Kommunales Wahlrecht, kommunale Ausgaben und privates Engagement
Einige polit-ökonomische Überlegungen am Beispiel cisleithanischer Kleinstädte im späten 19. Jahrhundert

Das durch die Revolution von 1848/49 schwer erschütterte Kaisertum Österreich konnte insbesondere durch russische Hilfe wieder stabilisiert werden und gelangte unter den Regierungen Felix Fürst v. Schwarzenbergs und Alexander Freiherr v. Bachs (Vorsitzender der Ministerkonferenz: Johann Bernhard v. Rechberg und Rothenlöwen) wieder in ruhigeres Fahrwasser.[1] Die Niederlage im Sardinischen Krieg von 1859 erforderte jedoch erneute innenpolitische Zugeständnisse seitens des Kaiserhauses, die Niederschlag in den beiden Verfassungsgesetzen – dem Oktoberdiplom von 1860 und dem Februarpatent von 1861 – fanden und eine stärkere Partizipation der Bevölkerung insbesondere in finanz- und wirtschaftspolitischen Fragen vorsah.

Vor diesem Hintergrund ist der Erlaß von für die jeweiligen Kronländer nahezu gleichlautenden Gemeinde- und Gemeindewahlordnungen (z. B. Gemeinde-Ordnung und Gemeinde-Wahlordnung für das Königreich Dalmatien vom 30. Juli 1864, Gemeinde-Ordnung und Gemeinde-Wahlordnung für die Marktgrafschaft Mähren vom 15. März 1864, Gemeinde-Ordnung und Gemeinde-Wahlordnung für das Königreich Böhmen vom 16. April 1864) zu interpretieren, der im Jahre 1864 erfolgte.

Mit diesen Regelungen wurden die Vertretung der Gemeinden in den Kronländern und deren Aufgaben bestimmt. Als Beispiel für diese Regelung mögen die Gemeinde-Ordnung und Gemeinde-Wahlordnung für das Königreich Böhmen dienen. Hierbei wird in § 6 Gemeinde-Ordnung geregelt, welche Personen zu den Gemeindemitgliedern zu zählen sind. Die Gemeindemitglieder umfassen dabei die Gemeindeangehörigen („Personen, welche in der Gemeinde heimathberechtigt sind“) und Gemeindegenossen. Unter letzterem Begriff sind im wesentlichen Personen zu verstehen, die in der Gemeinde „nicht heimathberechtigt sind“, dort aber Realbesitz haben oder dort einen Gewerbebetrieb unterhalten. „Auch Corporationen, Gewerkschaften und Actiengesellschaften gehören zu den Gemeindegenossen, wenn sie in der Gemeinde einen Realbesitz haben, oder selbst eine Gewerbe- oder Einkommensteuer entrichten“.

Die Gemeinde wird durch einen sog. Gemeindeausschuß vertreten (§ 13 Gemeinde-Ordnung), der in Abhängigkeit von der Anzahl der wahlberechtigten Gemeindemitglieder bis zu 36 Ausschußmitglieder umfassen kann (§ 14 Gemeinde-Ordnung). Der Gemeindeausschuß wählt wiederum den Gemeindevorsteher und die „Gemeinderäthe“ (§ 19 Gemeinde-Ordnung). Dabei erhalten die Ausschußmitglieder keine Entlohnung, allerdings kann die Gemeindevertretung bestimmen, ob und und in welcher Höhe der Gemeindevorsteher eine Vergütung erhält (§ 25 Gemeinde-Ordnung).

Die Ausgaben für die Erfüllung der Gemeindezwecke sind aus „den in die Gemeindecasse einfließenden Einkünften zu bestreiten“ (§ 74 Gemeinde-Ordnung). Sofern diese nicht ausreichen, kann der Gemeindeausschuß Umlagen beschließen, die etwa in einem Aufschlag auf die direkten Steuern oder in Diensten für Gemeindeerfordernisse bestehen (§ 79 Gemeinde-Ordnung).

