Seit 2008 sahen sich die Europäische Union (EU) und insbesondere die Europäische Währungsunion (EWU) immer neuen Krisen gegenüber. Es begann mit der Bankenkrise, die ihren Höhepunkt im Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 fand, und der anschließenden realwirtschaftlichen Krise, die in vielen Ländern zur bis dahin schwersten Rezession nach dem Zweiten Weltkrieg führte. Daran anschließend kam es Anfang 2010 zum Ausbruch der europäischen Staatsschuldenkrise. Griechenland geriet als erstes Land in Bedrängnis und bat am 23. April 2010 die übrigen Mitgliedsländer der EWU sowie den Internationalen Währungsfonds offiziell um finanzielle Hilfe. Im weiteren Verlauf folgten Irland, Portugal, Spanien und Zypern, die ebenfalls Beistandskredite in Anspruch nahmen. Und seit März dieses Jahres steht die Wirtschaft nun nahezu ausschließlich im Zeichen der Corona-Pandemie, deren Ende bisher noch nicht abzusehen ist.
Diese Krisen haben sich in den Mitgliedsländern der EU bzw. der EWU – wenn auch in unterschiedlicher Weise – insbesondere in Form von Wachstumseinbußen und ansteigender Staatsverschuldung niedergeschlagen. Vor dem Hintergrund der Bankenkrise und der nachfolgenden realwirtschaftlichen Rezession hat die EU-Kommission 2010 – im Zusammenhang mit der Strategie „Europa 2020“ – drei mögliche Wachstums-Szenarien für die nachfolgenden 10 Jahre aufgezeigt, die Abbildung 1 veranschaulicht. Dabei unterscheidet sie zwischen drei möglichen Entwicklungspfaden:
Szenario 1: Ein nachhaltiger und zukunftsfähiger Aufschwung, der nicht nur gewährleistet, dass der ursprüngliche Wachstumspfad wieder erreicht wird, sondern auch Potenziale erschließt, um ein höheres Wachstum zu gewährleisten.
Szenario 2: Ein träger Aufschwung, der – ausgehend von einem krisenbedingt niedrigeren Niveau – das ursprüngliche Wachstum wieder erreicht.
Szenario 3: Ein verlorenes Jahrzehnt, bei dem es nicht nur zu (einmaligen) Krisenverlusten kommt, sondern darüber hinaus auch der längerfristige Wachstumspfad sinkt.
Das Ziel der EU war es dabei, mit Hilfe ihrer (jeweils) aktuellen Wachstumspolitik bzw. spezieller Hilfsmaßnahmen die Krisenbewältigung zu unterstützen und ein möglichst hohes Wachstum zu gewährleisten.
Abbildung 1: Drei Wachstums-Szenarien für Europa
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Abbildungen 2 bis 4 zeigen jedoch, dass es von den großen Mitgliedsländern lediglich Deutschland geschafft hat, das Wachstum nach dem krisenbedingten Einbruch 2008/9 deutlich zu steigern und dadurch seit 2016 den ursprünglichen Wachstumspfad zu überschreiten. Man ist also gestärkt aus der Bankenkrise hervorgekommen und hat neue Potenziale erschlossen. Darüber hinaus zeigt Abbildung 2, dass diese Entwicklung im Falle Deutschlands während der Staatsschuldenkrise nicht nachhaltig beeinträchtigt wurde. Durch die aktuelle Corona-Krise wird es aber auch in Deutschland zu einem deutlichen Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) kommen. Geht man einmal von einem Verlust im Jahre 2020 von sechs Prozent (auf Jahresbasis) aus, dann würden dadurch die Wachstumsgewinne seit 2010 fast genau aufgezehrt. Das dann erreichte Niveau liegt jedoch immer noch deutlich höher als vor der Bankenkrise.
Abbildung 2: Entwicklung des realen BIP (Deutschland)
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Demgegenüber haben sowohl Frankreich als auch Italien bestenfalls ihr ursprüngliches Wachstum wieder erreichen können. Allerdings mit erheblichen zusätzlichen Niveaueinbußen während der Staatsschuldenkrise, die in Italien wiederum deutlich höher ausfielen als in Frankreich. Geht man für 2020 von einem Rückgang des realen BIP in Frankreich und Italien von etwa zehn Prozent aus, so würde dies dazu führen, dass Frankreich ungefähr auf das BIP-Niveau vor der Bankenkrise zurückfällt, während Italien sich zunehmend weiter davon entfernt.
