Politik(er)beratung (1)
Realistische Politikberatung

Der Ökonom kann Politiker, Bürokraten oder die Bürger beraten. Versucht er Politiker zu beraten, so stösst er auf Informations- und Anreizprobleme. Der Politiker hat wenig Zeit und versteht viele der Argumente nicht. Zudem hat er zum Teil ganz andere Interessen als die Bürger. So geht es dem Politiker weniger darum, vom Wissenschafter zu lernen, als Autoritätsbeweise vorzeigen zu können. Der Wissenschafter ist für ihn ein Schmuckstück, eine Feder am Hut. Er dient ihm wie der Laternenpfahl dem Betrunkenen: nicht zur Erleuchtung, sondern als Stütze. Da der Politiker solche Schmuckstücke sammelt, sind seine Beratungsgremien für eine wirkungsvolle Arbeit meist viel zu gross und zu heterogen. Sie können sich deshalb nur auf Binsenweisheiten einigen. Den Politiker stört das wenig; denn Binsenweisheiten versteht er, und an Neuem ist er kaum interessiert.

Anders als der Politiker, hat der Bürokrat viel Zeit. Oft versteht er auch die wissenschaftlichen Argumente. Auch er hat indessen andere Interessen als die Bürger. Er strebt nach (Regulierungs-) Macht, Ansehen, Musse, Sicherheit, Beförderung. Der kürzlich verstorbene Nobelpreisträger Milton Friedman hat deshalb seine Versuche, die amerikanische Notenbank zu beraten, im Nachhinein als Zeitverschwendung bezeichnet: „That was time ill-spent.“

Ein besonders interessantes Kapitel sind die Gutachtenaufträge, die von Ministerialbürokratien vergeben werden. In dem Forschungsinstitut, in dem ich lange Zeit gearbeitet habe, waren wir immer wieder erstaunt, was für abseitige Themen uns zur Bearbeitung angetragen wurden. Die Ursache verstand ich erst später. Die Fachbeamten der verschiedenen Ressorts wurden jedes Jahr von ihrer Zentrale aufgefordert, Themenvorschläge für Gutachten zu unterbreiten. Aus der Sicht des einzelnen Beamten bestand das Hauptrisiko darin, dass das von ihm vorgeschlagene Thema in der Literatur bereits ausgiebig bearbeitet worden war. Die abseitigen Themenvorschläge entsprangen also bürokratischer Risikoscheu. Wenn unser Gutachten fertig war, wurde es dem Beamten vorgelegt, der es in Auftrag gegeben hatte. Er musste es kurz für seinen Vorgesetzten zusammenfassen und liess es dann in seiner Schublade verschwinden.

Der Politiker verfügt nicht nur über weniger Zeit und Sachverstand als der Bürokrat. Ein weiterer wichtiger Unterschied ist der, dass er sich von Zeit zu Zeit einer Wiederwahl stellen und insofern auf die Meinung der Bürger achten muss. Für den Berater bedeutet dies, dass er zunächst die Bürger zu überzeugen hat. Erst dann hört ihm der Politiker zu. Bei der Beratung der Bürger treten indes ebenfalls Informations- und Anreizprobleme auf: die meisten Bürger verstehen die Argumente nicht und da die Wahrscheinlichkeit, mit der eigenen Stimme den Ausschlag zu geben, gegen null tendiert, ist der Anreiz im Normalfall äusserst gering, wirtschaftspolitische Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten.

Für den Berater sind die Anreize, die Bürger zu beraten, genauso schwach. Es winken keine gut dotierten Gutachtenaufträge und keine ehrenvollen Ämter. Im Gegenteil, die Politiker wehren sich gegen solche unerbetenen öffentlichen Ratschläge, denn diese könnten ihren Ermessensspielraum einschränken. Interessengruppen leisten ebenfalls Widerstand. Da sie die Hauptgegenspieler des mittleren Wählers sind, haben sie kein Interesse daran, dass ein Experte die Wahlbürger aufklärt. Interessengruppen erreichen ihre Ziele durch Lobbytätigkeit bei Politikern und Bürokraten.

Die Beratung der Bürger ist dennoch nicht ganz aussichtslos. Der Wissenschafter ist aus Sicht der Bürger vertrauenswürdiger als der Politiker, und der Wähler ist vielleicht besser als sein Ruf und klüger als manche Politiker denken. Die Glaubwürdigkeit des Wissenschafters leidet jedoch erheblich, wenn er nicht nur die Bürger, sondern auch Politiker zu beraten versucht. Deshalb steht jeder Wissenschafter vor der Wahl, ob er lieber Politiker oder die Bürger beraten möchte. Beides gleichzeitig kann er sich nicht leisten. Man muss sich entscheiden, ob man die Herrscher oder die Beherrschten unterstützen will.

