Gastbeitrag
Wann und wie zeigt die expansive Geldpolitik Wirkung?

Nicht unbegründet warnen Berichte und Analysen vor der Inflation in der EWU in den nächsten drei Jahren. Ein Auslöser könnte der aufgebaute Geldüberhang sein.

In jüngster Zeit mehren sich Berichte und Analysen, die vor Inflation in der nahen Zukunft – die Rede ist von den nächsten drei Jahren – in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion(EWU) warnen. Diese Warnung ist zumindest theoretisch nicht unbegründet. Denn das hohe Wachstum der Geldbasis seit dem Ende der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise vor etwa zehn Jahren ist nicht von einem ähnlich hohen Wachstum des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) begleitet worden. Es hat sich ein Geldüberhang aufgebaut, der zum Teil in den hohen Vermögenspreisen zu finden ist. Was passiert, wenn die Eigentümer ihr Vermögen zu Kasse machen wollen, um zu konsumieren?

Aber das ist noch nicht alles. Relativ unbeachtet hat die Europäische Zentralbank (EZB) vor acht Tagen ihr Pandemie-Notfallkaufprogramm aufgestockt. Statt wie bisher geplant 1.350 Milliarden Euro sind es nun 1.85 Billionen Euro, für die die EZB bis März 2022 Staatsanleihen kaufen wird, und zwar zusätzlich zu den bisherigen Käufen. Für alle, die Schwierigkeiten haben, sich diese Zahl vorzustellen: Es sind 1.850.000.000.000 Euro, das ist etwa das halbe deutsche Bruttoinlandsprodukt. In dieser Höhe können sich die Mitgliedsländer der EWU zusätzlich zu den 750 Milliarden Euro verschulden, die mithilfe des als NextGenerationEU titulierten Anleihe-Kaufprogramms der Europäischen Kommission aufgebracht werden.

Während die Anleihen der Europäischen Kommission wenigstens mit anderen Schuldverschreibungen um die Ersparnisse der Bürger konkurrieren müssen, sind die 1,85 Billionen Euro nicht bereits erwirtschaftet. Es handelt sich um frisch gedruckte und neu geschaffene Ansprüche auf das Sozialprodukt, das nicht in gleichem Maße wächst. Wenn die Regierungen das Geld tatsächlich ausgeben, steigt die Nachfrage nach Teilen des europäischen Sozialprodukts und trifft dabei auf ein Angebot, das sich nicht verändert. Das ist eigentlich – nach dem Stand der Geldtheorie bis in die späten 2000er Jahre – ein sicheres Rezept für ein steigendes Preisniveau.

Die EZB erwartet allerdings genauso wenig eine steigende Inflation wie die meisten Beobachter aus der Wissenschaft und der Finanzwelt, zumindest nicht in der kurzen und mittleren Frist. Für diese Prognose spricht auch die Erfahrung mit dem seit Jahren praktizierten Ankaufprogramm für Staatsanleihen der EZB, das zwischen März 2015 und Dezember 2018 knapp 2,6 Billionen umfasste. Die Basisgeldmenge wächst stetig, aber das Preisniveau bleibt nahezu konstant. Darüber macht sich die EZB Sorgen, weil sie die Inflation lieber näher an zwei Prozent sehen würde.

Der Hauptgrund für die konstant geringe Inflation dürfte allerdings darin zu sehen sein, dass das enorme Wachstum der Bilanzsumme der EZB, nämlich kumuliert über 107 Prozent zwischen März 2015 und Dezember 2018, sich nicht in einer gleichermaßen hohen Steigerung der Geldmenge M3, die als das für die Inflation relevante Geldmengenaggregat gilt niederschlug. Denn M3 im Euroraum wuchs im selben Zeitraum kumuliert nur um unter 25 Prozent. Das heißt, die Geldschöpfung des Bankensektors war nicht „ausreichend“, um Inflation zu erzeugen. Darüber kann man froh sein.

Das bedeutet aber nicht, dass es kein potentielles Problem gäbe. Denn die geringe Steigerungsrate von M3 zeigt, dass die Geldpolitik das falsche Problem adressiert hat. Es scheint gerade kein Nachfrageproblem in der Eurozone vorzuliegen, das mit Hilfe umfangreicher staatlicher notenbankfinanzierter Ausgabeprogramme zu lösen wäre. Vielmehr deuten die vergleichsweise geringen Kreditvergaben der Banken darauf hin, dass es ein Angebotsproblem in der Eurozone, oder zumindest in Teilen der Eurozone, gibt. Private Unternehmen fragen nicht genug Geld für Neuinvestitionen nach. Stattdessen fließt das Geld in staatliche Aktivitäten oder in Vermögensbestände. Dafür sprechen die Kurszuwächse auf den Aktienmärkten und steigende Immobilienpreise seit 2015.