Die Gemeindewahlordnung sieht nun vor, daß zum Zweck der Wahl des Gemeindeausschusses ein Verzeichnis der wahlberechtigten Gemeidemitglieder anzufertigen ist (§ 13 Gemeinde-Wahlordnung). An der Spitze dieses Verzeichnises sind die Ehrenbürger und Ehrenmitglieder (dabei handelt es sich um verdiente Männer, denen die Ehrenbürgerwürde durch den Gemeindeausschuß verliehen wurde – § 9 Gemeinde-Ordnung) einzureihen. Diese Liste wird mit der Nennung der Gemeindemitglieder komplementiert, die in Abhängigkeit von der von ihnen gezahlten direkten Steuern in absteigender Ordnung gereiht werden. Diese Reihung wird verwendet, um drei Wahlkörper zu bilden (§ 14 Gemeinde-Wahlordnung). Bei der Bildung der Wahlkörper wird so vorgegangen, daß die Gemeindemitglieder in absteigender Reihenfolge in Abhängigkeit von ihren Steuerzahlungen diesen Wahlkörpern zugeordnet werden, so daß sich in jedem Wahlkörper die Gemeindemitglieder zusammenfinden, die jeweils ein Drittel der Gesamtsteuersumme aufgebracht haben. Dieses Verfahren führt bei einer – regelmäßig zu vermutenden – rechtsschiefen Verteilung der Steuerlast (wenige Gemeindemitglieder mit hoher Steuerlast, viele mit geringer Steuerlast) dazu, daß sich im ersten Wahlkörper wenige und im dritten Wahlkörper die meisten Gemeindemitglieder wiederfinden. Gemäß § 17 der Gemeinde-Wahlordnung wird dann die Anzahl der Ausschußpositionen gleichmäßig auf die Wahlkörper verteilt, m. a. W., dürfte in einer Stadt mit über 1000 Einwohnern, bei der der Gemeindeausschuß aus 36 Mitgliedern zu bestehen hätte (§ 14 Gemeinde-Ordnung), jeder Wahlkörper zwölf Ausschußmitglieder wählen.

Der Wahlvorgang selbst weist zudem noch Besonderheiten auf (§ 21 Gemeinde-Wahlordnung): So ist die Wahl nach Wahlkörpern getrennt vorzunehmen, wobei in absteigender Reihenfolge der Wahlkörper gewählt und anschießend das Ergebnis verkündet wird, d.h., zuerst wählt der dritte Wahlkörper, anschießend wird dessen Ergebnis verkündet und dann wählt der zweite Wahlkörper usw. Damit wird sichergestellt, daß durch den dritten Wahlkörper gewählte Personen nicht nochmals durch den zweiten oder ersten Wahlkörper gewählt werden können, zumal jeder Wahlberechtigte „aus allen wählbaren Gemeindemitgliedern ohne Unterschied des Wahlkörpers wählen“ kann.

Bei Konsitution des neuen Gemeindeausschusses (§ 33 Gemeinde-Wahlordnung) werden zunächst aus deren Reihen der Gemeindevorsteher (§ 38 Gemeinde-Wahlordnung) und anschließend die Gemeinderäte (das sind mindestens zwei und maximal ein Drittel der Gemeindeausschußmitglieder; § 15 Gemeinde-Ordnung) getrennt gewählt (§ 39 Gemeinde-Wahlordnung).

Damit wird auf zweifache Weise sichergestellt, daß im Gemeindeausschuß die Gemeindemitglieder in Abhängigkeit von ihrer Steuerzahllast repräsentiert sind.

Eine derartige Wahlordnung erscheint aus heutiger Sicht, in der das One Man-one Vote-Prinzip dominiert, sehr merkwürdig. Sie hat aber sowohl aus polit-ökonomischer als auch aus ökonomischer Sicht interessante Konsequenzen nach sich gezogen.

