Das Eurosystem in der Pandemie
Einstieg in die Zinskurvensteuerung?

Mit Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 hat das Eurosystem seinen geldpolitischen Handlungsrahmen um das „Pandemic Emergency Purchase Programme“ (PEPP) erweitert. Im Rahmen von PEPP erwirbt das Eurosystem dieselben Vermögenswerte, die für das bereits laufende Ankaufprogramm APP zugelassen sind (wobei für griechische Anleihen eine Ausnahmeregelung besteht). Die Ankäufe erfolgen zusätzlich zu und getrennt von den im Rahmen des APP Programms vorgesehenen Wertpapierankäufen.

Wie bei APP richtet sich die Verteilung der Ankäufe von öffentliche Anleihen nach dem Kapitalschlüssel der Nationalen Zentralbanken am Grundkapital der EZB. Allerdings werden die Käufe bei PEPP auf flexible Weise durchgeführt, um Schwankungen in der Verteilung der Kaufströme über die Zeit, über Anlageklassen und zwischen den Rechtsordnungen zu ermöglichen. Insbesondere gelten die für APP festgelegten Obergrenzen zum Ankauf von einzelnen Vermögenstitel bei PEPP nicht.

Diese eingebaute Flexibilität erlaubt es dem Eurosystem, unbegrenzt Anleihen öffentlicher Emittenten, auch aus den Krisenländern anzukaufen und damit Einfluss auf die langfristigen Zinsen zu nehmen. Tatsächlich ist beispielsweise der Zins-Spread italienischer Anleihen gegenüber Bundesanleihen nach Ankündigung von PEPP vorübergehend stark gesunken. Solche Beobachtungen geben Anlass zur Vermutung, dass die EZB mit Start von PEPP eine Kontrolle der Zinsstruktur vornimmt und führen zu der Forderung, das Eurosystem solle künftig diesen Weg weitergehen und eine explizite Politik der Zinskurvensteuerung („yield curve control“) betreiben.

Was bedeutet Yield Curve Control?

Normalerweise kontrollieren Zentralbanken mithilfe ihres herkömmlichen Instrumentariums allein die kurzfristigen Geldmarktzinssätze. Dies ändert sich bei einer Zinsstruktursteuerung, bei der die Zentralbank einen expliziten Zielwert auch für einen langfristigen Zinssatz setzt und ankündigt, dieses Ziel mithilfe von Wertpapierankäufen zu realisieren. Solch eine Politik hatte die US Fed bereits während der 1940er Jahre betrieben; 2016 wurde die Idee von der Bank of Japan (BoJ) aufgegriffen, und sie wird seit Ausbruch der Pandemie im März 2020 von der Reserve Bank of Australia verfolgt. Im Falle Japans hatte die BoJ angekündigt, den Marktzinssatz für Staatsanleihen (JGBs) mit zehnjähriger Laufzeit bei etwa null Prozent zu stabilisieren. Tatsächlich sank die Umlaufrendite für JGBs in kurzer Zeit, obwohl die BoJ ihr Ankaufsvolumen von Staatsanleihen erheblich verlangsamte. Ähnliches zeigte sich im Falle Australiens, wo ein Zielwert für Zinsen auf dreijährige Anleihen von 0,25 Prozent festgelegt wurde (Kliesen, Bokum, 2020).

Auch das Eurosystem verfolgt seit Juli 2013 eine rudimentäre Form der Zinsstrukturkontrolle in Form einer „Forward Guidance“. Damals hatte EZB Präsident Mario Draghi angekündigt, dass die EZB-Leitzinsen für längere Zeit auf dem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau bleiben werden. Intention war, über die kurzfristigen Zinserwartungen der Marktteilnehmer Einfluss auf die mittel- und langfristigen Zinssätze zu nehmen und die Zinsstrukturkurve abzuflachen (Vollmer, 2013). Seit Beginn der Wertpapierankaufprogramme betreibt das Eurosystem zusätzlich eine aktive, aber immer noch implizite Form der Zinsstrukturkontrolle; es erwirbt auch Wertpapiere „am langen Ende“ und beeinflusst damit die Langfristzinsen. Deshalb wäre der Schritt zu einer expliziten Form der Zinsstruktursteuerung nicht mehr groß, bei der sich eine Zentralbank explizit verpflichtet, die Renditen auf einem bestimmten Niveau zu halten und alles unternimmt, um diese Verpflichtung zu erfüllen. Genau diesen Schritt haben die BoJ in 2016 und die Reserve Bank of Australia im März vollzogen, und er wird jetzt auch von der EZB gewünscht.

