Die Zukunft des Sozialstaates (1)
Das Ideal*

„Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“ (Albert Einstein)

Die Welt ist voller Gefahren, gefühlten und tatsächlichen. Das Feuilleton singt täglich ein Lied davon. Die Zeiten scheinen lange vorbei, in denen es überall in Europa ökonomisch nur aufwärts ging. „Wohlstand für Alle“ ist für viele ein fränkischer Slogan aus einer längst versunkenen Welt. Das wirtschaftliche Wachstum dümpelt schon lange vor sich hin. Besserung ist nicht in Sicht. Massenhafte Arbeitslosigkeit ist in Europa weiter unbesiegt. Sie hinterlässt hässliche Narben in vielen Erwerbsbiographien, vor allem in denen der Jugend. Deutschland ist die Ausnahme, zumindest bisher. Auch das Gespenst der Armut geht weiter um. Es spukt in der Phase der Erwerbstätigkeit und in der Zeit des Ruhestandes. Einkommen und Vermögen sind ungleicher verteilt als je zuvor. Sie konzentrieren sich am oberen Ende der Verteilung. Der Einfluss auf die Politik liegt nahe. „Crony capitalism“ ist eine Wachstumsbranche. Die Gefahr wächst, dass die politische Ordnung destabilisiert wird.

Schöpferische Zerstörung

Aus der unbefriedigenden Lage hilft nur mehr wirtschaftliches Wachstum. Dann wächst auch die Chance wieder, dass die Flut alle Schiffe hebt, die großen und die kleinen. Ein wichtiger Treiber des Wohlstandes sind weltweit offene Märkte. Das hat die Globalisierung der letzten Jahrzehnte eindrucksvoll gezeigt. Umsonst ist allerdings wachsender Wohlstand nicht. Offene Märkte beschleunigen den Prozess der „schöpferischen Zerstörung“. Den wirtschaftlichen Akteuren wird einiges an Anpassung abverlangt: „There is no gain without pain“. Die Menschen sind eher bereit, auch hohe Kosten der Veränderung auf sich zu nehmen, wenn sie sicher sein können, im Falle des wirtschaftlichen Scheiterns nicht ins Bodenlose zu fallen. Der Sozialstaat soll helfen, dass dies nicht geschieht. Wie sich die Menschen zur Marktwirtschaft stellen, hängt auch davon ab, was sie dem Sozialstaat zutrauen, sie vor ökonomischen Risiken und Nebenwirkungen zu schützen.

Es ist unbestritten, der Sozialstaat muss sich anpassen. Wichtige evolutionäre Schritte hat die Politik in den 00er Jahren getan. Davon ist allerdings keine Rede mehr. Der Druck durch die Globalisierung wird aber nicht kleiner, er wächst weiter.  Der strukturelle Wandel schürt die Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft. Globalisierung, technischer Fortschritt und Digitalisierung meinen es unterschiedlich gut mit Arbeit und Kapital. Vor allem einfache Arbeit verliert. Einkommen, Beschäftigung und Vermögen werden ungleich verteilt. Das alles verstärkt die sozialen Spannungen. Der traditionelle, primär umlagefinanzierte Sozialstaat stößt an Grenzen. Im Kampf gegen Armut gerät er in die Defensive. Eine wenig effiziente und wenig treffsichere Bürokratie des Sozialstaates tut ein Übriges. Das ist der Humus, auf dem revolutionäre Ideen gedeihen. Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine davon. Es stellt alte Glaubenssätze der Sozialpolitik in Frage.

Sicherheit und Gerechtigkeit

Weltweit offene Märkte eröffnen viele Chancen. Sie bergen aber auch Risiken. Das wirtschaftliche Umfeld wird volatiler, die Struktur der Nachfrage nach Arbeit verschiebt sich regional, sektoral und beruflich. Es wird immer schwerer, steigende Arbeitskosten über die Preise zu überwälzen. Arbeitsplätze sind nicht mehr für die Ewigkeit geschaffen. Mehr individuelle Beweglichkeit ist notwendig. Und noch etwas ändert sich, teils wegen der Globalisierung, teils unabhängig von ihr. Die Wechselfälle des Lebens werden bedeutender. Individuen haben mehr als früher mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Mit steigendem Wohlstand präferieren die Menschen mehr Gesundheitsgüter. Die Menschen leben erheblich länger, Frauen noch länger als Männer. Und sie sind im Alter noch lange gesünder als früher. Allerdings werden mehr von ihnen im hohen Alter pflegebedürftig. Kein Wunder, dass die Nachfrage nach „sozialer Sicherheit“ zunimmt.