So läßt sich für die Zeit zwischen 1864 und 1880 folgendes insbesondere in den Kleinstädten der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder feststellen (Judson 2016, 349 f.)[2]: Wie zu erwarten, ist in den Entscheidungsorganen der Kleinstädte das Besitzbürgertum (Industrielle, Kaufleute etc.) im Verhältnis zu dessen personeller Anzahl überrepräsentiert und stellt regelmäßig den Gemeindevorsteher. Dieser fühlt sich vornehmlich der Erhaltung und Mehrung des Gemeindevermögens verpflichtet (so etwa in Beraun oder in Ungarisch-Hradisch; Tošnerová 2000; ?oupek 2000); Schulden werden nach Möglichkeit vermieden. So äußerte sich etwa der Gemeindevorsteher von Aussig Anton Strohschneider wie folgt: „Solange ich Bürgermeister bin, werden keine Schulden gemacht!“ (Judson 2016, 349; Hye, 2000, 43). Die städtischen Investitionen beschränken sich auf den Bereich des für das Wohlergehen der Bürger Unerläßlichen. Hierzu zählen etwa Pflasterung der Straßen im Ortskern, der Bau von Schulgebäuden und die Behebung der gravierendsten sanitären Mißstände. Darüber hinausgehende Investitionen werden aus privaten Mitteln finanziert, wobei neben Privatpersonen insbesondere entsprechende wohltätige Vereine in Erscheinung treten.

Als Beispiel möge hier Mährisch-Schönberg dienen, eine Industriestadt mit etwas mehr als 7000 Einwohnern im Jahre 1869 und etwa 8500 im Jahre 1880, in der neben Textilindustrie (Leinen, Seidenwaren) insbesondere Maschinenbauunternehmen, Unternehmen der Baustoffindustrie (Ziegeleien), 357 Handwerksbetriebe und 141 Kleinhandelsgeschäfte zu finden waren (Stand: 1895; Spurný 2000). In dieser Stadt wurden infrastrukturelle Maßnahmen wie etwa die Errichtung eines Stadtgartens, einer Promenade und eines Krankenhauses durch Privatleute finanziert. Ein ortsansässiger Verein hat zudem die Finanzierung eines Parks, des Friedhofs sowie des Schwimmbads bewerkstelligt. Die Anbindung an die Metropolen Wien und Prag erfolgte mithilfe der Lokalbahn Hohenstadt-Schönberg-Zöptau, die durch eine Aktiengesellschaft, deren Aktionäre vor allem Besitzbürger der Stadt und des Umlandes waren, errichtet wurde (Spurný 2000). Insofern scheint Judsons (2016, 350) Aussage uneingeschränkt zuzutreffen: „Liberal elites, whose own laws had gained for them control over their communes, remade them according to their private understandings of their public responsibilty and the common good.“

Durch Veränderungen des Wahlrechts für den Reichsrat in den 1880er und 1890er Jahren kam weiteren Bevölkerungsschichten Einfluß zu, was dazu führte, daß die städtischen Investitionen ausgeweitet und sich verstärkt an den Anforderungen dieses erweiterten Kreises orientierten. Insgesamt werden die Zuständigkeits- und Aufgabenbereiche der Gemeinden in dieser Phase erheblich ausgeweitet. So werden nicht nur weitere Schulen, Gerichtsgebäude, Spitäler, Obdachlosenheime, Schlachthäuser und Kasernen errichtet, sondern auch Telefonnetze installiert sowie die Straßenbeleuchtung und Straßenbahnen eingerichtet. Daneben wurde den Gemeinden die Verantwortung für die Sozialfürsorge und für kulturelle Einrichtungen sowie für die Entwicklung der Landwirtschaft übertragen. Die Ausweitung der Aufgaben führte dazu, daß die kommunalen Abgaben erhöht und vorhandene Monopole der Kommunen verstärkt ausgenutzt wurden. Diese Phase zeichnet sich durch einen Machtverlust und teilweise Rückzug der großbürgerlichen Eliten aus dem öffentlichen Raum aus.