Substitut für QE

Die Wirkung einer Zinskurvensteuerung hängt davon ab, wodurch die Zinssätze auf den Wertpapiermärkten beeinflusst werden. Hier sind zwei Aspekte mit jeweils zwei Ausprägungen von Bedeutung: Erstens hängen die Zinssätze vom ausstehenden Bestand an Wertpapieren („stock“) oder von den Neuemissionen („flow“) ab, und zweitens werden die Zinssätze von Fundamentaldaten oder von den Erwartungen der Marktteilnehmer beeinflusst. Eine Zinsstruktursteuerung ist am wirksamsten, wenn der ausstehende Bestand an Wertpapieren für die Kursbildung bedeutungslos ist und vor allem die Kurserwartungen der Marktteilnehmer die aktuelle Höhe des Zinsniveaus bestimmen. Für Letzteres gibt es eine gewisse Evidenz (De Santis, Holm-Hadulla, 2017). Dann reicht unter sonst gleichen Bedingungen selbst in Ländern mit hohem Schuldenstand die glaubhafte Ankündigung eines Zielwertes für den Langfristzinssatz aus, um die langfristigen Zinssätze abzusenken, ohne dass ein hohes Volumen an Ankäufen seitens der Zentralbank erforderlich wäre. Zinskurvensteuerung ist also zumindest partiell ein Substitut für quantitative Lockerung (QE), denn sie reduziert den notwendigen Umfang an Wertpapierankäufen.

Einladung zum Schuldenmachen

Allerdings bleiben die sonstigen Bedingungen vermutlich nicht unverändert. Eine Ankündigung der Zentralbank, den Langfristzins – whatever it takes! – nicht über einen Zielwert ansteigen zu lassen, wäre ein Versprechen an die öffentlichen Haushalte, jede Neuverschuldung monetär zu alimentieren. Sie wäre eine Einladung zum Schuldenmachen. Diese abzulehnen, ist selbst in einem eher zentralistisch organisierten Land wie Japan schwierig, obwohl hier eine Koordination zwischen Fiskal- und Geldpolitik auf eine niedrigere Neuverschuldung denkbar ist. Noch unwahrscheinlicher erscheint ein Verzicht in der Europäischen Union, wo die Einladung zum Schuldenmachen von vielen Ländern trotz der bestehenden Haushaltsregeln nur allzu gerne angenommen werden dürfte. Damit birgt eine Politik der Zinsstruktursteuerung die Gefahr, dass die Geldpolitik zum Erfüllungsgehilfen der Fiskalpolitik degeneriert.

Die amerikanischen Erfahrungen aus den 1940er Jahre stützen leider solche Befürchtungen (Kliesen, Bokun, 2020). Dort wurde 1941 eine Obergrenze von 2,5% für den Zinssatz für langfristige Staatsanleihen mit einer Laufzeit von über 25 Jahren festgelegt und die Fed verpflichtet, dieses Zinsziel durch Wertpapierankäufe zu verteidigen. In Konsequenz stiegen Bilanzsumme der Fed und gesamtwirtschaftliches Geldangebot an und die Inflation überschritt Anfang der 1950er Jahre die Marke von 20%, bis die Fed gegen den Widerstand der Fiskalpolitik im „Treasury-Fed Accord“ ein Ende der Zinskontrolle durchsetzen konnte.

Eingriffe in den Zinsmechanismus

Hinzu kommt, dass eine Politik der Zinsstruktursteuerung massiv in den Preismechanismus eingreift. Ist die von der Zentralbank gesetzte Zinsstrukturkurve zu steil, kann es zu Portfolioumschichtungen der Anleger weg von kurzfristigen hin zu langfristigen Anlagen führen, wie im amerikanischen Fall zu beobachten war. Dort musste die Fed am kurzen Ende massiv intervenieren und kurzfristige Anlagen aufkaufen. Solche Portfolioumschichtungen sind im Falle Japans nicht zu erwarten, weil hier die Zinsstrukturkurve eher flach ist. Allerdings bleiben für Japan Zweifel, ob die Zinsstruktursteuerung tatsächlich imstande ist, das gesteckte Ziel zu erreichen und die Inflationsrate anzuheben (Kortelainen, 2020).

Fazit

Damit könnte sich etwas, was zunächst wie eine gute Idee klingt, langfristig als Fluch erweisen. Bislang haben sich Vertreter der EZB eher zurückhaltend gegenüber einer expliziten Zinskurvenkontrolle gezeigt. Es bleibt aber abzuwarten, ob und inwieweit die Idee zukünftig dennoch Eingang in die revidierte Strategie des Eurosystems finden wird.

Literatur

De Santis, R. A.; Holm-Hadulla, F. (2017), Flow Effects of Central Bank Asset Purchases on Euro Area Sovereign Bond Yields: Evidence from a Natural Experiment, ECB WP. No. 2052, Frankfurt/Main.

Kliesen, K. L.; Bokun, K. (2020), What Is Yield Curve Control?, Federeal Reserve Bank of St- Louis, On the Economy Blog, https://www.stlouisfed.org/on-the-economy/2020/august/ what-yield-curve-control.

Kortelainen, M. (2020), Yield Curve Control, BoF Economics Review, No.5/2020, Bank of Finland, Helsinki, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:fi:bof-202005282156.

Vollmer, U. (2013), „Forward Guidance“ durch das Eurosystem, in: Wirtschaftliche Freiheit vom 25. September 2013, http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=13384.

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