Sogar in der Coronakrise stiegen die Aktienkurse und Immobilienpreise weiter. Dies kann kaum mit ökonomischen Entwicklungen der meisten Unternehmen (mit Ausnahme zum Beispiel einiger Logistikunternehmen und der in der Elektromobilität engagierter Unternehmen) erklärt werden. Vielmehr muss auch in hierfür in Blick in die Bilanzsumme der EZB geworfen werden. Sie ist seit Januar 2020 noch einmal um knapp 45 Prozent (dies entspricht 2,1 Billionen Euro) angewachsen. Teile dieses Geldes sind sicherlich auf Konten von Unternehmen und Bürger im Zuge der Corona-Hilfen geflossen. Aber auch die Coronakrise ist keine Nachfragekrise, sondern eine kombinierte Angebots- und Nachfrageschwäche. Nicht alle Hilfen, noch nicht einmal alle ohne Hilfen regulär erzielten Einkommen, konnten ausgegeben werden, weil ja das Angebot von Dienstleistern vielfach untersagt war. Banker klagen bereits, dass Ihnen die lukrative Einkommensquelle Dispositionskredit fehlt, weil viele Bürger die Hilfen und den gesunkenen Dienstleistungskonsum zum Kontoausgleich genutzt haben. Außerdem wurden Vermögenswerte gekauft.

Das alles könnte bedeuten, dass sich ein Inflationspotential aufgebaut hat. Sollten die Bürger nach dem Ende der Coronakrise und der Wiedereröffnung der Dienstleistungsunternehmen in den Bereichen Kultur, Sport, Hotellerie, Tansport und Gastronomie Versäumtes nachholen wollen, sind Preissteigerungen in diesem Sektor nicht auszuschließen – wie nachhaltig sie wären, bleibt offen. Aber es ist nicht auszuschließen, dass ein Teil des zusätzlichen Geldes sich den Weg in die Märkte sucht.

Die Wirkungen auf das Preisniveau wären sogar noch stärker, wenn es in den kommenden Jahren zu einem Kreditboom käme und die Geldmenge M3 deutlich stärker als bis Anfang 2020 wachsen würde. Auch dann drohte ein Inflationsschub. Hinzu kommt ein steigender Kostendruck auf der Angebotsseite. Dieser könnte erstens durch die demographische Entwicklung in der Eurozone, die es den Unternehmen schwerer macht, qualifiziertes Personal zu finden, und zweitens durch die Reorganisation der Lieferketten unter dem unscharfen Stichwort „Strategische Souveränität“ verursacht werden. Steigt die Inflationsrate, fallen die Kurse für Staatsanleihen. Die Stabilität der Finanzmärkte könnte dann auch in anderen Segmenten leiden.

Als Antwort der EZB würde die konventionelle Geldtheorie dann Zinssteigerungen vorschlagen. Praktisch ist dieser Weg der EZB vermutlich versperrt, weil sie sich in den vergangenen Jahren in die Abhängigkeit der Regierungen in der EWU, vor allem deren Finanzminister, begeben hat. Steigen die Zinsen, steigt die Zinslastquote der Staatshaushalte von ohnehin stark verschuldeten Staaten. Der politische Druck auf die EZB wird vermutlich zu stark für eine angemessen Zinserhöhung sein. Was das für die langfristige Preisniveauentwicklung in der EWU heißt, kann nur vermutet werden.

Insgesamt gibt es Anlass zur Unruhe. Die EZB druckt Geld, als gebe es kein morgen, und verschließt die Augen vor den Risiken. Noch kann sie Kritik mit dem Hinweis auf die lang anhaltende Preisniveaustabilität zurückweisen. Sie hat im Moment tatsächlich Oberwasser, weil alle Kritiker, die seit Jahren vor Verwerfungen warnen, offenkundig falsch lagen. Es wäre schön, wenn sie Recht behielte. Nur ist es nicht sehr wahrscheinlich.

Hinweis: Der Beitrag erschien am 18. Dezember 2020 in Wirtschaftswoche Online.

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