Damit zeigt sich – wie nicht anders zu erwarten –, daß die politische Partizipation unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen am politischen Entscheidungsprozeß einen erheblichen Einfluß auf das kommunale Leistungsangebot und die kommunale Finanzstruktur hat (zur Struktur des politischen Entscheidungsprozesses siehe Daumann 1999). So waren in der Phase zwischen 1864 und etwa 1880 insbesondere großbürgerliche Eliten bestimmend. Deren Wirken bestand in einem zurückhaltenden Angebot an kommunal produzierten Gütern und Dienstleistungen und in einer soliden Gestaltung des kommunalen Haushalts. Erklärt werden kann dies damit, daß diese Eliten hauptsächlich selbst die Kosten einer Ausweitung des kommunalen Angebots über die Erhöhung des Aufschlags auf die direkten Steuern (§ 79 Gemeinde-Ordnung) getragen hätten. Darüber hinausgehende Aufgaben wurden aus privaten Mittteln getätigt; dies lag zum einen daran, daß diese Eliten selbst maßgeblich durch die Erstellung dieser Leistungen profitiert haben (wie etwa duch die Errichtung der Lokalbahn Hohenstadt-Schönberg-Zöptau) oder daß sie dadurch eine entsprechende Reputation als großzügiger Mäzen aufbauen bzw. ausbauen konnten. Sicherlich haben dabei auch Motive wie selbstloses gesellschaftliches Engagement eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt.

Die Änderung des Wahlrechts in 1880er und 1890er Jahren hat zu einer Ausweitung der kommunalen Produktion von Gütern und Dienstleistungen geführt, da nun die Bedürfnisse weiterer Klientel durch die gewählten kommunalen Entscheidungsträger befriedigt werden mußten. Auf diese Weise ist nicht nur der Einfluß der großbürgerlichen Eliten im jeweiligen Entscheidungsgremium zurückgedrängt worden, sondern auch deren privatwirtschaftliches Engagement für die Kommune hat nachgelassen. Im Prinzip wurden nun kommunale Güter und Leistungen produziert, die größeren Gruppen zugute kamen, aber vornehmlich durch die großbürgerlichen Eliten über deren Steuerbelastung finanziert wurden. Eine Verminderung des privatwirtschaftlichen Engagements dieser Gruppe für die Kommune war daher nur folgerichtig. Insgesamt ist damit eine Umformung der Finanzierung und eine Veränderung der kommunalen Angebotsstruktur durch das Wahlrecht initiiert worden, was vermutlich zudem mit einer Zunahme von Ineffizienzen erkauft wurde.

Literatur

Brusatti, A. (Hrsg.) (1973), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Band I: Die wirtschaftliche Entwicklung, Wien.

?oupek, J. (2000), Ungarisch Hradisch – Bürgertum und Stadtpolitik, in: Urbanitsch, P. & Steckl, H. (Hrsg.), Kleinstadtbürgertum in der Habsburgermonarchie 1862 – 1914, Wien, Köln, Weimar, S. 355 – 381.

Daumann, F. (1999), Interessenverbände im politischen Prozess: Eine Analyse auf Grundlage der Neuen Politischen Ökonomie, Tübingen.

Hye, H. P. (2020), Aussig – Eine Industriestadt am Rande des Reiches, in: Urbanitsch, P. & Steckl, H. (Hrsg.), Kleinstadtbürgertum in der Habsburgermonarchie 1862 – 1914, Wien, Köln, Weimar, S. 25 – 78.

Judson, P. M. (2016), The Habsburg Empire. A New History, Cambridge/MA, London.

Sked, A. (1989), The Decline and Fall of the Habsburg Empire, 1815–1918. London.

Spurný, F. (2000), Mährisch-Schönberg. Eine Domäne der deutschen Industrie, in: Urbanitsch, P. & Steckl, H. (Hrsg.), Kleinstadtbürgertum in der Habsburgermonarchie 1862 – 1914, Wien, Köln, Weimar, S. 307 – 353.

Taylor, A. J. P. (1990), The Habsburg Monarchy. 1809 – 1918, London.

Tošnerová, M. (2000), Berun – Im Sog fortschreitender Modernisierung, in: Urbanitsch, P. & Steckl, H. (Hrsg.), Kleinstadtbürgertum in der Habsburgermonarchie 1862 – 1914, Wien, Köln, Weimar, S. 137 – 170.

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[1] Zu diesen Entwicklungen siehe insbesondere Sked (1989), Taylor (1990) und Judson (2016).

[2] Zu den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen siehe Brusatti (1973).

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