Wohlstand gegen Souveränität. Dieser mutmassliche Tauschhandel steht für die übergeordnete Logik der Schweizer Europapolitik: Eine Integration in den EU-Binnenmarkt soll den Handel fördern, die Wertschöpfung erhöhen und den Wohlstand sichern. Im Gegenzug muss die Schweiz politische Gestaltungsmöglichkeiten an die EU abgeben und sich deren Regeln des Binnenmarkts unterstellen. Sie verliert einen Teil der Souveränität. Die Beschränkung der Souveränität ist der Preis für den wirtschaftlichen Wohlstand.
Die Schweizer Europapolitiker blasen insofern ins selbe Horn wie die Integrationspolitiker der EU, die eine Unterstellung der Schweiz unter Brüsseler Institutionen und ihre Regeln der gemeinsamen Union fordern. Das Beharren auf politischer Souveränität bedeute einen Wohlstandsverzicht, den sich die Eidgenossenschaft nicht leisten könne.
So die Logik, so die Bedenken. Die Schweiz möge daher an Brecht denken: zuerst kommt das Fressen, dann die Moral (bzw. die Souveränität). Was sich zunächst logisch anhört, verliert bei genauerer Betrachtung jedoch an Stringenz.
Warum leben Bürger gerne in einem Land? Menschen, Kultur, Natur würden viele reflexartig antworten. Wohl wahr. Richtig ist aber auch, dass die Institutionen eine wichtige Rolle spielen. Der Staat schafft die Vertrauensgrundlage für eine lebendige Zivilgesellschaft mit prosperierender Wirtschaft. Es geht um Freiheit und Schutz des Individuums; es geht um die Spieregeln des demokratischen Zusammenwirkens; es geht um den Zugang zu den öffentlichen Leistungen der Gemeinschaft.
Die Medaille hat allerdings eine Kehrseite: Ein Staat, der stark genug ist, den Freiheitsbereich des Einzelnen effektiv zu schützen, ist auch stark genug, übergriffig seine Machtbefugnisse auszudehnen. Der Stanford-Ökonom und Politologe Barry Weingast nennt dies das fundamentale politische Dilemma eines Staates zwischen Schutz und Ausbeutung.
Das Geheimnis erfolgreicher Staaten liegt daher in der klugen Balance zwischen Schutz und Ausbeutung. Die Balance gelingt nicht jedem Staat im gleichen Masse – der Schweiz jedenfalls gelingt sie vergleichsweise gut, dank der politischen Institutionen, dank der Partizipation der Bürger, dank des bürgernahen Föderalismus. Und dies hat ihr sichtbaren Wohlstand gebracht.
Heute können die Schweizer selbst über dieses fragile Gleichgewicht bestimmen, es bei Bedarf anpassen und dauernd optimieren. Und dies alles bei hohem Wohlstand. In einer solchen Situation Wohlstand gegen Souveränität eintauschen zu wollen, ist eine riskante Wette. Dass sich gemäss Umfragen die Mehrheit des Schweizer Stimmvolks damit schwer tut, darf nicht überraschen. Sie pflegt eine begründete Skepsis gegenüber einer institutionellen Einbindung in Machtstrukturen, die die eignen Freiheitsgrade einschränken. Viele ahnen: Eine Beschneidung der politischen Souveränität führt auf die lange Frist auch zu Wohlstandsverlusten – eben weil nicht mehr bürgernah, sondern anderswo entschieden wird.
Was aber, wenn sich der Widerspruch auflöst und sich Wohlstand mit Souveränität schaffen liesse – so wie das die wirtschaftliche Entwicklung der Eidgenossenschaft der letzten 30 Jahre nahelegt? Was also, wenn es eine souveränitätsschonende Alternative zur institutionellen Einbindung in die EU gäbe? So dass die Schweizer Bürger die Verfügungsmacht über ihren Staat und die Regeln in ihrem Staatswesen behielten – und sich trotzdem Märkte und Handel öffnen?
Was sich reichlich theoretisch anhört, ist praktisch viel greifbarer, als viele denken. «Marktzugang statt Marktintegration» heisst das Zauberwort. Es geht um eine Modernisierung des grenzüberschreitenden Handels mit Gütern und Dienstleistungen – um eine Novelle des Freihandelsabkommens von 1972. Die Schweiz und die EU haben dies im Grundsatz bereits skizziert, auch wenn dieser Umstand bisher öffentlich kaum zur Kenntnis genommen wurde. Und mit dem kanadisch-europäischen CETA-Abkommen steht die Blaupause bereits zur Verfügung.
