mit dieser nur scheinbaren Zwangsläufigkeit, mit der vermeintlichen Alternativlosigkeit nicht abfinden. Großbritannien gehört zu Europa und Europa – darunter auch und gerade Deutschland – braucht Großbritannien. Daher ist es weitere ernsthafte Versuche wert, die Briten in der EU zu halten. Dazu aber müssen beide Seiten nun ihre Positionen verlassen und sich entgegenkommen. Die EU muss ihre eigenen Verträge moderner interpretieren und damit ein Signal an die Briten aussenden, sodass diese dann ein zweites Referendum wagen können, an dessen Ende – hoffentlich – ein „Remain“ stehen wird.

Triste europäische Einigkeit

In der Brexit-Debatte haben die EU-Mitgliedsstaaten Seltenes vollbracht. Sie sind sich einig geworden und dabei geblieben, dass man Großbritannien bei seinem Austritt aus der EU nur geringfügig entgegenkommen möchte. Die Einigkeit wird inzwischen gefeiert, zum einen, weil sie so selten geworden ist, und zum anderen als vermeintlicher Beweis für die gemeinsamen Werte und Grundrechte, die es unter allen Umständen zu bewahren gelte.

Tatsächlich dürfte die Lage der EU sehr viel trister sein. Die massive Kritik an der EU aus allen politischen Lagern – gerechtfertigt oder nicht – hat zu einer Legitimationskrise geführt, der die EU kaum noch Herr wird. Plötzlich erscheint selbst Brüssel die Möglichkeit einer EU der unterschiedlichen Geschwindigkeiten erträglich, bei der sich Länder weitergehenden Integrationsschritten von Teilgruppen der Mitgliedsstaaten anschließen können oder auch nicht. Gleichzeitig hebeln manche osteuropäischen Staaten jegliche gemeinsame europäische Lösung der Flüchtlingskrise durch schlichte Verweigerung aus – nationale Wählerwünsche und Politikinteressen dominieren über europäische Prinzipien. Die Liste ähnlich gelagerter Vorfälle, in denen sich die EU gezwungen sieht, politische Entscheidungen der Mitgliedsländer – wie bei der Verteilung der Flüchtlinge – machtlos zu ertragen, ist lang.

Diese Regeln und jene Regeln

Für ordoliberale Anhänger von Regelsetzungen und vor allem von Regeleinhaltung sind diese Fälle schwer zu ertragen, aber für Anhänger des europäischen Friedens- und Wohlstandsprojekts ist klar, dass aus innenpolitischen Gründen nicht alle Länder in gleicher Geschwindigkeit zum europäischen Integrationsprozess beitragen können und wollen. Großbritannien war stets ein solcher Fall, aber andere Länder waren nicht anders. Nun werden gerade im Fall Großbritannien die Regeln so strikt wie möglich angewandt. Warum eigentlich?

Letztlich scheint – ignoriert man einmal das nationalistisch-isolationistische Getöse mancher Brexiteers – vor allem die Zuwanderungsfrage die Briten zu bewegen. Ihnen geht es nicht anders als vielen Menschen in nahezu allen westlichen Industrienationen. Weil jedoch die Freizügigkeit als eine der vier Grundfreiheiten der EU als unantastbar gilt, ist deren Einschränkung für die EU undenkbar. Denkt man allerdings anderthalb Dekaden zurück, an die Zeit der großen EU-Osterweiterung, war Großbritannien das erste Land, das die osteuropäischen Migranten ohne Einschränkungen hat zuwandern lassen, während Deutschland sieben Jahre lang seinen Arbeitsmarkt mit Hilfe der 2+3+2-Regelung abschottete. Deutschland konnte und wollte die Integration seinerzeit nicht so schnell umsetzen wie andere Länder.

Temporäre Einschränkungen der Freizügigkeit?

Bedenkt man die ökonomischen und politischen Folgen des Brexits für Europa (nicht nur für Großbritannien), die nach allen Vorhersagen schwerwiegend sein werden, dann ist zu fragen, ob die EU den Briten nicht an diesem für sie so zentralen Punkt entgegenkommen könnte. Warum sollte man die Freizügigkeit in Großbritannien nicht einschränken können? Das klingt gewagt, aber nur wenn man dabei an einen Freifahrtschein denkt, den es aber nicht geben kann. Der Bruch fundamentaler europäischer Grundsätze, der hier zur Debatte steht, könnte allenfalls unter strikten Bedingungen erfolgen, aus denen sich später möglicherweise sogar sinnvolle Regeln für die gesamte EU entwickeln ließen.