Man kann den Berater als einen Unternehmer betrachten, der im Wettbewerb der Ideen als Anbieter von Ratschlägen auftritt. Ziel ist ein maximaler Beratungserfolg, also die grösstmögliche Verbesserung der Wirtschaftspolitik, ohne dabei mit den Spielregeln der wirtschaftswissenschaftlichen Wahrheitssuche (dem Gesetz) in Konflikt zu geraten. Erfolgreich kann ein Anbieter nur sein, wenn er sich soweit wie möglich an der Nachfrage orientiert. Folgt daraus, dass seine Ratschläge „realistisch“ sein müssen?

Versteht man unter „realistisch“, dass die Vorschläge von zutreffenden empirischen Annahmen (Kausalhypothesen und Randbedingungen) ausgehen, so wird man diese Frage zweifellos bejahen müssen. Kaum brauchbar dürften zum Beispiel Ratschläge sein, die unterstellen, dass wir im Schlaraffenland leben, oder dass die Menschen meistens altruistisch handeln, oder dass es keine Informations- und Transaktionskosten gibt. Folgt aus dem Ziel des grösstmöglichen Beratungserfolgs, dass der Berater die Wahrscheinlichkeit maximieren sollte, dass seine Vorschläge auch realisiert werden? Wäre dem so, dann müsste der Berater dem Politiker stets das vorschlagen, was dieser ohnehin zu tun gedenkt. Seine Vorschläge würden stets angenommen, aber in Wirklichkeit wäre sein Beratungserfolg gleich null. Es kommt also darauf an, Vorschläge zu machen, deren Realisierungswahrscheinlichkeit weit geringer als 100 Prozent, aber natürlich nicht null ist.

Manchmal geschehen in der Wirtschaftspolitik Dinge, die man nie für möglich gehalten hätte. Oft gehen solche Veränderungen auf Ideen zurück, die irgendwann einmal von einem klugen Ökonomen gedacht und geäussert worden sind. Der unabhängige Wissenschafter besitzt geradezu einen komparativen Vorteil in der Produktion unzeitgemässer, zunächst unpopulärer Wahrheiten. Darin ähnelt er dem Hofnarren früherer Zeiten: er wird nicht ganz ernst genommen, doch er ist – vielleicht gerade deshalb – vor Sanktionen geschützt. Auf längere Sicht hat er die Chance, etwas zu bewegen, aber weder er noch andere können diese Chance zuverlässig einschätzen. Er agiert in einem Markt (dem Beratungsmarkt), in dem die Nachfrage (nach neuen Ideen) oft gar nicht definiert ist. Erst das Angebot schafft sich seine Nachfrage.

Man mag einwenden, dass es sehr wohl einen Zweig der modernen Wirtschaftswissenschaft gibt, der Prognosen der politischen Realisierungswahrscheinlichkeit erlaubt: die Politische Ökonomie. Die Politische Ökonomie ist jedoch besser geeignet, die Vergangenheit zu erklären, als die Zukunft vorherzusagen. Ausserdem ist es nicht sinnvoll, von jedem Wirtschaftswissenschafter zu verlangen, dass er die Politische Ökonomie beherrscht. Dagegen spricht das Prinzip der Arbeitsteilung.

Es bleibt dem Ökonomen daher nicht viel anderes übrig, als zunächst einmal nach der besten Lösung des Problems zu fragen und diese vorzuschlagen – in der Hoffnung, dass sie als Wegweiser dienen kann oder sogar vielleicht irgendwann einmal akzeptiert wird. Er unternimmt – mit Lord Byron – den Versuch, das (zunächst) Unmögliche möglich zu machen. Es steht ihm frei, auch zweit- oder drittbeste Lösungen zu erarbeiten, aber er kann sich nicht mit der Autorität des Wissenschafters für suboptimale Massnahmen einsetzen. Abstriche und Kompromisse können nur die Politiker empfehlen – das ist ihre Spezialität.

Wenn der Wirtschaftswissenschafter zugleich Politischer Ökonom ist, mag er voraussehen, dass sein Lösungsvorschlag im politischen Prozess so sehr verändert, ja pervertiert würde, dass den Bürgern daraus Schaden entstünde. Die Regeln der wissenschaftlichen Wahrheitssuche erlauben ihm nicht, dieses antizipierte Änderungspotential in seinem Vorschlag dadurch zu berücksichtigen, dass er selbst taktisch überzieht. Aber er kann – wie der Entdecker einer neuen furchtbaren Waffe – einfach schweigen, seine Entdeckung für sich behalten.