Abbildung 3: Entwicklung des realen BIP (Frankreich)
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Abbildung 4: Entwicklung des realen BIP (Italien)
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Aktuelle Prognosen des Internationalen Währungsfonds[2] vom Juni 2020 gehen sogar davon aus, dass das reale BIP Deutschlands im Jahr 2020 um etwa acht und dasjenige von Frankreich und Italien um fast 13 Prozent sinken wird. Dadurch würden die hier aufgezeigten Entwicklungen durch die Corona-Krise nochmals verstärkt. Bewahrheiten sich diese Prognosen, so würde selbst Deutschland etwa auf das BIP-Niveau vor der Bankenkrise zurückfallen, während Frankreich und Italien dieses Niveau deutlich unterschreiten würden. Auch wenn in vielen Fällen (immer noch) von einer schnellen (V-förmigen) Konjunkturentwicklung mit einem deutlichen Aufschwung bereits für 2021 gerechnet wird, bleibt offen, wie sich die längerfristigen Wachstumspfade in den hier betrachteten Ländern entwickeln werden. In dem zurückliegenden Jahrzehnt hat sich dabei gezeigt, das – im Gegensatz zu Deutschland – Frankreich und Italien bestenfalls in der Lage waren, das Szenario 2 aus Abbildung 1, also einen trägen Aufschwung, zu realisieren. Man hat zwar jeweils zum alten Wachstum zurückgefunden, ohne allerdings die Einbußen in den Krisen kompensieren zu können und ohne neue Wachstumspotenziale zu erschließen.
Vor diesem Hintergrund haben die Staats- und Regierungschefs der 27 EU Mitgliedsländer am 21. Juli 2020 als Reaktion auf die Corona-Pandemie und zur Unterstützung der nationalen Hilfsprogramme einen europäischen Aufbauplan beschlossen. Er umfasst ein Volumen von 750 Mrd. Euro, von dem 390 Mrd. Euro als nicht rückzahlbare Zuschüsse und 360 Mrd. Euro als Kredite vergeben werden sollen. Mit seiner Hilfe soll der langfristige Haushalt der EU für die Jahre 2021-2027 in Höhe von 1,074 Billion Euro aufgestockt werden, um die unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Schäden, die durch die Corona-Pandemie entstanden sind, zu beheben‚ „den Aufbau anzukurbeln und eine bessere Zukunft für die nächste Generation vorzubereiten“.[3] Ob dies allerdings – zusammen mit den nationalen Maßnahmen – dazu führt, dass die künftigen Wachstumspfade positiv beeinflusst werden, müssen die nächsten Jahre erweisen. Dabei wird es wohl für viele Länder in erster Linie darum gehen, ob es „nur“ zu einem trägen Aufschwung (Szenario 2 in Abbildung 1) oder – als worst case – zu einem verlorenen Jahrzehnt (Szenario 3 in Abbildung 1) kommt, bei dem nicht nur die Krisenverluste zu verkraften sind, sondern darüber hinaus auch der jeweilige längerfristige Wachstumspfad krisenbedingt sinkt.
Nationale Konjunkturprogramme in der Banken- und in der andauernden Corona-Krise sowie die Staatsschuldenkrise haben – quasi als Kehrseite der Medaille – die Staatsschuldenquoten in den zurückliegenden Jahren immer weiter steigen lassen. Diese Entwicklung veranschaulicht Abbildung 5.
Abbildung 5: Staatsschuldenquoten
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Abgesehen von unterschiedlichen Schuldenniveaus beim Eintritt in die EWU zeigt sich bei allen hier betrachteten Ländern ein erster deutlicher Anstieg der Schuldenstandsquoten in den Jahren 2009 und 2010 als Reaktion auf die Bankenkrise und die anschließende realwirtschaftliche Rezession. Während die Schuldenstandsquote in Deutschland allerdings ab dem Jahr 2013 nachhaltig sank und 2019 den Grenzwert des Stabilitäts- und Wachstumspakts von 60 Prozent gemessen am nominalen BIP wieder erreichte, stieg sie in Frankreich und Italien während der Staatsschuldenkrise stetig weiter an. Die in Abbildung 5 enthaltenen Werte für 2020 und 2021 zeigen Prognosen der EU vom 8. Mai 2020. Selbst zu diesem frühen Zeitpunkt der Corona-Pandemie ging man bereits von einem Anstieg der Schuldenstandsquoten im Jahr 2020 zwischen etwa 15 (Deutschland) und 25 (Italien) Prozentpunkten aus. Vor dem Hintergrund immer weiter sinkender Steuereinnahmen und immer umfangreicherer Hilfsprogramme ist jedoch damit zu rechnen, dass der Anstieg der Schuldenstandsquoten noch deutlich stärker ausfallen wird. Aus den Werten für 2021 erkennt man darüber hinaus eine umgekehrte V-Entwicklung. Der immer noch erhoffte schnelle konjunkturelle Anstieg im nächsten Jahr soll demnach dazu führen, dass die Schuldenstandsquoten auch schnell wieder zu sinken beginnen. Diese Entwicklung steht und fällt jedoch mit den äußerst positiven Wachstumsprognosen. Bleibt der Aufschwung jedoch längere Zeit aus, werden die Schuldenstandsquoten auch 2021 eher noch weiter steigen.