Damit aber nicht genug. Weltweit offenere Märkte verteilen die Einkommen anders. Weniger entwickelte Länder holen auf. Das Problem der Armut verringert sich. Die Einkommen konvergieren weltweit. Das ist auf nationaler Ebene nicht so. In reichen Ländern verteilt sich der Wohlstand ungleichmäßiger. Die personelle Verteilung der Einkommen wird schiefer. Vor allem untere Einkommen haben es nach wie vor schwer. Die realen Einkommen wachsen zwar, wegen der Polarisierung der Arbeitsnachfrage sogar stärker als in der Mittelschicht. Dennoch nimmt die relative Armut zu. Die Mittelschicht gerät immer öfter in Schwierigkeiten. Ihre realen Einkommen wuchsen in der letzten Zeit kaum noch. Es droht sozialer Abstieg. Demgegenüber entwickeln sich die oberen Einkommen prächtig. Vor allem sie treiben die Ungleichheit der Einkommen. Diese distributive Entwicklung trägt dazu bei, dass die Nachfrage nach „sozialer Gerechtigkeit“ steigt.

Familie, Markt oder Staat?

Deshalb stellt sich die Frage, wer die Güter „soziale Sicherheit“ und „soziale Gerechtigkeit“ anbieten soll: Die Familie, der Markt oder der Staat? Die ordnungspolitische Regel ist unstrittig: Wer es am besten kann, soll sie produzieren. Die Familie ist bei den großen Risiken längst aus dem Spiel. Mit dem Anstieg der Löhne der Frauen relativ zu den Männern hat sich die Allokation der Zeit und die Haushaltsstruktur von Grund auf verändert. Die Erwerbsquote der Frauen ist signifikant gestiegen, die Zahl der Kinder ist überall rückläufig. In manchen wohlhabenden Ländern mehr, in anderen weniger. Das bestandserhaltende Niveau wird nirgends mehr erreicht. Die Haushaltsgröße ist auf dem Rückzug. Damit ist die Familie zu klein, um einen effizienten Risikoausgleich zu bewerkstelligen. Ein wirksamer Schutz vor den Wechselfällen des Lebens ist schon lange nicht möglich. Das gilt für Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit und Armut.

Es bleiben Markt und Staat. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung hat der Markt den ersten Aufschlag. Der Staat sollte nur dort tätig werden, wo er komparative Vorteile gegenüber dem Markt hat. Das trifft auch für den Bereich des Sozialen zu. Da hat sich einiges geändert. Der Markt produziert „soziale Sicherheit“ zumeist effizienter als der traditionelle Sozialstaat. Das gilt zumindest für die Wechselfälle des Lebens, wie etwa Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Es trifft aber auch für die Absicherung im Alter zu. Es ist zwar richtig, dass „moral hazard“ und „adverse selection“ dem Markt zu schaffen machen. Er hat allerdings Mechanismen entwickelt, sie zu beherrschen. Das gelingt dem Sozialstaat weniger gut. Auch er hat mit dem Problem asymmetrisch verteilter Informationen zu kämpfen. Da er weniger auf Beitragsäquivalenz und Wettbewerb setzt, verzerrt er die Allokation noch mehr und schränkt die individuelle Wahlfreiheit immer weiter ein.

Im Vorteil ist der Sozialstaat allerdings, wenn es darum geht, Individuen gegen die materiellen Folgen des Risikos der Arbeitslosigkeit abzusichern. Arbeitslosigkeit ist für private Märkte ein sperriges Risiko. Das erkennt man auch daran, dass es faktisch keine privaten Arbeitslosenversicherungen gibt. Die Arbeitslosenversicherung braucht einen staatlichen Rahmen. Das Problem ist allerdings  weder „moral hazard“ noch „adverse selection“. Die eigentliche Schwierigkeit tritt auf, weil Arbeitslosigkeit privat nur schwer versicherbar ist. Die individuellen Risiken, arbeitslos zu werden und es zu bleiben, sind hoch korreliert, zumindest bei zyklischer Arbeitslosigkeit. Ein effizienter Risikoausgleich ist auf privaten Versicherungsmärkten kaum möglich. Eine staatlich organisierte Arbeitslosenversicherung ist notwendig. Das gilt für das Kerngeschäft der passiven Arbeitsmarktpolitik, wie etwa das Arbeitslosengeld. Für das operative Geschäft der aktiven Arbeitsmarktpolitik, wie etwa Beratung, Vermittlung und Qualifizierung, trifft es aber nicht zu.