Gibt es solche wirtschaftswissenschaftlichen Atombomben oder hat es sie gegeben? Die Marxsche Illusion einer funktionierenden Planwirtschaft? Die Keynessche Theorie des deficit spending? Die irrige Vorstellung von Samuelson und Solow, dass man die Arbeitslosigkeit mit Hilfe der Inflation besiegen könne? Wenn sie doch nur geschwiegen hätten!

Dieser Beitrag ist auch in den Schweizer Monatsheften (87. Jg. (2007), Nr. 01/02) erschienen. Wir bedanken uns bei den Schweizer Monatsheften für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

Blog-Beiträge der Serie “Politik(er)beratung”

Achim Wambach: Notizen zur wirtschaftspolitischen Beratung durch die Wissenschaft

Friedrich Schneider: Politikberatung in Österreich im Unterschied zu Deutschland. Einige persönliche Anmerkungen

Gert G. Wagner: Mehr Forschungsbasierung der (Bundes)Politik (?)

6 Antworten auf „Politik(er)beratung (1)
Realistische Politikberatung“

  1. Die Analyse von Vaubel ist schon in der Grundstruktur falsch und unzureichend. So untersucht er die eigenen Interessen der Politiker (z.B. “So geht es dem Politiker weniger darum, vom Wissenschafter zu lernen, als Autoritätsbeweise vorzeigen zu können.“) und Bürokraten (z.B. “Er strebt nach (Regulierungs-) Macht, Ansehen, Musse, Sicherheit, Beförderung.“). Er behandelt also durchaus korrekt das Thema, ob Politiker und Bürokraten die innere Bereitschaft haben, Ratschläge der ökonomischen Politikberater anzunehmen.

    Aber Vaubel macht hier den zweiten und dritten Schritt vor dem ersten. Der erste wäre zu untersuchen, welchen Eigeninteressen ökonomische Berater heute unterliegen. Denn wie jeder Mensch, jede Berufsgruppe haben auch Ökonomen eigene Interessen.

    Wie ist denn die Situation der meisten Ökonomen? Egal, ob sie an einem universitären oder einem nicht-universitären Institut tätig sind, finanzieren sich diese Insitute zu einem immer größeren Anteil über private Drittmittel.

    Diese vergeben aber ihre Gelder (natürlich) lieber an Institute, mit deren Expertisen sie zufrieden sind als mit deren Expertisen sie nicht zufrieden sind. Die Zufriedenheit wird sicherlich auch von der wissenschaftlichen Qualität der Studien beeinflusst, aber mindestens zum Teil auch von der inhaltlichen Aussage. Genauer: der Wissenschaftler, dessen Expertise am besten im Sinne der Auftragsgeber ausfällt, wird bei der erneuten Vergabe von Drittmitteln stärker berücksichtigt werden.

    Wenn ein Wissenschaftler aber erst einmal sich in eine Richtung geäußert hat, kann er für einen anderen Auftragsgeber sich nicht völlig anders positionieren, ohne seine Glaubwürdigkeit zu verlieren.

    Wichtig: ich unterstelle dem Wissenschaftler dabei gar keinen schlechten Charakter sondern einfach, dass er sich unter den Gesetzen von “publish oder perish“ behaupten will. Also schlicht ein berechtigtes Eigeninteresse (wie Vaubel dies Politikern und Bürokraten zu Recht unterstellt).

    Wenn man also will, dass Politiker und Bürokraten die Aussagen von Ökonomen wieder ernster nehmen, muss man zuerst dafür sorgen, dass diese Aussagen auch wieder ernster genommen werden können. Im Zeitalter von privater Drittmittel-Forschung müsste daher erst einmal dafür gesorgt werden, dass wieder mehr staatliche Gelder in ökonomische Institute gelenkt werden.

  2. > Wenn man also will, dass Politiker und Bürokraten die Aussagen von
    > Ökonomen wieder ernster nehmen, muss man zuerst dafür sorgen, dass
    > diese Aussagen auch wieder ernster genommen werden können. Im
    > Zeitalter von privater Drittmittel-Forschung müsste daher erst einmal
    > dafür gesorgt werden, dass wieder mehr staatliche Gelder in
    > ökonomische Institute gelenkt werden.

    Und wieso verbessert die _staatliche_ anstelle einer _privaten_ Finanzierung eines Ökonomen seine „Unabhängigkeit“? Warum glauben Sie haben gerade staatliche Stellen keine irgendwie gearteten Interessen? Hier ist ihre Argumentation inkonsistent, weil sie implizit annehmen, nur staatliche Finanzierer arbeiten interessenfrei, während private Spender immer etwas im Hinterkopf haben.

