Zum Strategiewechsel des Eurosystems
Viel Lärm um (fast) Nichts?

EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat am 8. Juli 2021 die Eckpfeiler der neuen geldpolitischen Strategie des Eurosystems vorgestellt, auf die sich der EZB-Rat am Abend zuvor einstimmig geeinigt hatte. Dies ist der zweite Strategiewechsel seit Einführung des Euros, nachdem das Eurosystem im Sommer 2003 eher geringfügige Änderungen vorgenommen hatte.

Die geldpolitische Strategie bleibt wie bisher mittelfristig ausgerichtet, d.h. die EZB wird weiterhin nicht auf kurzfristige Störungen reagieren, weil sie wegen variabler Time lags der Geldpolitik die Gefahr sieht, dass getroffene Gegenmaßnahmen prozyklisch wirken und die Inflationsvariabilität erhöhen und nicht verringern.

Die EZB beabsichtigt, ihre konventionellen geldpolitischen Instrumente weiterhin einzusetzen, erkennt aber an, dass die in den letzten Jahren eingeführten unkonventionellen Instrumente („forward guidance“, Wertpapierankaufprogramme; längerfristige Refinanzierungsoperationen) auch in Zukunft bedeutsam sein werden.

Dies sind die wichtigsten Innovationen der neuen geldpolitischen Strategie (Europäische Zentralbank, 2021):

1. Das Eurosystem hat seine Definition von Preisstabilität präzisiert und verfolgt ab jetzt ein Punktziel für die Inflation von (mittelfristig) 2% p.a. – und nicht mehr, wie bisher, eine Zielinflation von „unter, aber nahe bei“ 2% p.a. Dies dient der Klarheit und soll helfen, die Inflationserwartungen fester zu verankern. Das Inflationsziel ist explizit symmetrisch, d.h. Abweichungen nach unten wie nach oben werden gleichförmig bekämpft.

2. Die Inflationsrate soll zunächst weiterhin mithilfe des Harmonisierten Verbraucherpreisindex HVPI erfasst werden, der keine Vermögenspreise enthält. Das Eurosystem strebt aber für die Zukunft an, in Zusammenarbeit mit EuroStat, die laufenden Kosten („consumer costs“) von selbst genutztem Wohneigentum in den Preisindex aufzunehmen; dies betrifft aber nicht die Anschaffungskosten („investment costs of housing“) von selbst genutzten Wohnimmobilien.

3. Das Eurosystem wird künftig die Konsequenzen des Klimawandels bei der Erfüllung des geldpolitischen Mandats berücksichtigen. Dies bedeutet erstens, dass die von der EZB im Rahmen ihrer „Zwei-Säulen-Strategie“ durchgeführte „wirtschaftliche“ und „monetäre Analyse“ stärker als bislang die Auswirkungen des Klimawandels auf die Inflationsentwicklung und auf die Finanzmarktstabilität erfasst. Zweitens wird der EZB-Rat seinen geldpolitischen Handlungsrahmen anpassen und Klimakriterien bei der Offenlegung, der Risikobewertung, den Ankäufen von Vermögenswerten des Unternehmenssektors und im geldpolitischen Sicherheitenrahmen stärker gewichten. Für die Umsetzung dieser Aspekte ist ein Zeitplan festgelegt.

4. Die nächste Überprüfung der geldpolitischen Strategie ist für 2025 vorgesehen.

Wie sind sie zu beurteilen?

Der Übergang zu einem symmetrischen Inflationsziel überrascht nicht, denn der EZB-Rat hatte bereits im Juli 2019 auf seine „Verpflichtung auf die Symmetrie des Inflationsziels“ hingewiesen. Bis dahin hatte die EZB die 2%-Marke eher als Obergrenze interpretiert, sodass die Zielinflationsrate faktisch leicht unter 2%, vermutlich zwischen 1,6 und 1,8 % lag (Paloviita, et aL., 2021). Bereits seit Juli 2019 werden Abweichungen nach beiden Seiten symmetrisch bekämpft, sodass der mittelfristige Inflationstrend – im Vergleich zu den Anfangsjahren des Eurosystems – in Zukunft etwas höher ausfallen wird.

Zusätzlich berücksichtigt die EZB, dass bei niedrigem Nominalzinsniveau – wie derzeit – weitere Leitzinssenkungen bei Erreichen der Nullzinsgrenze kaum möglich sind. Dann müssen unkonventionelle Instrumente eingesetzt werden, um negative Inflationsraten zu verhindern und die Inflationserwartungen nicht zu entkoppeln. Diese können später in der Transmission zu temporären Überschreitungen des Inflationsziels führen, die jedoch toleriert werden sollen. In welchem Ausmaß und wie lange das Eurosystem solche Überschreitungen zulassen will, bleibt derzeit offen. Das Eurosystem beabsichtigt allerdings nicht, zu einer Strategie der Preisniveausteuerung („average inflation targeting“) überzugehen, so wie es derzeit bspw. die US Fed verfolgt, die temporäre Zielunterschreitungen durch temporäre Zielüberschreitungen gezielt auszugleichen versucht, um das Preisniveau auf dem angestrebten Pfad zu halten (Vollmer, 2019).