Beim Angebot „sozialer Gerechtigkeit“ ist alles anders. Auf diesem Feld hat der Sozialstaat komparative Vorteile. Was sozial gerecht ist, ist umstritten. Das kann bei Werturteilen auch nicht anders sein. In entwickelten Ländern besteht Konsens, den Kampf gegen Armut aufzunehmen. Es ist unumstritten, ein Existenzminimum zu garantieren. Diesen Kampf können private Märkte allein nicht gewinnen. Staatliche Hilfe ist notwendig. Es ist zwar denkbar, dass reiche Individuen ihren Nutzen steigern, wenn sie sozial Schwächere materiell unterstützen. Ihr eigenes Wohlbefinden kann auch steigen, wenn sich durch diese Hilfe armutsbezogene negative externe Effekte verringern, wie etwa die Kriminalität oder die Ablehnung der marktwirtschaftlichen Ordnung. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass bei marktlichen Lösungen individuelles „Trittbrettfahrerverhalten“ dominiert. Individuelle Anreize reichen meist nicht aus, Armut effizient zu bekämpfen.

Allerdings: Der staatliche Kampf gegen Armut ist alles andere als effizient. Es werden zu viele Ressourcen eingesetzt. Tatsächlich Bedürftige werden oft nicht erreicht. Eine wirkliche Hilfe zur Selbsthilfe wird meist nicht geleistet. Allokative Risiken und Nebenwirkungen sind erheblich. Das ist kein Zufall. Es ist naiv zu glauben, die Politik verteilt von „reich“ zu „arm“ um. Die Realität ist eine andere. Umverteilung ist ein Instrument im Kampf um Wählerstimmen. Die Strategie ist denkbar einfach: Es sollen möglichst viele kleine Gruppen spürbar begünstigt werden. Die finanziellen Lasten sollen möglichst unfühlbar auf die breite Masse der Wähler verteilt werden. Kein Wunder, dass vorwiegend in der weniger bedürftigen, politisch aber ertragreichen Mittelklasse von den nicht ganz Reichen zu den nicht ganz Armen umverteilt wird. Das Ergebnis ist ein Wirrwarr an umverteilungspolitischen Aktivitäten mit teilweise völlig undurchsichtigen Verteilungswirkungen. Letztlich weiß niemand mehr, wer seine Hände in wessen Taschen hat.

Komparative Vorteile des Sozialstaates?

Die komparativen Vorteile des Sozialstaates haben sich verändert. Er ist gegenüber privaten Anbietern von „sozialer Sicherheit“ und „sozialer Gerechtigkeit“ nicht mehr überall wettbewerbsfähig. Im Vorteil ist er allerdings noch immer, wenn es darum geht, die steigende individuelle Nachfrage nach „sozialer Sicherheit“ bei Arbeitslosigkeit und „sozialer Gerechtigkeit“ im Falle materieller Not zu befriedigen. Das Prinzip der Subsidiarität verlangt in diesen Fällen, dass entschieden wird, auf welcher institutionellen Ebene die sozialstaatlichen Aktivitäten anzusiedeln sind. Grundsätzlich sind die Gemeinden die geborenen Träger staatlicher Aktivitäten. Ihnen sind die Probleme vor Ort am ehesten bekannt. Sie kennen die individuellen Präferenzen am besten. Erst wenn ihnen die Aufgabe wegen räumlicher externer Effekte oder steigender Skalenerträge über den Kopf wächst, sollten sich übergeordnete Gebietskörperschaften ihrer annehmen.

Auf welcher Ebene eine staatlich organisierte Arbeitslosenversicherung anzusiedeln ist, ist nicht einfach zu entscheiden. Das Versicherungsgeschäft verbietet dezentrale Lösungen. Ein effizienter Risikoausgleich ist auf dieser Ebene nicht möglich. Zentralere Lösungen sind notwendig. Das operative Geschäft der Beratung, Vermittlung und Qualifizierung ist zu privatisieren und dezentralisieren. Es verlangt nach mehr Wettbewerb von privaten und staatlichen Anbietern. Das spricht dafür, beide Aufgaben voneinander zu trennen. Aber auch in der Grundsicherung müssen die vertikalen Kompetenzen neu geregelt werden. Sie ist nur einigermaßen effizient, wenn es gelingt, dezentralere Wege einzuschlagen. Die Kommunen müssen mehr Verantwortung bei Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen bei der „sozialen Gerechtigkeit“ erhalten.  Eine auf lokaler Ebene organisierte Grundsicherung, die lokale Solidarität mit dezentraler Arbeitsmarktpolitik verbindet, trägt mit dazu bei, die Lage auf den regionalen Arbeitsmärkten zu entspannen.

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* In loser Folge werden Elemente eines Sozialstaates der Zukunft vorgestellt. Die Blog-Beiträge orientieren sich an meinem Aufsatz „Der Sozialstaat der Zukunft. Stillstand, Evolution oder Revolution?“ in: H.J. Thieme und J. Haucap (Hrsg.), Wirtschaftspolitik im Wandel. Ordnungsdefizite und Lösungsansätze. Berlin 2018.

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