    In den USA werden z.B. keine Bundesmittel für Stammzellforschung gezahlt, weil die Buschregierung aus religiösen Gründen gegen Embryonenforschung ist. Hinter dieser Entscheidung stecken natürlich die Interessen der religiösen Rechten, mit deren Stimmen Bush u.a. gewählt wurde.

    Die Vorstellung, dass sich automatisch ein Interessenskonflikt aus der Finanzierung einer Forschungsarbeit ergibt, sehe ich so nicht. Zum Zeitpunkt der Mittelvergabe liegen konkrete Forschungsergebnisse ja noch nicht vor und können folglich keinen Einfluss auf die Entscheidung der Mittelvergabe haben. Und vor der Veröffentlichung von Fachartikeln werden diese im Peer-Reviewing-Verfahren von Unabhängigen Fachkollegen geprüft.

  3. „Und wieso verbessert die _staatliche_ anstelle einer _privaten_ Finanzierung eines Ökonomen seine “Unabhängigkeit“?“

    Das habe ich nicht behauptet und das ist natürlich auch nicht der Fall.

    Der Unterschied ist allerdings: die Vergabe (und der Entzug) staatlicher Mittelvergabe unterliegt einer demokratischen Kontrolle. Wie am Beispiel der Wirtschaftsweisen (Wettbewerb der Institute beim Frühjahrs- und Herbstgutachten) deutlich wird, muss die Regierung die Kriterien der Institutsauswahl offenlegen.

    Private Unternehmen und Stiftungen unterliegen dieser demokratischen Rechtfertigung und einem öffentlichen Rechtfertigungsdruck nicht.

    Im Fall höherer staatlicher Finanzierung wird also Willkür und ideologische Mittelvergabe (wie im Bush-Beispiel) zumindest bekannt und kann öffentlich kritisiert (und gegebenfalls korrigiert) werden. Im Fall privater Finanzierung findet hierüber nicht einmal eine Diskussion statt, denn kein privater Finanzierung muss sich rechtfertigen, wenn er seine privaten Mittel willkürlich und ideologisch verteilt.

  4. Die Herren oberhalb:
    „In den USA werden z.B. keine Bundesmittel für Stammzellforschung gezahlt, weil die Buschregierung aus religiösen Gründen gegen Embryonenforschung ist.“
    1.) Wohl noch nicht überm Teich gewesen?
    Wenn Sie in den USA Politik, als Politiker im Amt, religiös begründen, können Sie abdanken.
    2.) Wenn sich hierzulande die Grünen gegen Stammzellenforschung sperren, nennt sich das wohl „Ethik“ (gemeint ist eher der Widerstand gegen alles, was entfernt nach Gentechnik riecht) – Ethik gibt´s bei den Amis nicht, klaro.
    Herr Vaupel:
    Professoren haben manchmal ein Problem, wenn sie sich ans Volk wenden.
    Man versteht sie so schlecht.
    Beispiel: Der gar nicht so üble (gute) Beitrag von Herrn Oberender zur Gesundheitsreform, oberhalb des ihrigen.
    Und sie sollten etwas besser mit der Mentalität der Leute umgehen können.
    Beispiel:
    Die Parole lautet: Eine Steuer-Flatrate bringt allen etwas, alle zahlen weniger Steuern.
    Erwartete Reaktion:
    „Prima, freu´ich mich, ich zahle weniger Steuern, ich hab´mehr Geld in der Tasche, toll!“
    Reale Reaktion (nach leichter Nachhilfe durch die Organe der „vierten Gewalt“):
    „Wie? Mein Nachbar, der etwas mehr verdient als ich, zahlt auch weniger Steuern? Ja das geht aber nicht!“
    Griffige Formulierungen, ein bissel Demagogie usw. schaden da nicht. Ihre Kontraparts, sprich die politische Kaste, arbeitet nahezu ausschließlich mit solchen Methoden.
    Verkaufen sie Ihre Argumente besser!
    Ist zwar eher BWL, aber dennoch…

  5. „Gibt es solche wirtschaftswissenschaftlichen Atombomben oder hat es sie gegeben? Die Marxsche Illusion einer funktionierenden Planwirtschaft? Die Keynessche Theorie des deficit spending? Die irrige Vorstellung von Samuelson und Solow, dass man die Arbeitslosigkeit mit Hilfe der Inflation besiegen könne?“ – Der Versuch von Vaubel, Politik durch volkswirtschaftliche Freilandexperimente zu ersetzen? – „Wenn sie doch nur geschwiegen hätten!“

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