Weil das Eurosystem anstrebt, allein die „consumer costs“ und nicht die „investment costs“ für selbst genutztes Wohneigentum in den HVPI aufzunehmen, hat sie der Versuchung widerstanden, ein „leaning against the wind“ zu betreiben und geldpolitisch auf Vermögenspreisänderungen zu reagieren. Steigende Immobilienpreise oder eine hohe private Verschuldung gelten als Anzeichen von Finanzmarktinstabilitäten, und derzeit wird heftig diskutiert, ob Zentralbanken darauf mit Leitzinsänderungen reagieren sollen – auch wenn die Inflationsrate ihren Zielwert nicht verfehlt. Die Kritiker dieser Politik führen an, dass die Geldpolitik damit restriktiv wirkt und Finanzmarktinstabilitäten sogar befördert und nicht beseitigt, und verweisen auf entsprechende Erfahrungen der Schwedischen Reichsbank (Svensson, 2013; siehe auch Vollmer, 2017).

Die fundamentale strategische Änderung betrifft die Aufnahme von Nachhaltigkeitskriterien in den geldpolitischen Handlungskatalog, der damit „grüner“ werden soll. Auch in der Vergangenheit hatte das Eurosystem Änderungen an den Kriterien vorgenommen, welche Schuldtitel als ankaufsfähig gelten oder als Sicherheiten akzeptiert werden, ohne dass von einem „Strategiewechsel“ die Rede war. Dies ist diesmal anders und deutet darauf hin, dass klimapolitische Ziele an eigenständiger Bedeutung gewonnen haben, wenngleich die Garantie der Preisstabilität weiterhin das primäre Ziel des Eurosystems bleiben muss. Dennoch wird die EZB mit dem Strategiewechsel potenziell zu einem industriepolitischen Akteur, der Einfluss auf die Finanzierungsmöglichkeiten der privaten Wirtschaft nimmt. Die Frage bleibt weiter offen, ob die EZB dieser Rolle gewachsen ist, und wie sie künftig politischem Druck begegnen will, ihren Handlungsrahmen auch im Dienste anderer Zielsetzungen als dem Klimawandel zu stellen (siehe auch Vollmer, 2020).

Erwähnt sei noch, dass die Europäische Union aus 27 Mitgliedern besteht und die neun Länder außerhalb der Eurozone – mit Ausnahme Dänemarks – die vertragsgemäße Verpflichtung zum Beitritt in die Währungsunion haben. Es scheint, dass der jetzt begonnene Revisionsprozess der geldpolitischen Strategie die Vollendung der Währungsunion erschweren dürfte, weil die Beitrittsländer in die Strategierevision nicht einbezogen waren, ihre Volkswirtschaften energieintensiv sind und ihre Regierungen die klimapolitischen Ziele des Eurosystems nicht mittragen dürften. Dies lässt sich auch nicht mit einem einfachen „so what?“ beiseiteschieben, weil die Beitrittskandidaten zur Währungsunion vor dem Dilemma stehen, eine Zusage gemacht zu haben, die sie kaum mehr erfüllen können. Insofern birgt der jetzige Strategiewechsel des Eurosystems die Gefahr in sich, die europäische Integration ernsthaft zu gefährden.

Die neue Strategie wird bereits den geldpolitischen Beschlüsse von Ende Juli 2021 zugrunde liegen. Präsidentin Lagarde hat angekündigt, dass in Zukunft die „Einleitenden Bemerkungen“ zu den Pressekonferenzen im Anschluss an die Sitzungen des EZB-Rats kürzer ausfallen und weniger technisch formuliert sein werden. Das Eurosystem trifft im Rahmen seiner „Zwei-Säulen-Strategie“ Entscheidungen weiterhin auf Basis seiner „wirtschaftlichen“ und „monetären Analyse“. In Zukunft sollen die Wechselwirkungen zwischen beiden stärker berücksichtig werden, und die monetäre Analyse wird um finanzielle Aspekte und Daten zur Finanzmarktstabilität erweitert, was einen Einstieg in eine Politik des „Leaning against the wind“ andeutet. Genaueres wird sich erst im Zuge der nächsten Zentralbankratssitzungen zeigen.

Literatur

European Central Bank (2021), The ECB’s Monetary Policy Strategy Statement, https://www.ecb.europa.eu/home/search/review/html/ecb.strategyreview_monpol_strategy_statement.en.html

Paloviita, M., Haavio, M., Jalasjoki, P., Kilponen, J. (2021), What Does “Below, but Close to, 2 Percent” Mean? Assessing the ECB’s Reaction Function with Real-Time Data, in: International Journal of Central Banking, Vol. 7(2), S. 125-169.

Svensson, L.E.O. (2013), Leaning Against the Wind Leads to Higher (Not Lower) Household Debt-to GDP Ratio, Working Paper.

Vollmer, U. (2017), Multiple Ziele für die Geldpolitik. Are Two Better Than One?, Wirtschaftliche Freiheit vom 8. März 2017, http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=20539

Vollmer, U, (2019), Die geldpolitische Strategie des Eurosystems. Time to say goodbye?, Wirtschaftliche Freiheit vom 22. April 2019, http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=24970

Vollmer, U. (2020), Klimawandel und Geldpolitik, Wirtschaftliche Freiheit vom 30. September 2020, http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=27944

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