Vor diesem Hintergrund sind möglicherweise auch die Diskussionen über den Anteil von nicht rückzahlbaren Zuschüssen und Krediten am EU Aufbauplan zu sehen, denn Zuschüsse erhöhen – im Gegensatz zu Krediten – die Schuldenstandsquote nicht weiter. Abhängig vom Kreditgeber wird – vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Staatsschuldenkrise – darüber hinaus befürchtet, dass mit Krediten eine mehr oder weniger strenge Konditionalität verbunden sein könnte, die einer autonomen nationalen Wirtschaftspolitik Grenzen setzt. Darüber hinaus war der großzügige Vorschlag von Kanzlerin Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Macron, nicht rückzahlbare Zuschüsse in Höhe von 500 Mrd. Euro im Rahmen eines EU-Aufbauplans bereitzustellen, wohl auch von deutscher Seite nicht ganz uneigennützig. Denn nur ein schneller und deutlicher Aufschwung in den EU-Mitgliedsländern wird der außenhandelsabhängigen deutschen Wirtschaft die notwendige Nachfrage aus dem Ausland garantieren.
Zu einem weiteren Anstieg der Staatsschuldenquoten könnte es ferner dann kommen, wenn in den nächsten Monaten – insbesondere nach dem Auslaufen der insolvenzrechtlichen Sonderregelungen – vermehrt Firmenpleiten und Zahlungsschwierigkeiten im privaten Bereich auftreten sollten. Ähnlich wie in der Staatsschuldenkrise könnte dies zu massiven Forderungsausfällen bei Banken führen, mit der Folge drohender Insolvenzen und einer möglichen systemischen Krise. Würde man dies (erneut) unter Rückgriff auf den Staatshaushalt verhindern, käme es letztlich über diesen „Umweg“ dazu, dass die staatliche Verschuldung weiter stiege.
Die zuvor angestellten Überlegungen haben gezeigt, dass die hier betrachteten Länder unterschiedlich stark von den Krisen seit 2008 getroffen wurden und auch mit unterschiedlichem Erfolg deren wirtschaftliche Folgen überwunden haben. Dabei steht das Ergebnis für die Corona-Pandemie allerdings erst noch aus. Die Krisen haben aber nicht nur das Wirtschaftswachstum und die Staatsverschuldung in starkem Maße beeinflusst, sondern darüber hinaus insbesondere auch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, die sich ebenfalls seit 2008 im Krisenmodus befindet und eine expansive Geldpolitik vorher unbekannten Ausmaßes betreibt. Dies wird wohl auch auf längere Sicht so bleiben, da die zuvor erläuterten krisenbedingten Entwicklungen durch die Folgen der Corona-Pandemie noch einmal deutlich verschärft werden. Längerfristig sind es nämlich insbesondere ein hohes (nominales) Wirtschaftswachstum und niedrige Zinsen, die die Tragfähigkeit der Verschuldung gewährleisten. Beide Faktoren versucht die EZB daher mit ihrer Politik zu beeinflussen. Darüber hinaus werden alle Mitgliedsländer – einschließlich der EU selbst – händeringend nach zusätzlichen Einnahmequellen suchen, um die erneut steigende Verschuldung einzudämmen.
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[1] Europäische Kommisssion (2010): Europe 2020. A strategy for smart, sustainable and inclusive growth. Brüssel, 3.3.2010.
[2] https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2020/06/24/WEOUpdateJune2020
[3] https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/health/coronavirus-response/recovery-plan-europe_de
[4] https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/indicators-statistics/economic-databases/macro-economic-database-ameco/government-finance-and-other-macro-economic-data-eu-countries_en#general-government-data
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