Im Zeitablauf ist eine Verschiebung von einer reinen Handelsintegration (Freihandelsabkommen von 1972) zu einer stärker wirtschaftlichen Integration (Bilaterale I) bis hin zu einer auch politischen Integration (Bilaterale II) zu beobachten. Doch die Verhandlungen zum institutionellen Rahmenabkommen sind an Differenzen zu institutionellen Fragen sind gescheitert. Für die Schweiz stellt sich nun die Frage, ob sie die bilateralen Beziehungen zur EU angesichts der gewichtigen gemeinsamen Interessen nicht primär im wirtschaftlichen Bereich vertiefen sollte.
In einer neuen Studie mit meinen Kollegen Dr. Martin Mosler (Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik in Luzern), Prof. Dr. Inga Heiland (Kiel Institut für Weltwirtschaft) und Prof. Dr. Gabriel Felbermayr (Österreichisches Wirtschaftsforschungsinstitut) haben wir die ökonomischen Auswirkungen eines modernisierten Freihandelsabkommens zwischen der Schweiz und der EU berechnet. Und wir haben die Effekte mit den Szenarien einer kompletten Desintegration (nur WTO-regelbasiert) sowie einer kompletten Integration (EU-Beitritt) verglichen.
Das Ergebnis: Bei einer Modernisierung des Freihandelsabkommens von 1972 nach dem Vorbild des kanadisch-europäischen CETA-Abkommens legt die Schweizer Wertschöpfung gegenüber dem Status quo um 1.5 Prozent zu. Die Realeinkommen erhöhen sich um 2.4 Prozent, und es sind keine ökonomischen Verwerfungen zwischen Schweizer Wirtschaftssektoren oder mit Handelspartnern zu erwarten.
Gerade im Vergleich mit den Alternativen einer Desintegration und einer Vollintegration sind die Vorteile frappierend. Im ersten Fall geht die Wertschöpfung um 1,6 Prozent zurück, und die Realeinkommen fallen um 2,6 Prozent. Im zweiten Fall müssten die Spielregeln des gemeinsamen Binnenmarkts vollständig übernommen werden, und es käme zu grossen Verschiebungen unter den Branchen. Zwar resultieren im Integrationsszenario die grössten Handelsgewinne. Aber diese gehen zu Lasten eines nicht quantifizierbaren Souveränitätsverlusts, der im Freihandelsszenario nicht zu Buche schlägt.
Die neue Studie zeigt, dass sich mit einem modernen Freihandelsabkommen als souveränitätsschonender Alternative zur weiteren politischen Integration in die EU bedeutende Wohlstandsgewinne erzielen lassen. Eine solche Vertiefung des Marktzugangs liegt in beidseitigem Interesse: Ein modernes Freihandelsabkommen erhöht den Wohlstand für beide Volkswirtschaften und wurde bereits im Entwurf des institutionellen Rahmenabkommens durch beide Seiten skizziert.
Gibt es also eine Alternative zur Integrationslogik der Schweizer Europapolitik «Wohlstand gegen Souveränität»? Die Antwort darauf ist: Ja, ein modernes Freihandelsabkommen, nach der Logik «Wohlstand mit Souveränität».
Die Bedeutung der über Generationen geformten Spielregeln zur Rechtfertigung der Staatsgewalt und zur Aufrechterhaltung der Bürgermoral und der Wirtschaftsfreiheit in der Schweiz kann kaum überschätzt werden. Eine Erosion dieser oft als kleinbürgerlich belächelten Institutionen bringt uns zwar näher an die europäische Normalität. Dabei beobachten wir jedoch mit Sorge: Die drastischen Verschiebungen der Wählergunst in vielen Nachbarländern zeigen, dass das Pendel zwischen staatlich garantiertem Schutz und fiskalischer und regulatorischer Ausbeutung schnell aus dem Lot geraten kann.
Eine bürgernahe Politik und wirtschaftlicher Erfolg schliessen sich nicht aus, im Gegenteil: sie bedingen einander. Ökonomisch gesprochen: sie sind keine Substitute, sondern Komplementärgüter. Ein modernes Freihandelsabkommen mit der EU sollte daher als echte Alternative zu einem institutionellen Abkommen erwogen werden.
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