Vor allem zwei zentrale Bedingungen müssten erfüllt werden. Erstens darf die Einschränkung der Freizügigkeit nicht dauerhaft sein, sondern sollte wie bei der 2+3+2-Regelung nach einem überschaubaren Zeitraum auslaufen. Zweitens darf die Ausnahme kein Geschenk an die Briten sein, sondern muss mit einem klaren Preisschild versehen werden, etwa der – sicherlich symbolträchtigen – Rücknahme des berühmt-berüchtigten Britenrabatts, der von Margaret Thatcher im Jahr 1984 erreicht wurde.

Vom GATT lernen…

Eine derartige Herangehensweise hat in anderen Kontexten eine gewisse Tradition, die der EU zum Vorbild gereichen könnte. Im Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen GATT (und damit im Regelwerk der heutigen Welthandelsorganisation WTO) existiert die Möglichkeit, unter bestimmten Bedingungen von – im Rahmen von Welthandelsrunden – zugesagten Zollsenkungen zurückzutreten, wenn sie sich für einen Staat als massives Problem herausstellen. Es handelt sich dabei ganz ausdrücklich um Notfall- und Ausnahmeregeln. Eine solche Ausnahme zu nutzen, ist allerdings nicht kostenfrei möglich. Die durch die höheren Zölle benachteiligten Handelspartner müssen im Umfang der ausbleibenden Handelsgewinne kompensiert werden. Geschieht dies nicht, erlaubt ihnen die WTO zu „vergelten“. Die geschädigte Seite darf dann Handelszugeständnisse zurückziehen.

Der Vorteil dieser Regel liegt darin, dass sie eine zentrale Problematik zu starrer Regelwerke umgeht. Sind Regeln zu starr, dann überlegt man sich zwei Mal, ob man sich ihnen unterwirft. Für die Welthandelsrunden bedeutet dies, dass Länder nur zögerlich zu Zollzugeständnissen bereit sind, die selbst in größter Not durch exogene Schocks unabänderlich sind bzw. dann nur als bewusster Rechtsbruch zu ignorieren wären. Durch die Ausnahmeregelungen erhöht sich dagegen der politische Spielraum; der Abschluss eines Zoll- und Handelsabkommens wird erleichtert.

Unabhängig vom Fall des Brexits könnte die EU von derart flexibilisierten Regeln profitieren, wenn ein temporärer und zugleich kostenträchtiger Ausstieg aus bestimmten europäischen Regeln zulässig wäre. Sind die Rahmenbedingungen, unter denen Ausnahmen möglich sind, bekannt und existiert ein Sanktionsmechanismus, der den Preis der Ausnahme bestimmt, dann erhielten die Mitgliedsstaaten mehr Freiheitsgrade zur Umsetzung ihrer nationalen Politik und das Moral Hazard-Problem würde reduziert – und all dies in einem klaren Regelrahmen! Als Sanktion könnte beispielsweise die Rückhaltung von Agrar- und Regionalsubventionen dienen. Ein Land wie Polen würde seine Rechts- und/oder Zuwanderungspolitik vermutlich anders bewerten, wenn es für seine Abweichungen von den europäischen Regeln mit Subventionskürzungen bezahlen müsste. Immerhin wären sie dann aber kein Rechtsbruch mehr.

Bleibe, bleibe noch ein Weilchen

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen könnte die EU im konkreten Fall Großbritanniens einen ersten Testballon starten. Bei einem Verbleib des Landes in der EU könnte es für eine festgelegte, nicht zu hohe Zahl von Jahren – sagen wir 2+3+2 Jahre – die Freizügigkeit einschränken (der Fairness halber gleichmäßig über alle potenziellen europäischen Zuwanderergruppen verteilt). Der sicherlich nicht zu hohe Preis wäre in Form des Verzichts auf den Britenrabatt zu zahlen.

Großbritannien hätte dann die Wahl – und sollte sie sich in Form eines neuen Referendums auch nehmen –, ob es den Brexit wirklich noch will. Für die beinharten Brexiteers wird dies kein akzeptabler Vorschlag sein, denn sie wollen nur raus aus der EU, aber für viele andere Bürger – so denn die Hypothese, dass die Zuwanderungspolitik schuld am ersten Brexit-Votum war, stimmt – könnte die Entscheidung diesmal eine andere sein, weil sie heute die Kosten und Nutzen des Brexits besser einschätzen können (wer hätte beim ersten Referendum bspw. an die Nordirland-Frage gedacht?). Natürlich wird es den Briten durch den zu entrichtenden Preis nicht leichtgemacht, aber der Preis läge dieses Mal transparent auf dem Tisch – genauso wie die Gegenleistung der EU in Form der Zusage für ein temporäres Aussetzen der Freizügigkeit.

Für die EU gilt nun: Nicht abwarten, sondern mutig vorangehen! Den Briten sollte im ureigenen europäischen Interesse eine attraktive Brücke auf der Basis neuer, flexiblerer Regeln gebaut werden, die sie dann – in einem zweiten Referendum – nur noch selber überschreiten müssen.

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